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Popkultur

Warum 'American History X' heute noch relevanter ist als vor 20 Jahren

Neonazis und Rechtsextreme sind auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft. Der ikonische Film aus den 90ern zeigt, wie wir damit umgehen müssen.
In einem Standbild aus 'American History X' wird Edward Norton als Derek Vinyard festgenommen, auf seinem nackten Oberkörper hat er ein großes Hakenkreuz-Tattoo
Edward Norton in seiner Oscar-nominierten Rolle als Neonazi Derek Vinyard in 'American History X' | Standbild mit freundlicher Genehmigung von New Line Cinema

Vor 20 Jahren sah die Welt noch anders aus. Ein Stück heiler, würden viele sagen. Genau vor 20 Jahren erschien auch der Film American History X und lieferte vielen Menschen den ersten Eindruck von Neonazi-Skinheads – der überzeugte Hass, das Blutvergießen, der schwere Ausstieg aus der Szene. Auf Letzteres legten die Macher des Films Wert: Der Weg dorthin mag hart sein, aber Neonazis können die Ideologie des Hasses hinter sich lassen. Den Schaden vielleicht sogar ein Stück weit gutmachen.

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Doch heute gehört der Hass, vor dem American History X sein Publikum warnen sollte, zum politischen Diskurs der USA und anderer westlicher Länder. "Wer den Film in den 90ern sah, konnte sich wohl kaum vorstellen, dass solche Rassisten irgendwann Mainstream sein würden", sagt Heidi Beirich, Leiterin des Intelligence Project bei der Bürgerrechtsorganisation Southern Poverty Law Center. "Damals waren solche Ansichten weit abseits des Mainstreams. Heute kommen sie teils aus dem Weißen Haus."


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American History X folgt dem jungen Neonazi-Skinhead Danny Vinyard (Edward Furlong), als dessen großer Bruder aus dem Gefängnis kommt: Er saß mehrere Jahre wegen Totschlags, weil er einen Schwarzen Mann mit einem sogenannten "Bordstein-Kick" getötet hat – eine berüchtigte Szene, bei der man wegschauen will. Doch im Knast hat Derek seinen rassistischen Hass überwunden, nun will er Danny vor der Szene bewahren. Neben Flashback-Sequenzen bestimmen die Konflikte zwischen den Brüdern und der Naziskin-Szene von Los Angeles den Rest des Films. Verstörend ist dabei, wie stark einige Dialoge an Aussagen des heutigen US-Präsidenten erinnern.

Etwa die Flashback-Szene, in der Derek Vinyard – Edward Norton in einer Oscar-nominierten Performance – seine Neonazi-Kollegen aufwiegelt, bevor sie die Nicht-Weißen Mitarbeiter eines Ladens angreifen: "Unsere Grenzpolitik ist ein Witz! Überrascht es da irgendwen, dass sie uns südlich der Grenze auslachen? Unsere Gesetze auslachen?" Dass Ausländer sich köstlich über die US-Einwanderungsgesetze amüsieren, ist eine fremdenfeindliche Vorstellung, die Präsident Trump seit Jahren bedient. "Illegale Einwanderung ist eins der wichtigsten Probleme der nationalen Sicherheit", twitterte Trump am 30. Juli. "Seit Jahrzehnten spielen wir Spielchen, die ganze Welt lacht über unsere Einwanderungsgesetze."

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Credit: New Line Cinema

Edward Furlong als Danny Vinyard | Standbild mit freundlicher Genehmigung von New Line Cinema

Bei der militanten Rhetorik von Trump und seinen Verbündeten fällt Lachen allerdings schwer. In Bezug auf den Migrations-Treck aus Zentralamerika in die USA twitterte Trump Ende Oktober: "Dies ist eine Invasion unsere Landes, unser Militär wartet auf euch!" Der Präsident unterstrich seine bedrohlichen Aussagen am folgenden Tag, indem er dem Pentagon befahl, 14.000 Truppen an die US-mexikanische Grenze zu schicken. Am selben Tag verkündete er, eigenhändig das Geburtsortprinzip abschaffen zu wollen – der 14. Verfassungszusatz garantiert bisher, dass jede Person, die auf US-Boden geboren wird, automatisch die Staatsbürgerschaft bekommt.

In einer anderen Szene in American History X erinnert sich der jüngere Bruder Danny daran, wie sehr er Derek dafür bewunderte, dass er Schwarze Menschen von öffentlichen Orten vertrieb. Über Venice Beach, das Viertel der Brüder, sagt Danny: "Eine Zeit lang sorgte er dafür, dass es wieder uns gehörte." Die Rückkehr in eine angebliche goldene Ära ist ein Grundpfeiler des Trumpismus und der aktuellen Haltung der Republikaner. Statt "Make America Great Again" könnte Danny skandieren: "Make Venice Beach Ours Again" – es ist das Gleiche in klein.

