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Wenn man mit einem der berüchtigtsten Verbrecher der Welt im Gefängnis sitzt

James „Whitey" Bulger saß vorher schon in Alcatraz, soll als FBI-Spitzel gearbeitet und 19 Menschen umgebracht haben. Außerdem werden ihm Erpressung, Drogenhandel und Geldwäsche vorgeworfen.
Das 2011er Polizeifoto von James "Whitey" Bulger
Dieses Bild entstand nach der Festnahme Bulgers im Jahr 2011 | Foto: Wikimedia Commons | Public Domain

Dieses Bild entstand nach der Festnahme Bulgers im Jahr 2011 | Foto: Wikimedia Commons | Public Domain

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem Marshall Project entstanden.

Von Mitte 2014 bis Anfang 2015 saß ich im „United States Penitentiary Coleman II"-Gefängnis in Florida. Dort traf ich auch auf James „Whitey" Bulger.

Was die Leute, die von Bulgers Geschichte so fasziniert sind, nicht zu verstehen scheinen, ist folgende Tatsache: Er war nicht nur das Oberhaupt der irischen Mafia von Boston, flüchtete jahrelang vor den Behörden und hat eine ganze Menge Leute auf dem Gewissen, sondern agierte angeblich* auch als Spitzel für das FBI und verriet dabei seine Konkurrenten. Normalerweise wird man im Gefägnis für so etwas sofort kaltgemacht.

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Coleman II ist jedoch ein Gefängnis für Sonderfälle**—in anderen Worten: eine „sichere" Einrichtung, in der Informanten, ehemalige Polizisten, Ex-Bandenmitglieder, Check-ins (also Häftlinge, die sich zur eigenen Sicherheit absichtlich in Einzelhaft begeben), Homosexuelle und Sexualstraftäter ohne Bedenken überall aufhalten können. In normalen staatlichen Gefängnissen würden solche Typen ständig Gefahr laufen, zu Tode geprügelt, erstochen oder erwürgt zu werden.

Als ich Bulger zum ersten Mal sah, war mir noch gar nicht klar, dass es sich dabei um Bulger handelte. Damals war er für mich nur ein blasser, grauhaariger alter Sack in einem Rollstuhl. Wahrscheinlich irgendein Kindermissbraucher, dachte ich mir. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass dieser Mann irgendwann mal eine Bank ausgeraubt, einen Menschen umgebracht oder irgendein anderes schwerwiegendes Verbrechen begangen hat.

Sid, ein Ex-Mitglied der Aryan Brotherhood mit Glatze, tätowiertem Gesicht, Schnurrbart und zahnlosem Mund, schob Bulger in dessen Rollstuhl herum und wich ihm dabei nie von der Seite. Ich vermutete, dass Sid wohl einfach nur einem Kindermissbraucher etwas Geld aus der Tasche leiern würde—keine große Sache.

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Später nahm mich aber ein Ex-Nazi-Lowrider beiseite und meinte: „Hey, ich habe gehört, dass da drüben ist Bulger. Total abgefahren!"

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Als Sid Bulger am ersten Tag dann zum Abendessen schob, redeten viele Insassen über den neuen Häftling. „Mann, das ist Whitey Bulger!", hieß es von allen Seiten. Aber niemand redete mit ihm persönlich oder fragte nach einem Autogramm. Bulger machte jedoch auch einen extrem gebrechlichen Eindruck und seine Körperhaltung schrie förmlich, dass man ihn in Ruhe lassen sollte.

Trotz Bulgers offensichtlichem Wunsch, alleine gelassen zu werden, konnte ich mir einen Kommentar nicht verkneifen, als er nach dem Essen wieder aus dem Speisesaal fuhr. „Nette Flucht, Whitey!" Da überkam ihn ein breites und fies anmutendes Grinsen.

Gut 30 Tage später wurde ich dann in den gleichen Block wie Bulger verlegt und von da an lag nur noch eine Zelle zwischen uns.

Bulger war kein sehr gesprächiger Typ und ich sah ihn insgesamt auch nur zwei Mal lächeln. Meistens saß er nur vorm Fernseher und setzte einen fokussierten Blick auf. Manchmal kam jedoch auch der alte Mann in ihm durch und er nickte im Gefängnishof kurz ein (so etwas hätte in einer normalen Haftanstalt niemals passieren dürfen, denn als Mitglied einer Gang muss man jederzeit voll bekleidet und kampfbereit sein).

Eines Tages machte Bulger wieder eines dieser Nickerchen und ein drogensüchtiger Häftling, der für den Verkauf von getragenen Schuhen bekannt war, schlich sich an ihn ran und versuchte, die Treter des Ex-Mobsters zu klauen. „Hey, lass das!", rief ich daraufhin. „Er ist noch nicht tot." Alle lachten und Bulger schlief wieder ein.

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Wieder zurück in unserem Block gab sich Bulger dann doch irgendwann einen Ruck und erzählte mir einige Geschichten aus seinem Leben und zeigte mir dabei auch oft diverse Dokumente und Fotos, die laut ihm alle seine Storys belegen würden. Er behauptete außerdem, dass sie damals in Alcatraz mit LSD an ihm herumexperimentiert hätten.

Später erfuhr ich dann, dass Bulger nachts oft Albträume hatte und schreiend aufwachte. Der alte Mann wollte uns jedoch nie verraten, was ihn da quälte, und den Vorschlag, doch mal den Gefängnispsychiater aufzusuchen, hätte er wohl nur mit einem bösen Blick abgetan.

Rückblickend erinnert mich Bulgers allgemeines Verhalten und Auftreten an meinen früheren Bekannten Mikey Rhodes, der aus einer armen und kaputten Familie stammte. Im Kindesalter war Rhodes misshandelt worden und den Rest seines Lebens blickte er dann nur noch düster drein. Sechs Jahre nachdem ich ihn kennengelernt hatte, wurde er dann ermordet und in den Mississippi River geworfen.

Und das ist auch alles, was Bulger für mich war: Ein Mann mit düsterer Vergangenheit und einem genauso düsteren Blick.

Nathaniel Lindell ist ein 40 jähriger Ex-Häftling. Er musste ins Gefängnis, weil er 1996 einen Mord begangen hatte.

*Während des Prozesses bestritten Bulger und seine Anwälte, dass er ein FBI-Spitzel war.

**Coleman II ließ mehrere Anfragen zur Art des Gefängnisses unbeantwortet.