"Die beste aller Welten": Aufwachsen mit einer heroinsüchtigen Mutter
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Drogen

"Die beste aller Welten": Aufwachsen mit einer heroinsüchtigen Mutter

Mitten im Drogensumpf des Salzburger Stadtrands hatte ich eine wunderschöne, aufregende und erfüllte Kindheit – und das habe ich allein meiner heroinsüchtigen Mutter zu verdanken.

Adrian Goigingers autobiografischer Spielfilm, "Die beste aller Welten", läuft derzeit in den österreichischen Kinos. Der Film ist seiner Mutter und ihrer unglaublichen Leistung gewidmet, ihm trotz ihrer Heroinsucht eine schöne Kindheit zu ermöglichen.

Anlass für den Film sei die bedingungslose Liebe seiner Mutter gewesen, die allen Widrigkeiten trotzte und unzerstörbar war, erklärt der Autor gegenüber VICE. In diesem Text schreibt er über die Beziehung zu seiner drogenabhängigen Mutter und ihren Freunden, Abenteuer und eine wunderschöne Kindheit.

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Die Welt, in der ich als kleines Kind aufgewachsen bin, war in vielerlei Hinsicht besonders: gefährliche Abenteuer am reißenden Fluss, euphorisches Grölen zu Led-Zeppelin-Hits und unberechenbare erwachsene Freunde. Das Zentrum dieser Welt: meine alleinerziehende, heroinabhängige Mutter. Für mich war es die beste aller Welten.

"I kimm glei wieda, Mausi." Ich weiß nicht, wie oft meine Mama, Helga Wachter, diesen Satz zu mir gesagt hat. Vermutlich mehrmals täglich. Nachdem sie diesen Satz gesagt hatte, ist sie mit mehreren Freunden im Schlafzimmer verschwunden und hat den Schlüssel von innen umgedreht.

Minutenlang stand ich als Siebenjähriger vor der verschlossenen Tür und malte mir aus, was wohl dahinter passieren würde. Ein Mysterium, das ich erst einige Jahre später lüften konnte. Lange Zeit dachte ich, die Erwachsenen kämen deswegen so ruhig, entspannt und gut gelaunt heraus, weil sie eine Art Speed-Power-Nap gemacht hatten. Neid kam in mir hoch, weil ich selbst nach acht Stunden Schlaf meistens noch müde war und ich immer Abenteurer werden wollte, Kraft und Energie also sehr wichtig waren.

Adrian Goiginger mit seiner Mutter Helga Wachter

Die Liebe und Zuneigung meiner Mutter war alles überstrahlend. Stundenlang spielte sie mit mir Abenteuer. Ich war Link, sie Zelda und unser Ziel war es, gemeinsam den bösen Dämon Ganondorf zu besiegen. Der trieb sich irgendwo im Salzburger Stadtteil Liefering herum.

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Zuerst mussten wir eine Karte und einen Kompass erkämpfen, erst dann konnten wir den Dämon finden und zerstören. Wenn meiner Mama währenddessen die Kraft ausging, musste sie einen "Zaubertrank" trinken, den sie selbst aus Mohnkapseln hergestellt hatte, dann war sie wieder fit. Diese Abenteuer existieren nicht nur in meiner Erinnerung, meine Mutter hielt sie auch in ihrem Tagebuch fest.

Neben meiner Superheldinnen-Mama gab es noch weitere erwachsene Mitkämpfer: Werner, der seine Kraft aus der Natur und den Bäumen saugte, Bertl, der von den glorreichen Tagen des großen SV Austria Salzburg schwärmte, und der Freund meiner Mama, Günter, der mir mit sechs Jahren Schachspielen beibrachte, was er wiederum im Gefängnis gelernt hatte. Dass sie alle süchtig waren, war mir damals genauso egal wie heute.

"Dei Papa is bei am Autounfoi gstorben bevor du auf die Wöd kemman bist" war wahrscheinlich die einzige direkte Lüge, die meine Mama mir wiederholt aufgetischt hat. Erst Jahre später, als sie und Günter schon clean waren, erfuhr ich, dass mein leiblicher Vater Norbert an einer Überdosis Heroin gestorben war. Nach einer mehrmonatigen Haftstrafe wegen Drogenbesitzes hatte er dieselbe Dosis wie davor genommen, doch durch das "Obakrochn" – den Entzug – im Gefängnis war es diesmal zu viel gewesen.

Daraufhin wollte uns meine schwangere 17-jährige Mutter mit Schlaftabletten umbringen – bis sie in einem hinduistischen Buch las, dass sie dann als niedrigste Kreatur wiedergeboren würde. Damit fiel dieser für sie verführerische Ausweg aus ihrem depressiven Leben weg.

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Meine schwangere 17-jährige Mutter wollte uns mit Schlaftabletten umbringen – bis sie in einem hinduistischen Buch las, dass sie dann als niedrigste Kreatur wiedergeboren würde.

In der Schule war ich frech und schlimm, ziemlich nahe am Problemkind, was in meiner Volksschule zum Glück relativ normal war. Dafür konnte ich im Unterricht öfter mit den Geschichten beeindrucken, die ich von den welterfahrenen Erwachsenen zu Hause gehört hatte. So staunten die Lehrer nicht schlecht, als ich mit sechs Jahren erklärte, dass die Österreichische Flagge entstanden sei, weil sich der Herzog Leopold nach einem Kreuzzug komplett blutüberströmt einen weißen Gürtel umgeschnallt hatte.