Zuschauer in den 1990ern verstanden, dass Weiße rassistische Banden wie die Neonaziskins in American History X Inlandsterroristen sind. Zwei Jahre bevor die Dreharbeiten anfingen, im April 1995, verübte Timothy McVeigh mit zwei Komplizen den Bombenanschlag von Oklahoma City. Die Explosion tötete 168 Menschen und verletzte mehr als 500. Bis zu den Anschlägen des 11. September war es der tödlichste Terrorangriff auf amerikanischem Boden. Menschen in den ganzen USA hatten Angst, dass auch in ihrer Stadt, in ihrer Gemeinde Rassisten versuchen könnten, mit Terror einen Weißen Ethnostaat durchzusetzen.

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Mit dem 11. September 2001 änderte sich das. Das kollektive Bild, das die US-Bevölkerung von einem "Terroristen" hatte, verschob sich vom Weißen US-Amerikaner zum Araber aus einem fernen Land. "Wenn die Terroristen aus dem eigenen Land kommen, gibt es viele, die ihnen mildernde Umstände einräumen", sagt Paul Smith, Professor für Kulturwissenschaften an der George Mason University in Virginia. "Die Annahme ist, dass sie nicht so schlimm sein können wie braune Menschen aus anderen Ländern."

American History X

Schuldirektor Sweeney (Avery Brooks, links) und Derek Vinyard (Edward Norton) in 'American History X' | Standbild mit freundlicher Genehmigung von New Line Cinema

Die Brüder aus American History X durchlaufen eine komplexe Entwicklung. Dennoch sehen wir nie, wie sie erfolgreich gegen den Hass vorgehen, den sie selbst mitgeschürt haben. Im letzten Akt des Films überzeugt Derek seinen jüngeren Bruder, die Neonazi-Szene hinter sich zu lassen. Derek selbst hat vor, die Naziskins aufzusuchen, um sie zu beschwichtigen, nachdem eine Schwarze Gang einen Racheangriff verübt hat. Doch zu dieser positiven Auflösung – Ausstieg und Vermittlungsarbeit – kommt es nie: Ein Schwarzer Mitschüler, mit dem Danny am Anfang des Films einen Konflikt hatte, erschießt Danny auf der Schultoilette.

Diese Wendung zementiert die zentrale Botschaft von American History X – Gewalt erzeugt Gegengewalt. Es gibt allerdings einen Unterschied, der die Weißen Rassisten von 2018 gefährlicher macht als die von 1998: Im Film stechen die Neonazis optisch hervor. Sie tragen Springerstiefel, rasieren sich kahl, die Haut ist übersät mit Nazi-Insignien und rassistischen Slogans. Die Weißen Rassisten von heute passen ihren Stil an, verschmelzen mit der Masse.

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"Heute haben wir Leute wie Alt-Right-Anführer Richard Spencer, der in Poloshirt und Khakihose rumläuft", sagt Beirich vom Southern Poverty Law Center. "Das ist eine Branding-Strategie, Weiße Rassisten verschaffen sich so mehr Gehör als jemand in Stiefeln und Nazi-Slogans."

Gavin McInnes* und seine rechtsextreme Männerorganisation The Proud Boys tragen Poloshirts von Fred Perry als eine Art Uniform. Andrew Anglin, Neonazi-Blogger und Gründer der rechtsextremen Website The Daily Stormer, wollte 2016 Schuhe von New Balance zum offiziellen Schuhwerk Weißer Menschen erklären. Die modischen Vorlieben diverser Extremisten wirken auf manche womöglich nebensächlich, doch es handelt sich dabei um Schafspelze der Normalisierung.

American History X

Derek Vinyard (Norton) blickt in den Spiegel, nachdem er das Gefängnis und seinen Rassismus hinter sich gelassen hat | Standbild mit freundlicher Genehmigung von New Line Cinema

Frank Meeink ist Mitgründer der Organisation Life After Hate, die Neonazis beim Ausstieg aus der Szene hilft. "Die Gruppen, die es heute gibt, sind im Grunde wie wir damals in den 90ern, nur anders gekleidet", sagt er. Meeink war in seiner Jugend selbst Naziskin. Während einer dreijährigen Haftstrafe lernte er Schwarze und jüdische Menschen kennen und überwand schließlich seinen Rassismus. Einem verbreiteten Gerücht zufolge basiert American History X auf Meeinks Geschichte. Ob das stimmt, ist dem Ex-Neonazi egal. Für ihn zählt einzig die Botschaft von Life After Hate.

