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Popkultur

5 Fragen, die der Typ aufwirft, der sich mit einem Messer schnitt und die Antifa beschuldigte

"Hey Polizei, ich wurde angegriffen, weil ich wie ein Neonazi aussehe. Ach ja, die Überwachungsbänder müsst ihr nicht checken."
Foto: via Facebook

Wir alle sind mal ungeschickt und verletzen uns. Ich habe ein paar Narben, die das belegen. Die erste befindet sich an meinem (glorreichen, vollen) Haaransatz: Als Dreijähriger spielte ich in einem Schrebergarten und stolperte direkt auf eine zerbrochene Limoflasche. Oder Narbe zwei: Als Zwölfjähriger stand ich im Tor, wir spielten auf Asphalt, und als der Ball schon an mir vorbei ins Tor gezischt war, warf ich mich aus irgendeinem Grund verspätet in die Luft und landete auf meinen Knien. Eins davon schlug ich mir so böse auf, dass meine Hose in Fetzen herabhing, das Blut strömte nur so an meinem Bein hinab.

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Mag sein, dass ich mich dumm angestellt habe. Aber irgendwie gehören Narben zum Leben dazu. Wer sich nie verletzen will, muss sich in einer kindergesicherten Wohnung in Watte packen, durch einen Katheter pissen und geduldig auf den Tod warten. Irgendwann erwischt es jeden, und wenn du keine Narben hast, dann hast du einfach noch nicht gelebt.

Aber dieser Typ hier. Dieser Typ. Er hat jetzt ebenfalls eine Narbe, und vielleicht war sie auch unvermeidbar. Aber an dem riesigen Clusterfuck, der aus seiner Verletzung geworden ist, trägt eindeutig er die Schuld.

Foto via Facebook

So hat er sich laut eigener Aussage die Verletzung zugezogen:

"Anscheinend sehe ich aus wie ein Neonazi und wurde dafür mit einem Messer attackiert … zum Glück habe ich die Hände gehoben, um ihn abzuwehren, und so hat er nur meine Hand erwischt. Ich will nur darauf hinweisen, dass ich nicht einmal mit diesem Mann geredet habe. Ich war buchstäblich einfach nur dabei, aus dem Auto zu steigen."

Screenshot via Buzzfeed

So hat er sich laut Polizei die Verletzung zugezogen (via Buzzfeed ):

Joshua W., 26, sagte der Polizei vor zwei Wochen, er habe in Sheridan, Colorado, vor einem Restaurant der Kette Steak 'n Shake geparkt, woraufhin ein Mann zu ihm gekommen sei und mit einem Messer auf ihn eingestochen habe.

Am 21. August sagte das Sheridan Police Department gegenüber BuzzFeed News, W. habe zugegeben, die Geschichte frei erfunden zu haben. Zuvor hatten Beamte ihn mit Beweisen konfrontiert, die belegten, dass der Angriff nie stattfand.

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Außerdem heißt es bei Buzzfeed:

"Ich stieg gerade aus meinem Auto, um mir einen Milkshake zu holen, und plötzlich hörte ich: 'Du bist doch einer von diesen Neonazis.' Dieser Mann stach über meine Autotür hinweg mit einem Messer nach meinem Kopf", sagte W. anfangs gegenüber BuzzFeed News. "Ich hob aus Reflex meine Hände und warf mich irgendwie zurück ins Auto, während der Verdächtige davonlief."

Ach ja, die klassische Antifa-Messerattacken-Strategie: jemanden fragen, ob er ein Nazi ist, und gleichzeitig auf ihn einstechen. "Ey, Milkshake-Boy, biste 'n Nazi? Dann kann ich doch mal eben anstechen, oder?"

Weiter erfahren wir, dass die Polizei Verdacht schöpfte, weil sich auf Überwachungsvideos keine Spur eines fliehenden Täters fand. Außerdem sprachen die Beamten mit einem Mann, der auf W.s Täterbeschreibung passte. Er sei "ein Obdachloser, der in dieser Gegend lebt, aber der als möglicher Täter ausscheidet".

Und:

"Die Beamten sichteten außerdem Videomaterial von einem nahegelegenen Sportartikelgeschäft, in dem zu sehen war, wie W. Minuten vor dem Angriff ein kleines Messer kaufte."

Sie sichteten Videomaterial. Von einem Sportgeschäft. In dem zu sehen war, wie W. Minuten vor dem Angriff. Ein. Kleines. Messer. Kaufte.

Weiter heißt es:

"Als er mit diesen Informationen konfrontiert wurde, gestand W., er habe sich versehentlich mit dem Messer geschnitten, während er im geparkten Auto vor dem Sportgeschäft saß, und daraufhin die Geschichte mit dem Angriff erfunden.

