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Diese Psychologin sieht in uns eine Generation aus "Tyrannen-Kindern"

Politikverdrossen, aber chillbewusst: So sieht Dr. Martina Leibovici-Mühlberger die Jugend.
Leo Hidalgo | Flickr | CC BY 2.0

Prof. Dr. Martina Leibovici-Mühlberger hat dieser Tage viel zu tun. Die Ärztin, Psychotherapeutin und Erziehungsberaterin hat letzten Monat ein Buch veröffentlicht. Der kontroverse Titel Wenn die Tyrannen-Kinder erwachsen werden rechnet ordentlich mit der Generation Y ab. In dem Buch geht es, lapidar gesagt, darum, dass unser System, unsere Eltern und unsere Schulen grundsätzlich Tyrannen-Kinder hervorbringen.

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Diese Kinder sind vom Narzissmus geprägt und schaffen nur schwer den Einstieg ins Berufsleben; zumindest in der Eigendefinition der Autorin. Sie leiden an Grenzenlosigkeit, können ihre Impulse nicht kontrollieren, sind schnell frustriert und tun sich schwer damit, bei einer Sache zu bleiben. Soweit unterstützen diese These auch die Fakten: Viele Kinder leiden unter ADHS, Essstörungen oder sind auf andere Art auffällig. So werden sie aus volkswirtschaftlicher Sicht vom AMS beziehungsweise der Grundsicherung abhängig, haben kein Gespür für das Gemeinwohl, schaffen wenig aus Eigeninitiative und sind politikverdrossen, aber chillbewusst. Mit den komplexen globalen Herausforderungen der Zukunft werden Tyrannen-Kinder nicht klarkommen—und davon gibt es viele. So zumindest die Meinung von Leibovici-Mühlberger. Und diese beschäftigt derzeit nicht nur sie, sondern auch die Medien.

Seit dem Erscheinen ihres Buches hat sie laufend Interviews, steht im Lauffeuer der harten Kritik und jettet zwischen Italien, Belgien und Österreich hin und her. Auch während unseres Interviews lässt sie immer wieder neue Jobs oder Tätigkeiten in verschiedenen Organisationen und Projekten fallen. Vier Kinder hat sie neben ihrer sonstigen Praxis auch noch. Gerade versucht sie außerdem, ein Programm in der Toskana zu verwirklichen—weil sie keine Lust hat, auf öffentliche Gelder zu warten und sich lieber selbst finanziert. In der Toskana sollen übrigens ehemalige Tyrannen-Kinder geheilt werden.

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In einem selbst ausgearbeiteten Programm will die Psychotherapeutin ihnen Selbstmanagement beibringen und das Selbstwertgefühl steigern. Sie sollen Gemeinschaft erleben, digital detoxen und sogenannte Selbstwirksamkeitserlebnisse sammeln. Das alles antwortet sie mir, als ich frage, wie ich denn als Tyrannen-Kind aus meiner Misere rauskommen könnte.

Dr. Martina Leibovici-Mühlberger ist gepflegt, blond und schlank. Sie wirkt so, wie Frauen ihrer Generation in höheren sozioökonomischen Schichten eben wirken. Sie inszeniert sich als Power-Frau mit eigenem Kopf und eigener Weltansicht. Und diese Inszenierung ist in sich schlüssig. Dass sie ihren kontroversen Titel genau so meint, wie er da steht, habe ich ihr sofort abgekauft. Genauso wie ich auch davon überzeugt war, dass eine frustrierte Vertreterin ihrer Generation aus Überzeugung über die neue schimpft. Das wäre soweit kein neues Phänomen. Sie bestätigt mir, dass der Titel absichtlich kontrovers gewählt ist. Sie wollte aufrütteln, provozieren. Sie wollte ein Gespräch über Erziehungsstile und Schulsysteme anstoßen—und sehe sich eben als eine Art Anwältin der Kinder. Ach ja, und wir dürfen weitere Bücher von ihr erwarten.

Statt Statistiken vorzustellen und ihre Aussagen faktisch zu untermauern, nimmt sie Fallbeispiele her und unterstützt diese mit Meinungen. Umso überraschter war ich über ihre ehrliche Antworten auf kritische Fragen—ich hätte eher erwartet, dass sie mich schimpft. Ihre Kinder hätten sie auf die Idee gebracht, dieses Buch zu schreiben, so Dr. Leibovici-Mühlberger. Befreundete Pädagogen und Erfahrungen in ihrer therapeutischen Tätigkeit hätten sie bekräftigt.