Währenddessen macht Trump White Supremacy, die Vorherrschaft der Weißen, schon jetzt zu einem Teil seines Vermächtnisses und verbreitet aus dem Weißen Haus rassistische Werte. "Ich bin Nationalist!", rief er Ende Oktober auf einer Bühne in Texas. Am selben Tag twitterte er: "Die heutigen Demokraten würden lieber kriminelle Ausländer schützen als AMERIKANISCHE BÜRGER – deshalb müssen die Demokraten AUS DEM AMT gewählt werden!" Auch die Neonazis in American History X sind gegen "Demokraten" – so nennen sie beiläufig alle, die ihre Ansichten nicht teilen, vor allem Frauen.

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Der Einzug nationalistischer und rechtsextremer Ansichten ins Weiße Haus hat US-Rassisten so großen Einfluss verschafft wie noch nie zuvor. In einem Bericht des Southern Poverty Law Center heißt es: "Historisch gewinnen diese Gruppen während demokratischer Präsidentschaften an Einfluss, weil Rechte Waffenkontrolle und polizeiliche Ermittlungen fürchten." Im Laufe republikanischer Präsidentschaften gehe die Beliebtheit rechtsextremer Organisation wieder zurück. "Unter Trump ist das bisher nicht der Fall", heißt es weiter in dem Bericht. "Seine extremen Ansichten leistet diesen Gruppen Vorschub." Eine Studie kam vor Kurzem zu dem Ergebnis, dass fast sechs Prozent der Weißen Menschen in den USA Alt-Right-Ansichten haben – das sind mindestens elf Millionen Personen.

"Im Vergleich dazu gab es kaum Rassisten, als American History X erschien", sagt Tony McAleer, Vorstandsvorsitzender von Life After Hate. Auch McAleer ist ein ehemaliger Weißer Rassist. Er schätzt an American History X vor allem, dass die Figuren im Film fähig sind, sich vom Hass abzuwenden und es stattdessen mit Liebe und Mitgefühl zu versuchen. "Eigentlich ist der Film wie eine Allegorie für ein Aussteigerprogramm", sagt er.

Eine zentrale Filmfigur, die den rassistischen Vinyard-Brüdern Liebe und Mitgefühl beibringt, ist der Schwarze Direktor von Dannys Schule, Bob Sweeney. Er hilft sowohl Derek als auch Danny, zu reflektieren und umzudenken. Organisationen wie Life After Hate sind von Sweeneys Taktik überzeugt: Dialog und Empathie seien die beste Waffen gegen Hass. Das kann problematisch werden, wenn die Gesellschaft von People of Color erwartet, Weiße Rassisten zu erziehen und zu reformieren. In diesem Sinne ist Sweeney eine Figur, die ins Filmklischee des "Magical Negro" passt – eine Schwarze Sidekick-Rolle, die für Weiße Helden Probleme löst oder sie vom Rassismus freispricht.

Neonazis wie Derek Vinyard oder Frank Meeink, die sich von ihrer Vergangenheit gelöst haben, können deshalb eine wichtige Rolle spielen. Sie kennen die Szene von innen und können dieses Wissen einsetzen, um ihre ehemaligen Kameraden aus dem Sumpf des Hasses zu ziehen. "Wenn ich mit Menschen darüber rede, diese Denkweise hinter sich zu lassen, rede ich nicht mal über ihre Ansichten", erklärt Meeink. "Ich rede mit ihnen übers Leben. Wir schauen uns einfach das Leben an und überlegen, ob das wirklich der Punkt ist, an dem diese Person sein will."

Zwanzig Jahre nach der Kinopremiere von American History X können Menschen in den USA und anderswo immer noch davon profitieren, sich den Film anzuschauen. Die Story der Brüder zeigt, dass wir Weiße Rassisten für ihr Verhalten zur Verantwortung ziehen sollten, wie Sweeney es mit Derek tut. Dass wir diese Menschen davon überzeugen können, ihren Hass abzulegen und stattdessen zu lieben, wie Derek es bei Danny macht. Nicht zuletzt führt American History X uns vor Augen, dass wir nicht untätig bleiben können, denn Gewalt ist ein Unkraut, das von allein nicht vergeht.

*Gavin McInnes war ein Mitgründer von VICE Media. Er hat die Firma 2008 verlassen und ist seither in keiner Weise an VICE beteiligt. Die Organisation The Proud Boys gründete er 2016.

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