Warum wir gerade nach der Niederlande-Wahl für Europa auf die Straße gehen sollten

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Europa

Warum wir gerade nach der Niederlande-Wahl für Europa auf die Straße gehen sollten

Die neue Bewegung Pulse of Europe macht es möglich, bevor es zu spät ist.

Foto: Martin Kraft | Flickr | CC BY-SA 2.0

In Europa schwenken Menschen die blauen Fahnen, Politiker twittern ihre Freude und in den Niederlanden sagt der soeben wiedergewählte Ministerpräsident Mark Rutte zu seiner europafreundlichen Partei VVD: "Es ist ein Sieg für die Demokratie." 82 Prozent der Wahlberechtigten haben ihre Stimme abgegeben. Das ist außergewöhnlich hoch. Beim Brexit-Votum waren es 72 Prozent. Der Wahlausgang in den Niederlanden scheint ein Grund zum Feiern. Aber gerade jetzt dürfen wir nicht in einen Post-Niederlande-Wahlkater verfallen. Nur weil ein Land nicht vollends dem Rechtspopulismus verfallen ist, haben wir das grundsätzliche Problem nicht gelöst.

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Noch immer johlen die Anhänger der AfD, wenn Frauke Petry die EU als "nicht reformierbar" bezeichnet. Noch immer folgen frustrierte Franzosen dem Front National. Und wir machen uns oft nur auf Facebook über diese Politiker lustig, anstatt für das einzustehen, was uns an Europa wichtig ist: dass wir Freunde in anderen Ländern haben. Dass wir im Ausland studieren können. Dass viele von uns so viel mehr Möglichkeiten haben als unsere Großeltern, weil Länder glücklicherweise begriffen haben, dass zusammenzuarbeiten mehr bringt, als sich zu bekriegen.

Aber Wahl hin oder her: Der Rechtspopulismus ist damit ja nicht besiegt. Auch wenn Rutte 33 Sitze im Parlament erhielt, wurde Geert Wilders europafeindliche PVV zweitstärkste Kraft. Mit 20 Sitzen kann er eine Menge Stunk im Parlament machen. Hinzu kommt, dass er im Vergleich zu 2012 fünf weitere Plätze gewonnen hat. Offensichtlich denken viele Wähler also noch immer "Niederlande First". Und Gleichgesinnte bei den Wahlen in Frankreich und Deutschland könnten folgen.

Wir können nicht darauf bauen, dass ein pöbelnder Erdoğan, der im Zweifelsfall sogar niederländische Kühe ausweisen lässt, auch im April vor der Frankreich- oder im Herbst vor der Bundestagswahl kurzfristig die Stimmung im Volk zum Positiven beeinflusst. Die rechtspopulistische Marine Le Pen und ihr Front National liegen in Frankreich gleichauf mit dem parteilosen, sozialliberalen Hoffnungsträger Emmanuel Macron. Die AfD hat seit der Kanzlerkandidatur von Martin Schulz zwar an Stimmen eingebüßt, ist in Umfragen aber noch immer drittstärkste Kraft.

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Und dass Umfragen täuschen und die Realität überraschen können, das haben Brexit und Trump bewiesen. 2017 wollen wir nicht erst am nächsten Morgen beim Café die Breaking-News aus Fernsehen und Radio auf uns einprasseln lassen und dabei das dumpfe Gefühl haben, dass andere Wähler gerade unsere Zukunft zerstören. Und deswegen ist es mit ein paar Likes unter Sketchen von Saturday Night Live gegen Trump nicht getan. Wir müssen mehr tun.

Die vergangenen Wahlen haben gezeigt, dass uns die Entscheidungen nicht egal sind. Nach dem Brexit zogen Tausende Jugendliche mit "Europa wir lieben dich"-Plakaten durch die Straßen Londons. Nach Trumps Erfolg protestierten Hunderttausende Frauen. Aber das Votum rückgängig machen können sie nicht. Die Jungen hätte ihre Stimme vorher abgeben müssen. Die Wahlbeteiligung lag in Großbritannien bei den 18- bis 34-Jährigen gerade mal bei 58 Prozent. Bei Trump wiederholte sich das Spiel: Junge Menschen wählten Clinton, doch sie waren nicht genug. Nur 50 Prozent der 18- bis 29-jährigen gaben ihre Stimme ab. Jetzt merken viele, wie bescheuert das war. Warum kam ihnen die Erkenntnis nicht vor der Wahl?