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Ich habe Fragen.

Ist dies die am schlechtesten durchgeführte Fake-Messerattacke der Geschichte?

Das ist wohl das Beste an dieser Story, die schiere Stümperei der Fake-Stecherei. Wenn ein Kind zum Beispiel so tun müsste, als sei es Opfer einer antifaschistischen Messerattacke geworden, oder vielleicht sogar ein Hund – sie würden es im Schnitt (haha!) um einiges besser hinkriegen. Und das obwohl sie jeweils nur ein unreifes beziehungsweise animalisches Gehirn haben. Es gab Überwachungsaufnahmen, die den Guten zeigen, wie er Minuten vor seiner Messerstecher-Story ein Messer kauft. Minuten! Er ist nicht mal einen Block weiter gefahren, um sich selbst anzustechen.

Ein kleiner Grundkurs im Messerattacken-Faken: Benutze kein Messer, für das du die Quittung noch in der Hosentasche hast. Kaufe das Messer nicht am helllichten, videoüberwachten Tag. Versuche nicht, die Polizei von deiner Fährte abzubringen, indem du den Täter einerseits als "Antifa" und andererseits als "ein irgendwie obdachlos wirkender Typ" beschreibst.

Du weißt doch, wie der Joker bei Batman die ganze Zeit völlig irre Verbrechen durchzieht? Er sprengt Krankenhäuser in die Luft, oder macht diese Sache mit dem Walkie-Talkie und den Bomben. Und alle lieben es. Sie halten sich den Kopf und sagen: "Dieser Typ. Wow. Wie er das immer schafft! Der ist doch ein kriminelles Superhirn!" Unser Homeboy Joshua ist das exakte Gegenteil davon. Eine Art krimineller Tiefflieger. Das stumpfeste Messer in der Verbrecherschublade.

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Was genau war das Motiv?

Wir müsse uns hier zwei Szenarien ansehen. Erstens:

JOSHUA HAT SICH VERSEHENTLICH GESTOCHEN

Er holte das Messer aus der Verpackung. So viel ist klar. Messer kommen immer in diesen hitzeversiegelten Packungen. Sehr schwierig, so eine elegant aufzukriegen. Die Verpackung besteht selbst schon aus messerscharfen Plastikteilen, die schnell mal splittern und dich verletzen, noch bevor du beim Messern angekommen bist. Du kriegst sie gerade so weit auf, dass du die Finger reinbekommst und das Messer greifen kannst, aber zum Rausziehen reicht der Spalt nicht. Joshua W. schnitt sich also an dem Messer, als er es aus der Packung zog. Und weil das allein nicht doof genug ist, gab er der Antifa die Schuld daran.

Zweites Szenario:

JOSHUAS MESSERATTACKE AUF SICH SELBST WAR TEIL EINER AUSGEKLÜGELTEN UND GEPLANTEN LÜGE

Ich habe das schon häufig gesagt, aber ich muss mich wiederholen: Die Wege des männlichen Verstands sind absurd und unergründlich. Oft wird der Verstand auch von einem chaotischen Impuls ergriffen und sprintet gegen die Fahrtrichtung auf die achtspurige Autobahn der Logik. Und das, meine Freunde, ist es, was hier mit Joshua W. geschah. Er hat auf Facebook gelesen, wie linke Weltverbesserer Uni-Campusse ruinieren, weil sie ständig von gegenseitigem Respekt und Toleranz faseln. Und das hat ihm den Verstand geraubt. Oder er hat ein YouTube-Video über Einwanderung gesehen, basierend auf dubiosen Statistiken, und steht mit dem Messer in der Hand im Sportgeschäft, bevor er überhaupt weiß, wie ihm geschieht. Und dann geht es ganz schnell: Fahrersitz des Autos, tief durchatmen, Messer in der Hand versenken, bisschen die Jeans vollbluten, Snapchat, Upload auf Facebook – dann ein wenig Panik, als das ganze viel viraler geht als geplant und die Polizei sich meldet. Selbst mit reichlich Planung kein durchdachter Plan.

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Auf welcher Seite steht er?

Auf diese Frage kann ich bis heute keine Antwort finden. In seinem ursprünglichen (erlogenen) Facebook-Post schreibt Joshua, dass man ihn nur deswegen mit einem Messer angegriffen habe, weil er wegen seiner Frisur anscheinend wie ein Neonazi aussehe. In anderen Worten: Er ist wütend, weil man ihn für einen Neonazi halten könnte und deshalb mit einem Messer auf ihn losgegangen sei. Das bedeutet: Er ist kein Neonazi.

