Wir waren im Berner Oberland an einem Alpabzug und fühlten uns fremd im eigenen Land
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Wir waren im Berner Oberland an einem Alpabzug und fühlten uns fremd im eigenen Land

Der Alpabzug ist der absolute Höhepunkt in jedem Bauernkalender.

Fotos: Laurie Franck In den Schweizer Bergen endet der Sommer mit dem traditionellen Alpabzug. Das Vieh, das auf der Alp übersommerte, wird im Rahmen dieses bäuerlichen Brauchtums von seinen stolzen Eigentümern mit einer etwas archaisch anmutenden Dekoration versehen und vor den kritischen Augen hunderter betrunkener Schaulustiger ins Tal hofiert. Diejenigen Kühe, die am meisten Milch produzierten, wird die besondere Ehre zuteil, den pittoresken Nutztierkonvoi anzuführen. Ob das den Kühen überhaupt etwas bedeutet, sei dahingestellt. Die Tiere sind auf diesem ländlichen Catwalk bloss Nebendarsteller. Im Zentrum stehen die Bergrechtsbesitzer, diejenigen Bauernfamilien, die das vererbbare Recht besitzen, ihre Kühe den Sommer über auf dem Berg weiden zu lassen. Im Alpabzug finden die Landwirte jährlich ihre 15 Minuten Ruhm, bevor sie abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit den Winter über wieder tüchtig ihrer harten Arbeit nachgehen müssen.

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Im Berner Oberland zeichnet sich der Alpabzug zusätzlich durch eine lokale Eigenheit aus. So organisieren die Bauern des Justistals die sommerliche Alpkäseproduktion nicht etwa jeder für sich, sondern genossenschaftlich innerhalb einer Kooperative. Da aber nicht jeder Landwirt gleich viele Kühe besitzt, muss der gemeinsam produzierte Käse vor dem Alpabzug erst proportional unter den Bauern aufgeteilt werden. Dies geschieht im Justistal anhand eines jahrhundertealten Verteilschlüssels und im Rahmen eines feuchtfröhlichen Bergfestes, der Sigriswiler "Chästeilet". Wir machten uns auf in dieses verborgene Tal, um herauszufinden, was in Zeiten von Swagways und Snapchat von dieser urdemokratischen Institution übriggeblieben ist.

Jahrhundertealte Tradition: Die Chästeilet im Justistal

Falsches Schuhwerk

Nach einer zweistündigen Reise mit Zug und Bus komme ich zusammen mit Laurie, einer französischen Modefotografin, in Sigriswil an. Sie ist erst seit kurzem in der Schweiz und befindet sich zum ersten Mal in ihrem Leben in den Alpen. Das hätte man auf Grund ihrer Sprachunkenntnis wohl auch ohne die weissen Sneakers bemerken können, aber dank Lauries suboptimal gewähltem Schuhwerk erkennt man uns nun auch von weitem schon als Auswärtige. "Mit euren Halbschuhen braucht ihr bestimmt mehr als nur eine Stunde," stichelt uns ein Mann in Salomon-Wanderschuhen amüsiert an, als ich die Dame am Shuttle-Bus-Stand frage, ob man den Rückweg innerhalb einer Stunde laufen könne.

Neben einer bodenständigen Bescheidenheit, einer tiefen Verbundenheit zur Natur und einer Orientierung an traditionellen Werten definiert sich die Schweizer Bergkultur wie praktisch alle Identitäten auch durch soziale Abgrenzung. Das werden wir an diesem Tag noch etliche Male zu spüren bekommen. Meine Urgrosseltern waren Walliser Bergbauern und ich selbst bin auf dem Land in den Voralpen aufgewachsen. Trotzdem werde ich in diesem Mikrokosmos als "hippes Stadtkind" wahrgenommen, das sich wegen einem Beitrag für irgend so ein komisches Internetding ("weiss?!") in die verwunschene Berglandschaft im Justistal verlaufen hat.

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Verwunschene Berglandschaft: Die steilen Felswände der Sieben-Hengste-Bergkette

Von der Shuttle-Bus-Endstation sind es noch zehn Gehminuten bis zum Spycherberg, dem Ort, an dem seit über 300 Jahren die alljährliche Chästeilet-Zeremonie abgehalten wird. Zeit für einen kurzen Schwatz mit der Samariterin, die mit ihrer neonfarbenen Leuchtstreifenuniform optisch ebenfalls etwas aus der Masse sticht. "Beim Hochlaufen gibt es in der Regel noch keine Probleme," erklärt sie mir in breitem Berndeutsch. "Die treten dann eher beim Runterlaufen nach dem Fest auf." Ob sie sich denn vor allem um Touristen sorgen müsse, frage ich die Rettungskraft mit Blick auf Laurie, die mit ihren weissen Sneakers gerade über ein rutschiges Viehgitter balanciert. "Nein, eher um die Einheimischen, die zu viel getrunken haben." Sie fände das aber vollkommen in Ordnung. Solange man nicht vulgär werde, dürfe man ruhig auch mal "ein bisschen sich selber sein".

