Aus dem Leben eines homosexuellen Flüchtlings
So stellte sich Niaze Europa vor. | Alle Zeichnungen von Niaze

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Homosexualität

Aus dem Leben eines homosexuellen Flüchtlings

Wie es ist, aus deiner Heimat fliehen zu müssen, weil du schwul bist – und dein Onkel dir deshalb eine Waffe an den Kopf hält.

Niaze* ist schwul, jung und kommt aus Kurdistan. Homosexualität ist in Kurdistan zwar nicht explizit verboten, die Tötung Homosexueller zur "Wahrung der Ehre" wird aber kaum strafverfolgt. Da [außereheliche sexuelle Aktivitäten verboten und Homoehen nicht erlaubt sind](https://www.outrightinternational.org/sites/default/files/ComingOutDeathSentenceIraq0.pdf
https://www.hrw.org/world-report/2017/country-chapters/iraq), sind LGBTQI-Personen in der Region besonders schutzlos. Genaue Zahlen lassen sich nur schwer ermitteln, da Homosexuelle für den Staat sozusagen unsichtbar sind. Was in seiner Heimat nicht möglich war, lebt Niaze in Graz nun in vollen Zügen aus. Dabei stolpert er immer wieder – auf dem Weg zwischen Schwulenszene zum Asylheim.

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Die Wände hier sind mit einer lila Stofftapete bezogen. Es ist dunkel. Der Name der Bar verrät schon viel. Sie heißt Basement und liegt in einem Keller in der Grazer Wielandgasse. Drinnen starren einige mittelalte Männer, die über ihrem Drink kauern, in Niazes Richtung. Er ist nervös. Mit seinem lachsfarbenen Tank-Top und einer grauen Jogginghose sitzt er auf der Lederbank. Seine schwarzen, gegelten Haare wellen sich nach hinten, die blauen Augen hat er mit viel schwarzem Kajal umrahmt. Mit seinen 24 Jahren senkt er den Altersdurchschnitt der Bar deutlich.

Er klammert sich an seiner Plastiktrainingstasche fest, darin sind Süßigkeiten, frische Unterwäsche, Eyeliner und ein Sprühdeo mit Mango-Maracuja-Duft. "Das nehme ich immer mit. Falls jemand versucht, mich anzugreifen, kann ich ihm das Deo ins Gesicht sprühen."

Niaze wippt zur jazzigen Loungemusik hin und her. Auf einem Fernseher an der Wand gegenüber der Eingangstür blinken immer wieder Sixpacks und stark gebräunte Gesichter auf. Im Basement lernt Niaze oft Männer kennen. Bis jetzt lief das ganz friedlich ab. Bis auf das eine Mal, als eine Gruppe von Irakern nicht von ihm ablassen wollte und sie ihm folgten, bis man sie aus der Bar geschmissen hat. Seitdem kommt er nicht ohne Deo hierher.

Niaze entschuldigt sich – er möchte kurz hinter die Bar schauen. Nach einigen Minuten kehrt er mit gesenktem Kopf an den Tisch zurück. "Es ist noch niemand da. Heute ist wenig los. Ich hasse und liebe diesen Ort." An diesem Abend wird er noch einmal hinter die Bar gehen und nicht mehr so schnell an den Tisch zurückkommen.

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Sein kleines Zimmer, in dem ich ihn zwei Tage später besuche, riecht nach dem Fett, in dem er zuvor Kartoffeln herausgebraten hat. Zu den Kartoffeln, die er extra zubereitet hat, gibt es Tee und Verdünnungssaft. Am Fuß seines Einzelbettes steht ein Regal. In dem Papierstapel darin kramt Niaze herum, bis er ein Foto findet. Er hält inne, denn das Foto erinnert ihn an den Moment, in dem ihm klar wurde, dass er in seiner Heimat keinen Frieden finden würde.

Als er noch ein Kind war, hat seine Großmutter dieses Bild von seiner Schwester und ihm gemacht. Für das Foto durfte Niaze Make-up tragen. "Da war ich etwa 8 Jahre alt. Als ich dieses Bild zum ersten Mal sah, dachte ich mir: 'Wow, ich sehe so schön aus.' Es war so, als hätte ich mich in mich selbst verliebt. Das war das erste Mal, als mir klar wurde, dass ich schwul bin."

Alle Zeichnungen von Niaze

Bis vor etwa zwei Jahren wohnte er noch in Bardarash, einem kleinen Dorf in Kurdistan, Irak. Er lebte dort mit seinen Eltern, Geschwistern, Großeltern und seinem Onkel unter einem Dach. Am meisten erinnert er sich an den ewigen Streit und die Gewalt, die dort Alltag war. Beim Erzählen versteift sein Lächeln und er wirkt ein wenig panisch.