Damit das in Zukunft nicht wieder passiert, gründete der 44-jährige Frankfurter Rechtsanwalt Daniel Röder Im November 2016 die Bewegung Pulse of Europe. Nach Frankfurt kamen 43 deutsche und 11 weitere europäische Städte in Frankreich, Portugal, Belgien, den Niederlanden, Österreich und sogar Großbritannien hinzu. Eine lokale Bewegung, die über Grenzen hinweg verbinden will. Jeden Sonntag um 14 Uhr treffen sich Europafans für eine Stunde. Sie singen "Ode an die Freude", schwenken die europäische Fahne und sprechen über ihre Erfahrungen mit der Europäischen Union. Die Demonstration ist positiv – es ist eine Demonstration für etwas, nicht dagegen. Und das ist es, was wir brauchen und tun müssen: uns konstruktiv für etwas einsetzen und die Zukunft mitgestalten.

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Die Menschen, die Trump wählten, waren nicht für ihn, sondern gegen das Establishment. Populisten gewinnen mit Angstparolen. Sie versuchen zu suggerieren, dass Wahlen einem Entweder-oder-Mechanismus unterliegen. Dabei müssen politische Entscheidungen nicht schwarz oder weiß sein. Ein Ja zu Europa muss nicht bedingungslos sein. Das zeigt Pulse of Europe. Die Initiative beantwortet Populismus mit Optimismus. Aber nicht mit Naivität. Pulse of Europe kritisiert: Europa muss transparenter werden. Europa muss bürgernäher werden. Europa sollte sich nicht in Diskussionen um die Regulierung von Kondomgrößen verlieren. Aber Pulse of Europe erinnert auch und besonders an das Positive. "Nur weil eine Fensterscheibe kaputt ist, muss man doch noch kein Haus abreißen", sagt Silvan Wagenknecht zu VICE. Er ist der Gründer von Pulse of Europe in Berlin. Und er hat Recht.

Das Fenster kann nur repariert werden, wenn das Haus bestehen bleibt. Wenn wir das Haus hingegen einreißen, dann ist der Windzug, der durch das Fenster kam, unser geringstes Problem. Dann stehen wir ungeschützt im Sturm. Deswegen ist es an der Zeit, nicht zu schmollen, Politik nicht als lebensfern abzustempeln, sondern selbst aktiv zu werden. Unsere Demokratie funktioniert nur, wenn wir unsere Meinung äußern, wenn wir teilnehmen. Wenn wir uns mit keiner Partei identifizieren, müssen wir nicht unbedingt einer beitreten. Aber wir müssen wählen gehen. Im Zweifelsfall das geringstmögliche demokratische Übel. Und daneben geben Aktionen wie jene von Pulse of Europe die Möglichkeit zu zeigen, dass nicht unbedingt jene, die "Wir sind das Volk" schreien, auch tatsächlich das Volk repräsentieren.

Was steht auf dem Spiel? Wir nehmen an, einige von euch waren oder wollen ins Ausland. Allein 650.000 Studenten nutzen das Austauschprogramm ERASMUS jedes Jahr. Bei einem Klick auf die Homepages ausländischer Universitäten sehen wir sofort: Sie unterteilen in EU- und Nicht-EU-Bürger. Als Europäer können wir dabei Tausende Euro sparen. Und wie viele Bekannte würden aus eurer Facebook-Freundes-Liste fallen, wenn ihr nicht so unkompliziert in andere Länder hättet reisen können?

Ich habe in Paris studiert, in einem kleinen Bistro im Montmartre Wein und Bier ausgeschenkt. Die anderen Kellner sind nun meine Freunde. Ein Besuch kostet mich nur die Zugfahrt. Den französischen Wein kaufe ich jetzt in deutschen Supermärkten. Aber wenn Europa zusammenfällt, der komplette Binnenhandel teuer und kompliziert wird und wir zu einer Mark zurückkehren müssen, durch die unser gesamter Export zusammenbricht, sind unsere Sorgen größer als der gestiegene Preis einer Flasche Wein. Und das trifft dann nicht nur Menschen wie mich, die privilegiert waren, die studieren, reisen und Freunde im Ausland finden konnten. Das trifft dann alle.

Ich möchte mir das nicht ausmalen. Und deswegen müssen wir jetzt zeigen, dass uns Europa nicht egal ist.

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