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Aber hat man als Therapeutin nicht grundsätzlich immer eher mit auffälligen Jugendlichen zu tun, egal ob im Jahr 2016 oder 1967? "Natürlich sieht man immer nur die Spitze des Eisbergs", sagt Leibovici-Mühlberger. "Aber befreundete Pädagogen berichten auch: Wenn vier oder fünf Kinder in der Klasse nicht auffällig sind, dann hat man schon einen guten Schnitt. Das war früher nicht so. Auch ihre Kinder berichten von demoralisierten, undisziplinierten und verdrossenen Mitschülern."

Foto: CC0 Public Domain

Ich bin mir nicht sicher, ob die Auffälligkeiten tatsächlich mehr oder nicht einfach nur sichtbarer werden. Die Kinder ihrer Generation wurden immerhin auch nicht von pädagogisch geschulten Eltern erzogen. Gewalt, Alkoholismus in der Familie und eine irrationale Strenge haben bestimmt ein paar ihrer Altersgenossen zerbrechen lassen. Aus Angst vor dieser Gewalt waren die Kinder vielleicht nicht so auffällig—was nicht bedeutet, dass sie bis heute die Nachwirkungen dieser Erziehung spüren. Therapien waren damals auch nicht so salonfähig, wie sie es heute sind.

Auch, als sie leidenschaftlich von ihren vorherigen Büchern—die alle das zentrales Thema Kinder und Jugendliche haben—erzählt, oder dass sie für die Einführung eines eigenen Kinderministeriums ist, bekommt man das Gefühl: Diese Frau brennt für ihre Sache—egal, ob ihre Thesen nun stimmen oder nicht.

Die Kritiken zu ihrem Buch liest sie nur, wenn sie Zeit hat; manchmal berichten ihr auch ihre Kinder darüber. Sie selbst gönnt sich nicht genug Ruhe oder Reflexion für diese Dinge. Dass Kritik auch neue Blickwinkel oder Denkanstöße bringen kann, scheint sie zu bewusst auszuklammern.

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Eine Hauptaussage ihres Buches ist, dass Kinder und Jugendliche an fehlenden Grenzen, Normen und Familienrollen nicht gedeihen, sondern darunter leiden und dadurch immer weniger weiterbrächten. Auch die Politikverdrossenheit der Jungen würde dadurch zunehmen. Diese Behauptung ist nicht neu und erwischt in einer Dissertation auch schon die Generation X. Also die Generation von Prof. Dr. Martina Leibovici-Mühlberger. Darin schreibt die Autorin Anja Härschel: "Bei Kindern ab 5 werden Töne der Autoritätssehnsucht laut. Viele Gewalt- und Verwahrlosungsphänomene hängen nicht mehr mit autoritären, schlagenden sondern mit schwachen, abwesenden und konturlosen Vätern und Müttern zusammen, die nicht mehr in der Lage sind, Normen und Grenzen zu setzen oder Orientierung zu bieten."

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Diesen Drang zu schaffen und Veränderung zu bewirken vermisst Leibovici-Mühlberger bei erwachsenen Tyrannen-Kindern. "Ich habe es satt, dass die Konsum- und Konkurrenzgesellschaft Kinder in ihrer Entwicklung so beeinträchtigt, dass eine gesamte Industrie an ihnen hängt. Dass Eltern suggeriert wird, sie sind schlechte Eltern, wenn sie nicht mitmachen und ihr Kind nicht in zehn Kurse schicken, in Kinderhotels einchecken lassen und noch dazu ihrem Minderjährigen persönliche Freiheit lassen." Die pädagogische Ausbildung ist oft nicht ausreichend um diese Erziehungsrolle zu übernehmen, die Bildungsreform ist in Österreich nur eine chronische Krankheit—diesen Eindruck habe auch ich. Leibovici-Mühlberger erzählt mir von ein paar Muster-Schulen in der Steiermark. Die Kinder wollen nicht nach Hause, sondern noch länger in der Schule bleiben.

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Leibovici-Mühlberger tun auch die Eltern leid, die sich nicht trauen, Grenzen für ihre Kinder abzustecken. "Wissen Sie, wenn ich mit Ihnen auf meinen kleinen Balkon gehe und Sie frage, wie Sie es hier finden, werden Sie sagen, es ist eine nette Aussicht. Wenn ich das Geländer aber wegnehme, dann werden Sie sich unwohl fühlen und anfangen, panisch die Sicherheit zu suchen und mich fragen, ob ich blöd bin. Das passiert mit vielen Kindern und Jugendlichen, wenn sie keinen abgesteckten Raum zur Entwicklung bekommen."

