Wie mich als gläubiger Muslim die Özil-Debatte nervt
Foto: imago | Sven Simon (bearbeitet)

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Fußball-WM 2018

Wie mich als gläubiger Muslim die Özil-Debatte nervt

Es gibt eine Frage, die ich gerade sehr oft höre. Sie basiert auf einem absoluten Missverständnis.

"Bist du bei der WM eigentlich auch für Deutschland?"

Ich finde es interessant, dass mich Leute das derzeit so oft fragen. Ich kann mir zwei Gründe vorstellen, warum ich das immer wieder höre. Zum einen, weil die Fragenden anscheinend eine gesellschaftliche Stimmung wahrnehmen, die einen als nicht-Deutschstämmigen momentan davon abhalten könnte, für das DFB-Team zu sein. Zum anderen, weil die Frage oft darauf hinausläuft, die Debatte um das Foto von İlkay Gündoğan und Mesut Özil mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan könnte etwas an meinem Zugehörigkeitsgefühl geändert haben. Als hätte man eine Wahl, für welches Nationalteam man jubelt.

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Ich bin 24 Jahre alt, gläubiger Muslim mit syrischen Wurzeln, bin in Berlin geboren und habe seit meiner Geburt den deutschen Pass. Natürlich bin ich für Deutschland bei der WM.

Seitdem aber zwei Fußballer, mit denen ich die schwarzen Haare gemeinsam habe, sich nicht korrekt verhalten haben, hat die Frage "Bist du bei der WM eigentlich auch für Deutschland?" ein – sehr deutsch formuliert – Geschmäckle.

Ich bin ein Fan. Aber ich habe Probleme, mich zu jenen Fans zu zählen, die unsere Nationalspieler Mesut Özil und İlkay Gündoğan nun runtermachen. Zu sehen, wie unter den 7.000 aus Deutschland angereisten Fans beim Spiel gegen Mexiko auch solche waren, die Özil auspfiffen. Mitzukriegen, dass auf Fanmeilen Fans beim Mitsingen der Nationalhymne stoppen, um beim Anblick Özils Richtung Leinwand zu pfeifen.

Ich habe 24 Jahre als Deutscher hinter mir. Dabei wurde mir immer wieder auch gezeigt, nicht wirklich dazuzugehören. Sei es der Hinweis meiner Englischlehrerin, für eine Reise in die USA käme ich nicht in Frage, weil es ein Austausch zwischen "Amerikanern und Deutschen" sein solle. Sei es die nie verschwindende Aufforderung, ich solle dankbar sein, in Deutschland leben zu dürfen. Die Erfahrung, nicht wirklich dazuzugehören, zieht sich bei von meiner Einschulung bis zum Abitur und solche Urteile begegnen mir jetzt in der Arbeitswelt, in den Medien, in der Politik – eigentlich überall. Und da spreche ich sicher nicht nur für mich.

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Viele urteilen über Özil und Gündoğan – aber wissen wenig

"Özil fühlt sich nicht wohl im DFB-Trikot", zitierte die Bild auf ihrer Titelseite den Integrationsspezialisten Lothar Matthäus. "Özil hat eine Körpersprache wie ein toter Frosch", lautete eine Überschrift im Kölner Express, "Man kann Özil nicht bringen" eine andere. Die Grenzen zwischen legitimer Kritik an der Leistung eines Spielers und schlecht verschleiertem Rassismus waren in den vergangen Wochen fließend. Ihre gemeinsame Botschaft: "Der Kanake gehört nicht zu uns."

Für Leute wie mich, die damit groß geworden sind, dass ihre Zugehörigkeit zu ihrem Geburtsland infrage gestellt wird, führen solche Zeilen auf jeden Fall nicht dazu, dass wir uns wohler fühlen.

Um eines klarzumachen: Es ist völlig legitim, Özil und Gündoğan für ihr Treffen mit Erdoğan sachlich zu kritisieren, dafür gibt es sicher Gründe. Doch wenn man es tut, sollte man sich vorher informieren, denn vieles offenbart Unkenntnis.

So wurde die Unterschrift Gündoğans auf seinem Trikot an Erdoğan skandalisiert: "Mein Präsident" hat er darauf geschrieben. Direkt übersetzt stand das dort, ja. Wer Türkisch kann, weiß allerdings, dass man eine respektvolle Ansprache dort nun mal so ausdrückt. Lehrer sind nicht bloß Lehrer, sondern "meine Lehrer" oder "unsere Lehrer", solche Formulierungen sind so üblich wie im Deutschen das Siezen im Gespräch mit Fremden. "Mein Präsident" ist kein direkter Ausdruck von Unterstützung, sondern schlichtweg erstmal höflich.

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Ein anderes, beliebtes Argument: Özil und Gündoğan hätten sich gezielt in den Wahlkampf der AKP eingemischt. Die Welt nannte das Treffen eine "Wahlkampfhilfe", die FAZ schrieb von einem "Wahlkampf-Dienst".