Andererseits besitzt er tatsächlich den typischen Alt-Right-Undercut. Wir befinden uns in einer Sackgasse.

Analysieren wir doch mal dieses Foto: Weste über blauem Hemd, oberster Knopf geöffnet, Krawatte bis zum Bauchnabel gelockert. Das schreit doch förmlich nach "Ich hole mir alle meine Fashion-Tipps bei Reddit", oder? Der Typ beschreibt sich in seinem Tinder-Profil hundertprozentig auch als "elegant". Das Ganze hat eher einen Beigeschmack von "Cousin, der früher Zauberer werden wollte und jetzt einen auf Pick-Up-Artist macht" als einen von "Rassist mit Poloshirt, enger Chinohose und Tiki-Fackel". Meine Einschätzung: kein Neonazi.

Außerdem hat Joshua gegenüber der New York Post gesagt, dass er darüber nachdenke, die Frisur zu ändern, weil seine jetzige zu sehr nach Neonazi aussehe – ähnlich wie bei einem gewissen kleinen Oberlippenbart. Ach ja, laut der örtlichen Polizei gibt es keine Anzeichen, dass Joshua in Verbindung zu irgendeiner rassistischen Organisation steht. Allerdings steht er auch in keiner Verbindung zu irgendeiner Organisation gegen Messer-Missgeschicke. Das Fazit: Es gibt kein Fazit.

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Wie konnte er so lange mit dem Druck der Lüge umgehen?

Eine kleine Anekdote: Damals in der Grundschule war ich noch ein richtiger Musterschüler, der sich bei allen Lehrern einschleimte. Ich hatte nur einmal richtig Ärger am Hals, nachdem ich zusammen mit zwei anderen Jungs den geliebten Rhododendren-Busch des Hausmeisters zerrupft hatte. Hastig wurden alle Schüler zusammengerufen und der Rektor hielt eine lange Rede zum Thema persönliche Verantwortung und starrte anschließend mit strengem Blick in die Runde, um die Missetäter zu überführen.

Nach gut 15 Sekunden gaben meine beiden Komplizen alles zu, wollten aber partout nicht verraten, wer der Dritte im Bunde gewesen war. Die Minuten verstrichen und ich fiel immer mehr in mich zusammen wie eine Sandburg bei immer stärker werdender Flut. Ich fing an, Rotz und Wasser zu heulen. Somit wussten die Lehrer sofort, wer noch zu bestrafen war.

Warum ich das erzähle? Um zu zeigen, dass ich weiß, wie schwer es sich mit der Bürde einer Lüge lebt. Und im Vergleich zu Joshuas Schwindel war meine ja noch Kindergeburtstag. Wie ist es dem Messerschwinger wohl in den vergangenen zwei Wochen ergangen? Jedes Mal, wenn er seine heilende Wunde an der Hand angeschaut hat, muss er gedacht haben: "Hoffentlich fliege ich nicht auf." Jedes Mal, wenn ein Polizist ein Detail seiner erfundenen Geschichte überprüft hat, muss er gedacht haben: "Hoffentlich fliege ich nicht auf." Jedes Mal, wenn sein Facebook-Post geteilt wurde, muss er gedacht haben: "Hoffentlich fliege ich nicht auf." Als er nachts mit weit offenen Augen an die Decke starrte und nicht einschlafen konnte, muss er wie eine Art Mantra immer wieder gedacht haben: "Hoffentlich fliege ich nicht auf." Die Hölle!

In welchem Zeitalter der Nachrichten befinden wir uns nun?

Hängen wir noch bei Fake News fest? Oder sind wir jetzt schon darüber hinaus? Kann man hier gar von … Fake-Fake News sprechen? Schwer zu sagen, oder? Früher dachte ich, dass die Fabel vom Hirtenjungen und dem Wolf nur eine Mahnung sei, nicht zu lügen. Inzwischen ist sie für mich jedoch ein größeres Sinnbild für den Stand von Nachrichten im Jahr 2017. Aber was weiß ich schon. Ich habe mich noch nie selbst mit einem Messer in die Hand gestochen, dadurch nichts erreicht und anschließend der Polizei eine Lüge aufgetischt, um meine eigene Dummheit zu vertuschen. Ich habe mir noch nie irgendwelche blutigen Taktiken überlegt, um die Antifa schlecht dastehen zu lassen. Ich habe keine Ahnung mehr, was überhaupt noch wahr ist und was nicht. Die einzige Ausnahme bildet die Geschichte von dem Typen, der von einem Antifaschisten angegriffen wurde, weil er wie ein Neonazi aussieht. Die ist definitiv nicht wahr.

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