Immer wieder Kafi-Schnaps

Als wir auf dem Spycherberg eintreffen, herrscht auf der idyllischen kleinen Ebene unter den steilen Felswänden der Sieben-Hengste-Bergkette bereits ein buntes Treiben. Die Familien der verschiedenen Bauernhöfe des Justistals betreiben auf den Anhängern ihrer Kraftfahrzeuge improvisierte Gastwirtschaften. Pop-up-Bars, einfach in rural. Man bietet uns Kafi-Schnaps, Zopf, Käse, Aufschnitt und noch ein bisschen mehr Kafi-Schnaps an. Obwohl man uns in unregelmässigen Abständen auf unsere Andersartigkeit aufmerksam macht, werden wir sehr zuvorkommend behandelt und gastfreundlich in die Runde aufgenommen. Das Schinken-Sandwich zeichnet sich neben sehr dicken Brotschnitten durch eine ordentliche Portion Butter und grosszügig eingeklemmte Schinkenscheiben aus. Davon könnte sich so mancher Zürcher Szene-Gastroschuppen eine Scheibe abschneiden. Zeit für einen weiteren Kafi Schnaps. Es ist kurz vor 10:30 Uhr.

Ich bin mit Christian Kämpf verabredet. Auf den neun Alpen im Justistal weiden insgesamt 250 Kühe und produzieren dabei Milch für nicht weniger als 30 Tonnen Käse pro Sommer. Kämpf ist einer der neun Bergvögte, das heisst, er ist innerhalb der Genossenschaft für den kleinen Mittelberg zuständig, eine der neun Alpen. Der Landwirt ist ein kräftiger Mann mittleren Alters, dessen geradliniges Gesicht mit seinen wehmütigen Augen auch für das Wilhelm-Tell-Abbild auf dem Fünfliber hätte herhalten können. Es sei ein sehr guter Sommer für Käse gewesen, resümiert Kämpf.

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Der Bergvogt vom kleinen Mittelberg: Christian Kämpf

Wie mir sein Sohn Beat erklärt, hat der Käse jeder Alp seinen eigenen Geschmack: "Wir Bergrechtsbesitzer käsen nicht mehr selbst, wir sind mit unseren Höfen im Tal bereits ausgelastet." Daher stelle die Genossenschaft auf jeder Alp externe Sennen ein, die den Käse unterschiedlich zubereiteten. "Letztes Jahr produzierte eine Alp einen Käse, den man gar nicht essen konnte." Woher die externen Alpwirte denn kämen, will ich von Kämpf Junior erfahren. Das komme ganz drauf an, mal aus dem Appenzell, mal aus Fribourg, aber es hätte auch schon deutsche Sennen gegeben, die für die Sigriswiler Landwirte den Käse produziert hätten.

Ich möchte vom Vater wissen, ob es ihn denn störe, dass die "Chästeilet" mittlerweile zur Touristenattraktion verkommen sei und so viele Flachländer in die Berge locke. "Wir mögen zwar das Bergrecht besitzen, aber nicht den Berg." Denn der gehöre der Allgemeinheit, erklärt mir Kämpf demütig. Zudem sei ja klar, dass Leute vorbeikommen, wenn man an so einem schönen Ort wohne, sinniert der Bergvogt augenzwinkernd. "Mit dem müssen und dürfen wir leben."

Mal mehr, mal weniger

Kurz nach dem Gespräch mit den Kämpfs öffnen sich die Tore der Speicher und der Käse wird von einer Menschenkette aus abgeklärt dreinblickenden Landwirten herausgerollt und auf dem Vorplatz aufgestapelt. Dabei wird darauf geachtet, dass jeder Stapel etwa gleich schwer ist und gleichmässig aus älterem und jüngerem Käse besteht. Nach einem komplizierten System, von dem ich nicht sicher bin, ob es die Landwirte selbst durchschauen, wird der Käse unter freudigem Applaus und ad-hoc Jodelchören zwischen den Bergrechtsbesitzern verlost. Dabei wird der Käseanteil jeder Familie auf die Masseinheit eines Laibes auf oder abgerundet.