Kurz, nachdem das Foto gemacht wurde, fingen die Nachbarn an, ihn für seinen weiblichen Gang zu beschimpfen. Sein Bruder beobachtete, dass er beim Anblick schöner Frauen nicht reagierte. Die Mutter fand heraus, dass er manchmal ihre Kleider unter seinen eigenen trug. In der Schule wurde Niaze oft zusammengeschlagen. Er wollte nicht mehr auf die Toilette gehen, weil er Angst hatte, dort misshandelt zu werden.

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Die Schüler beschimpften ihn, schlugen ihn, berührten ihn im Intimbereich. "Vor dem Schulhof gab es viele Schlägereien", erzählt er. "Ich erinnere mich an den Tag, als ich in die Mitte der Jungsrunde gezerrt wurde und sie alle auf mich losgingen. Ich konnte mich nicht wehren. Ich bin einfach nicht stark genug. Einige Mädchen versuchten, mich zu verteidigen, aber es brachte nichts."

Um sich abzulenken, zeichnete Niaze oft. Als er an einem Tag von der Schule zurückkam, fand er seine Mutter und Schwester vor dem Kamin, als sie gerade dabei waren, seine Zeichnungen ins Feuer zu schmeißen. Für sie waren die Zeichnungen haram, denn Niaze zeichnete oft, wie er sich Allah vorstellte. Nach der Sharia ist das verboten. Beim Erzählen fängt er an zu weinen. Einige Zeichnungen konnte Niaze behalten, auf einer davon ist ein Haus mit verschneitem Dach vor Bergen und Nadelbäumen zu sehen. Damals wusste Niaze noch nicht, dass er einmal an einem Ort landen würde, der im Winter genauso aussieht.

"Ich bin nicht hier, um mich zu amüsieren. Ich bin hier, weil es sicher ist."

Das Flüchtlingsheim, in dem er mit 90 anderen Menschen lebt, steht inmitten von beschneiten Bäumen – wie das Haus auf seiner Zeichnung. Hier leben Senioren, Jugendliche, Kinder, Frauen und Männer aus Ländern wie Russland, Somalia, Nigeria, Syrien und Afghanistan. Geht man in den ersten Stock, hängen an jeder Tür kleine Plaketten mit mehreren Namen darauf. Außer vor Niazes Tür: Dort steht nur ein Name, denn er muss sich kein Zimmer teilen.

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Er hatte bisher immer wieder Probleme mit Zimmergenossen in anderen Heimen, wurde aufgrund seiner Sexualität angegriffen und ausgelacht. Er fühlt sich dennoch nicht wohl. "Ich will hier weg. Seit meinem ersten Interview sind schon Monate vergangen. Wann bekomme ich endlich meinen Asylbescheid?"

Nach einigen Sekunden fängt er an, auf seinem Handybildschirm zu scrollen. Wenn ihm langweilig ist, fängt er an zu singen. Und wenn ihm wirklich langweilig ist, geht er auf Romeo, eine Dating-App für homosexuelle Männer. Bei jedem Aufblinken seines Handys werden seine Augen größer. Er wirkt wie ein Kind, das gerade etwas Neues entdeckt hat. "Es ärgert mich, dass die Männer auf Apps oder in Gaybars oft verheiratet sind. Hier ist es doch legal, schwul zu sein."

Vor ein paar Tagen lernte er auf Romeo einen älteren Mann namens Thorsten kennen. Er übernachtete zwei Mal bei Niaze. Niaze meint, sie seien verliebt und zeigt stolz Bilder von Thorsten auf seinem Handy her. Er spielt Sprachnachrichten ab, in denen eine tiefe Stimme "Ich liebe deine Augen. Ich liebe deinen Körper. Ich liebe dich", sagt. Niaze nennt Thorsten seinen festen Freund. Er kann nicht aufhören, auf sein Handy zu starren. In der selben Woche stellte sich heraus, dass Thorsten schon einen Freund hatte.

Seitdem trifft er viele andere Männer, ist oft auf Romeo oder in Bars unterwegs. Niaze will öfter tanzen gehen, hat aber nur selten Geld dafür. Sein neues Ziel ist es, einmal vor einem Publikum zu singen. "Ich glaube, dass ich eine schöne Stimme habe. Und ich liebe Musik." Trotzdem sagt er an diesem Tag in seinem Zimmer: "Ich bin nicht hier, um mich zu amüsieren. Ich bin hier, weil es sicher ist. Meine Familie weiß, dass ich in Österreich lebe. Sie dürfen aber nicht wissen, wo genau ich bin." Manchmal hört Niaze mitten im Satz auf zu sprechen, weil er denkt, jemand sei vor der Tür.