Es war eine jährliche Veranstaltung einer türkischen Stiftung in London, bei der Özil, Gündoğan und Erdoğan aufeinandertrafen. Die Stiftung verleiht unter anderem Stipendien. Das Datum des wiederkehrenden abendlichen Termins ist immer im Ramadan. Das Treffen fand am Rande statt, alle drei waren geladene Gäste.

Ob das sensible PR-Arbeit war, kann diskutiert werden. Es sprechen eben auch gute Gründe dafür, dass Fußballer Fotos am Strand von sich posten und seltener Analysen zur Weltpolitik.

Für mich gehört dieses Team zu meiner Identität

Das Ereignis hat nichts daran geändert, wie ich zur deutschen Nationalmannschaft stehe. Ich fühle mich als Teil des Teams. So wie ich zu Deutschland gehöre, gehört Deutschland zu mir. Und jedes Mal, wenn die deutsche Elf auf dem Platz steht, wünsche ich mir, dass sie gewinnt. Bei jeder Torchance ruf ich beinahe unbewusst Allah um Hilfe. Ich bete für Deutschland, es war nie anders. So wie Mesut Özil, der erklärte, dass er vor Beginn des Spiels auf dem Platz, auch während der Nationalhymne für sich und sein Team bete. "Schon als kleiner Junge habe ich vor Spielen auf dem Fußballplatz gebetet", sagte er dem WM-Magazin, "und so halte ich es bis heute." Klar sehe ich Parallelen meiner Biografie bei Spielern wie Mesut Özil, Lukas Podolski, Miroslav Klose oder Gerald Asamoah. Ich habe für sie besondere Sympathien, aber ich war genauso Fan von Per Mertesacker oder Philipp Lahm. So wie ich heute Fan von Julian Draxler, Marvin Plattenhardt oder Jonas Hector bin. Für mich gehört dieses Team zu mir, eine andere Wahl hätte und habe ich nie wirklich in Betracht gezogen.

Am Team ging die Diskussion um Özil und Gündoğan natürlich nicht vorbei. "Ich sehe es so, dass die ganze Debatte um Mesut und İlkay ein gefundenes Fressen war. Wir Spieler haben in Südtirol über das Foto mit Erdoğan gesprochen, für uns war das daher schon zu Turnierbeginn ein alter Hut", sagte Manuel Neuer gegenüber der Sport Bild. Mehrmals betonten Spieler, man solle die Debatte abhaken. Mehrmals erklärten sich Jogi Löw und Manager Oliver Bierhoff solidarisch mit ihren beiden Mittelfeldspielern. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier traf Özil und Gündoğan, sprach mit ihnen und betonte in einer geradezu historischen Erklärung, Heimat gebe es auch im Plural.

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Özil und Gündoğan haben bereits mehrmals betont, dass Deutschland ihre Heimat sei. Als ob das Auflaufen in der deutschen Nationalmannschaft nicht ohnehin das stärkste Argument dafür ist. Viel größer und bedeutender als ein Foto mit einem Präsidenten.

Die deutsche Nationalmannschaft ist ein Abbild Deutschlands 2018

Auch wenn einige Stimmen mit einem ewig gestrigen Deutschlandbild das nicht wahrhaben wollen: Rund jeder Fünfte in Deutschland ist Ausländer oder hat ausländische Wurzeln. Der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer fasst es so zusammen: "Deutsch-Sein heißt eigentlich, übernational, heißt europäisch, heißt weltbürgerlich denken. So ist es nämlich in allen klassischen Definitionen des Deutsch-Seins der Fall gewesen."

Die deutsche Nationalmannschaft ist ein Abbild dieses neuen und, kulturhistorisch betrachtet, alten Deutsch-Seins. Ich jubel mit ihnen. Gegen sie sind eher jene, die die Zugehörigkeit mancher Nationalspieler nicht akzeptieren. Diejenigen, die seit Jahren eine Religion daraus machen, wer die Hymne singt. Und jene, die mich fragen, ob ich überhaupt für die Mannschaft sein könne, nur weil ich anders aussehe als der Durchschnittsdeutsche.

Niemand, der einen deutschen Nationalspieler auspfeift, ist ein echter Fan. Und niemand, der die Zugehörigkeit von Deutschen mit Migrationshintergrund anzweifelt – seien es nun Fußballer oder Menschen aus anderen Teilen unserer Gesellschaft – ist um "Einigkeit, Recht und Freiheit" bemüht.

Ich glaube, das Team steht für jeden, der sich mit dem Team identifizieren kann. Für jeden, der – sei es auch das kleinste – Gefühl der Spannung verspürt, wenn Deutschland auf dem Platz steht. Für jene, die Teile des Teams mit Abscheu oder Fragezeichen betrachten, steht es nicht auf dem Platz. Sie sind es, die überzogen werden müssten mit der Frage, ob sie für überhaupt das Team sind.

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