Überlieferter Verteilschlüssel: Jeder Käsestapel besteht aus acht Laiben, wovon jeder Laib rund 100 Kilogramm Milch entspricht. Da der Milchanteil einer Familie allerdings nie exakt ein Vielfaches von 100 Kilogramm ist, müssen die Bauern einige Laibe teilen. Allenfalls zahlen sie sich auch gegenseitig aus

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"Es gibt mal mehr und mal weniger. Ein Käselaib wird aber nie verschnitten," betont Kämpf Junior den genossenschaftlichen Umgang der Bauern innerhalb dieser jahrhundertealten Tradition. Danach lädt er Laurie und mich in astreinem Französisch zu einem Gläschen Wein ein und stellt uns seinen Freunden und Familienmitgliedern vor. Es wird geschnupft und Kräuterschnaps macht in einem Flachmann die Runde. Die Schnupfsprüche reichen von einfallsreich-lustig bis primitiv-vulgär.

Umgeben wird die Szenerie von einer Geräuschkulisse, die aus dem imposanten Röhren brünftiger Hirsche sowie spontanen Jauchzern von enthusiastischen Festivalbesuchern besteht. Ohne jede Vorwarnung springen aus dem Wald zwei ausgewachsene Exemplare ersterer Gattung in einem riesigen Bogen und mit einem Affenzahn über die Strasse. "Im Justistal gibt es mehr Hirsche als Kühe," kommentiert der Jäger in der Schnupfrunde unsere Was-war-das-denn-eben-Blicke.

"Jeder ist hier willkommen"

Wir laufen weiter über das Gelände und schliessen uns einer Gruppe Jugendlicher an. Sie haben sich bereits nahe ans Delirium getrunken. Mann trägt Edelweisshemd. Eine junge Frau aus der Gruppe ordnet mich an, mein Hemd "einzuhosnen". Ich würde dann weniger auffallen, erklärt sie mir gutmütig. Nachdem ich mein Hemd in meine Hosen gestopft habe, frage ich sie, ob es jetzt besser aussehe. Sie läuft zielstrebig um mich herum und starrt mir zu meiner Verwunderung auf den Arsch. Ich müsse gar nicht so verwundert tun, hier auf dem Land seien sie halt etwas direkter.

Dresscode: Edelweisshemd

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Etwas verlegen wende ich die Anmache ab und lasse mich stattdessen auf eine politische Diskussion mit einem Jung-SVPler über die bevorstehenden Abstimmungen ein. Wir sind uns uneinig, doch er findet das OK. Hier oben seien schliesslich alle willkommen—"auch Ausländer". Nicht so wie in der Stadt (Thun), wo er blöd angemacht werde, wenn er in seinem Edelweisshemd aufkreuzt. Sein hypnotisch schwankender Kollege schneidet plötzlich mit, dass wir von der Presse sind und grölt mir feucht "Lügenpresse, auf die Fresse!" ins Gesicht. Ob er denn schon etwas von uns gelesen hätte. Natürlich nicht, aber wir sollen mal über die Ultra-Szene des Thuner Südblocks schreiben. Wie ich mich für den Input bedanke, ziehen urplötzlich die mit Weihnachtsbaum-ähnlichen-Gewächsen geschmückten Kühe an uns vorbei. Der Alpabzug hat begonnen. Den Sennen, die sie antreiben, werden Getränke gereicht. Wie an der Tour de France. Einfach mit weniger Gatorade und mehr alkoholischen Erfrischungsgetränken.

Es fängt an zu regnen. Wir beschliessen, uns ebenfalls talwärts in Bewegung zu setzen. Der Mann in Salomon-Wanderschuhen sollte Recht behalten. Unsere flachländischen Halbschuhe taugen nicht zur Talabfahrt. Ermüdet halten wir den Daumen hoch und hoffen auf Erbarmen. Das erste Gefährt hält an: "Steigt ein!" Im geräumigen Anhänger sitzen mehrere Generationen einer Landwirtenfamilie gemütlich auf Heuballen beisammen und machen eine weitere Flasche Weisswein auf. Wir steigen dankend ein und stossen ein letztes Mal an—auf die Gesundheit, auf den Sommer und auf die Heimat. Während der Fahrt nach Sigriswil wird ununterbrochen und ausgelassen gesungen: "Gib mer Flügu womi trage, so wyt de Troum ein treyt - und e Stimm wo für au die Wunder ab und zue mau danke seyt."

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Unten im Dorf kommt die Afterparty im Adler gerade erst ins Rollen, als Laurie und ich begreifen, dass es Zeit wird zu gehen. Obwohl wir an der "Chästeilet" freundlich aufgenommen und verpflegt wurden, blieben wir an diesem altertümlichen Bergfest bloss geduldete Fremde. Wir haben uns unvoreingenommen und aufgeschlossen auf die Menschen im Justistal und deren Gepflogenheiten eingelassen. Trotzdem fühlte ich mich fremd im eigenen Land. Im Bewusstsein, dass ländliche Traditionen wie die "Chästeilet" einen wertvollen Teil des kulturellen Erbes der Schweiz ausmachen, ziehen wir doch etwas erleichtert weiter, in Richtung Urbanität.

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