Ich erzähle ihr von einem Fall aus meinem Umfeld: Ein Geschwisterpaar mit zwei Jahren Altersunterschied. Der Ältere würde in ihre Definition von einem Tyrannen-Kind passen und ging mit mir zur Schule. Der Jüngere ist ein unauffälliges, liebes Kind. Beide gehen in dieselbe Schule, die Eltern behandeln beide gleich. Ich frage sie, wie das sein kann—wie zwei Menschen, die dieselbe Erziehung genossen haben und zur selben Schule gehen, so unterschiedlich sein können. "Aus der Ferne kann ich nicht sagen, wo das Problem liegt", antwortet Leibovici-Mühlberger. Manchmal sei aber die gleiche Erziehung nicht das Beste für jedes einzelne Kind. Eltern müssten aufhören, sich von anderen einreden zu lassen, was für ihr Kind gut ist. "Niemand kennt seine Kinder besser als man selbst", so Leibovici-Mühlberger. Ein gewisser Widerspruch, wenn man ihr publizistisches Schaffen bedenkt, mit dem sie Eltern ebenfalls Ratschläge zu mehr Grenzsetzung gibt.

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"Vor allem aber tun mir die Tyrannen-Kinder leid. Sie sind das Erzeugnis von Eltern, die alles richtig machen wollen und damit vieles versauen", so Leibovici-Mühlberger. "Sie sind voller Potenzial, sensibel, kreativ und kognitiv fähig. Sie haben nur keine entwickelten Sekundärkompetenzen, wie zum Beispiel Selbstorganisation, Geduld und Durchhaltevermögen." Sie findet das Buch auch nicht pessimistisch—sie hat Hoffnung für uns. Aber sie sieht auch Handlungsbedarf.

Ich frage sie, wie es ihren vier Kindern mit dem Buch geht. Alle vier gehören schließlich selbst der Generation Y an. "Sie diskutieren viel mit mir, sie betrachten es sehr kritisch. Aber sie stehen hinter mir und sehen mein Buch nicht als falsch an." Ihre Kinder seien außerdem keine Tyrannen-Kinder—so wie übrigens die meisten Kinder und Jugendlichen keine seien. "Aber auch, wenn es nur 20 Prozent sind, wäre das rein volkswirtschaftlich gesehen eine Katastrophe, die es nicht geben müsste."

Die 20 Prozent sind dabei eine völlig willkürliche Zahl; und überhaupt betont Frau Dr. Leibovici-Mühlberger, dass es ihr mit ihrem Buch nicht um Statistiken oder Fakten ginge—sondern darum, sich den Frust runterzuschreiben und hoffentlich ein paar Menschen aufzurütteln und zu mobilisieren.

Insgesamt reden wir sehr lange—viel länger, als es für unser Interview um 21:00 Uhr vorgesehen war. Sie schneidet viele Themen an: Politik, System, Bildung, Gesellschaft, Zukunft, Vergangenheit, Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Mein Eindruck ist: Sie meint es nicht böse—sie handelt aus tiefster Überzeugung. Dass sie sich damit in eine lange Reihe von Generation-nach-mir-Beschimpfern einreiht, dürfte ihr egal sein. Dass man ihr Buch aber ohne Fakten und Statistiken umso schwerer ernst nehmen kann, sollte ihr nicht egal sein. Das Dilemma ist vielleicht dasselbe wie bei jeder Generation von Generationsbuch-Autoren: Man meint es gut, man will helfen, man will mitreden—und nimmt sich selbst vor lauter vorgefertigter Meinung ein wenig die Glaubwürdigkeit. Oder um es mit Leibovici-Mühlberger zu sagen: Man gehört zu denen, "die alles richtig machen wollen und damit vieles versauen". Leibovici-Mühlberger liefert auch wenige Auswege für ehemalige Tyrannen-Kinder, die heute erwachsen sind und tatsächlich etwas an ihrer Situation ändern wollen. Wenn es sie denn gibt, wäre das Buch wohl die perfekte Ausrede, um sich auf sein besiegeltes Schicksal auszureden und sich anstelle des AMS-Kursbesuchs einen Joint anzuzünden.

Fredi auf Twitter: @schla_wienerin


Header: Leo Hidalgo | Flickr | [CC BY 2.0](Leo Hidalgo | Flickr | CC BY 2.0)