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"Ich kann mich an den Moment erinnern, in dem mein Großvater eine Waffe aus der Tasche nahm. Er hielt sie mir an den Kopf und sagte, er würde mich erschießen, wenn ich mich nicht ändere."

"Ich habe manchmal wirklich Angst vor meinem Onkel, meinem Cousin und meinem Großvater. In meiner Familie haben alle eine Waffe. Ich kann mich an den Moment erinnern, in dem ich zuhause war und mein Großvater auf einmal eine Waffe aus der Tasche nahm. Er hielt sie mir an den Kopf und sagte, er würde mich erschießen, wenn ich mich nicht ändere. Wir standen einige Minuten so da. Ich versprach ihm alles, aber er glaubte mir nicht. Ich habe um mein Leben gefleht, bis meine Tante kam und ihn aufhielt."

Niazes Onkel und Cousin haben ihm mehrmals angedroht, ihn umzubringen. Trotzdem versucht er immer noch, Kontakt mit seinen Verwandten herzustellen. Gestern hat er seine Schwester angerufen. Sie wollte nicht mit ihm sprechen. Bisher scheiterten alle Versuche, seine Familie zu erreichen. Er fängt wieder an zu weinen. "Ich vermisse meine Mutter. Ich will sie fragen, warum sie mir das angetan hat."

Niazes Mutter ist der eigentliche Grund, weshalb er hier lebt. Nachdem die Lehrer auf seiner Schule Niaze suspendiert hatten, fing er mit 22 schließlich an, bei Afren, einem Ölkonzern in Bardarash, zu arbeiten und begann ein Verhältnis mit einem Kollegen, der eine Familie hatte.

Nach einiger Zeit fing Niaze an, aufzufallen. Viele von Niazes Familienmitgliedern arbeiteten im selben Gebäude. "Sie fingen an, mich für Dinge zu beschuldigen, die ich nie getan habe. Ich hatte schon überlegt, zu kündigen. Als ich an einem Tag in die Arbeit ging, wurde ich festgenommen. Ich weiß bis heute nicht, aus welchem Grund. Sie haben mich 12 Tage lang eingesperrt. Ich fand heraus, dass meine Mutter die Polizei gerufen hatte. Sobald ich freikam, musste ich weg." Als er seine Mutter das letzte Mal sah, fragte er sie, wieso sie es getan hatte. Sie antwortete nicht.

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Es war das erste Mal, dass Niaze aus Kurdistan ausgereist ist. Eigentlich wollte er nach England. Aber österreichische Polizisten entdeckten den Kleinwagen, in dem er und viele andere transportiert wurden. Das ist inzwischen eineinhalb Jahre her.

Draußen hat es Minusgrade. Niaze trägt sein Bühnenoutfit: Eine Weste, eine schwarze Hosen und dazu Converse. Das Haus teilt sich die Straße mit Frühbars und Puffs. Niaze geht durch eine leere Eingangshalle mit schwarzen Wänden und Treppen nach oben in den Club namens Wakuum.

Heute will er spontan singen. Der Techniker empfängt ihn und macht einen Soundcheck. In einer Stunde würde es losgehen. Bis jetzt sind drei Leute hier. Niaze wirkt angespannt. "Vielleicht sollte ich ein anderes Lied singen. Oder vielleicht sollten wir das ein anderes Mal versuchen. Was, wenn mich die Menschen auslachen? Ich glaube, ich werde beim Singen weinen müssen."

Eine Stunde ist vergangen und er ist doch geblieben. Inzwischen stehen fünf bis sechs Menschen im Raum. Niaze steht mit gesenktem Kopf auf der Bühne, auf ihn strahlt ein roter Scheinwerfer. Das Playback setzt ein. So ganz passt Adeles "Hello" nicht zum restlichen Ambiente der Bar. Seine Stimme zittert. Bis auf ein paar Versprecher geht es anfangs gut – irgendwann passt Niazes Gesang aber nicht mehr zum Tempo des Playbacks.

Nach dem Refrain hört er auf zu singen und versucht sich zu erinnern. Das Playback geht weiter. Der Soundtechniker sieht sich fragend um, die Hintergrundmusik wird schließlich langsam leiser. Danach ist es kurz still. Niaze starrt ins Publikum. Die Zuschauer lächeln aufmunternd und fangen laut an zu klatschen und zu pfeifen. Niaze wirkt zuerst verwundert, lächelt dann aber auch und geht von der Bühne. Vielleicht geht er heute zur Belohnung noch ins Basement. Das Deo hätte er schon mal mit.

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