Dass ich mir dann nach Schulschluss auf dem Heimweg mit meinen sechsjährigen Mitschülern Zigaretten anzündete, war überhaupt nichts Besonderes für mich. Der Trafikant war so nett, uns nicht nur Zuckerl und Pokémon-Karten zu schenken, sondern stellte auch keine Fragen, als wir "a Packerl Tschick für'n Papa" bestellten und mit gestohlenen Zwanzig Schilling zahlten.

Die 'Kronen Zeitung' berichtet 1999 über einen Vorfall in Adrians Zuhause

In unsere Erdgeschosswohnung in dem großen, grünen Wohnblock in der Bessarabierstraße kam man für gewöhnlich über den Balkon. Nur verdächtige und spießige Leute, zwischen Polizisten und Postboten gab es für mich keinen Unterschied, klingelten an der Tür. Jeder normale Mensch kletterte über den Balkon und klopfte an die Balkontür oder stand direkt im Wohnzimmer.

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So auch "Der Grieche", der ein wichtiger Anhaltspunkt für meine Mutter und meinen Stiefvater war, schließlich brachte er die Medizin vorbei, die sie, wie ich später erfuhr, im Schlafzimmer nehmen mussten. Leider war der Grieche verrückt. Als er mich zwang, einen Wodka-Shot mit ihm zu trinken, zeigte ihm meine Mutter, dass sie nicht nur eine Superheldin war, wenn sie mit mir spielte, sondern auch im echten Leben eine war, und schmiss den Griechen aus der Wohnung.

Aber schließlich hat jeder Mensch eine zweite Chance verdient, also durfte er kurze Zeit darauf wieder in die Wohnung. Dass jeder eine zweite Chance verdient hätte, konnte ich schon als Kind nicht abstreiten.

Die "erwachsenen Freunde" von Adrians Mutter, die der Junge als Hausfreunde kennenlernte

Im Sommer 1999, ich war acht, konnte meine Mutter schließlich nicht mehr. Ihr Freund Günter stand nach 23 Jahren Heroinsucht kurz vor dem Tod und ich verstand die Dinge, die um mich herum passierten, immer mehr. Helga redete sich ein, dass es OK sei, wenn sie Drogen nehme, bis ich alt genug sei zu verstehen, was da eigentlich vor sich gehe. Ob sie wirklich glaubte, dann einfach damit aufhören zu können, weiß ich nicht.

Eines Tages kam Bedda, ein guter Drogenfreund, in die Wohnung. Günter war mit ihm schon mal wegen Schmuggel im Gefängnis gewesen. Doch irgendetwas war anders. Er war nicht müde, benebelt oder nervös. Er strahlte eine Freude und Zufriedenheit aus, die meine Mutter sofort zum Weinen brachte. Bedda redete von Jesus, wie er ihn frei gemacht und geheilt hatte.

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Doch was er sagte, war zu Beginn nur zweitrangig. Allein seine Präsenz in unserer Junkie-Wohnung war, als würde man eine Fackel in einer stockdunklen Höhle anzünden. Günter schmiss ihn aus der Wohnung und zerstörte daraufhin ein paar Möbel. Schließlich wollte er mit der "schwulen Pfaffenpartie" nichts zu tun haben. Doch Bedda kam immer wieder, um davon zu erzählen, wie Gott ihn von der Sucht befreit hatte.

Irgendwann wurde klar, dass er tatsächlich geheilt worden und nicht einfach auf eine andere Droge umgestiegen war. Diese Erkenntnis half meiner Mutter und meinem Stiefvater. Dutzende Entzüge davor waren gescheitert, weil Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter immer beteuert hatten, die Kraft, von den Drogen wegzukommen, müsse aus einem von ihnen kommen. Eine Kraft, die sie beide nicht hatten. Dass es ihr Freund geschafft hatte, und wie er es geschafft hatte, half ihnen dabei, selbst auch von den Drogen wegzukommen.


Auch auf VICE: Heroin-Entzug im Gefängnis.


Mein Stiefvater wurde nach über 20 Jahren Heroinsucht clean und meine Mutter besiegte eine schwere Depression, die sie bereits als Kind mehrmals an den Rand des Suizid geführt hatte. Wo früher Leere, Trauer und Verzweiflung waren, waren plötzlich Erfüllung, Liebe und Geborgenheit. Denn nicht nur die Sucht wurde besiegt, sondern auch Gründe, die dazu geführt hatten. Andere schafften es nicht – viele meiner erwachsenen Abenteurer-Freunde starben an der Sucht.

Am 4. Juli 2012 starb meine Superheldinnen-Mama im Alter von 39 Jahren. An Krebs. Sie hat viele Abenteuer bestritten, Monster und Dämonen besiegt und den Menschen, die ihr nahe standen, gezeigt, wozu Liebe fähig sein kann. Mitten im Drogensumpf des Salzburger Stadtrands hatte ich eine wunderschöne, aufregende und erfüllte Kindheit – und das habe ich allein ihr zu verdanken.

Meinen Kindheitswunsch, Abenteurer zu werden, habe ich nie aufgegeben. Angespornt durch die Worte meiner Mutter, die mir immer versichert hat, dass ich alles werden könne, solange mein Herz daran hänge, bin ich schließlich tatsächlich einer geworden.

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