Wie es war, 10 Jahre als Gigolo zu leben

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Wie es war, 10 Jahre als Gigolo zu leben

"Ich führte ein Doppelleben. Und ich genoss es. Es war verrucht und aufregend und ein bisschen dreckig."

Foto: flickr | Ed and Eddie | by CC 2.0

Zugegeben, ich heiße nicht wirklich Ali, aber meinen wirklichen Namen möchte ich an dieser Stelle lieber nicht verraten – ich bin nämlich als Tänzer auf vielen österreichischen Bühnen zuhause, kleinen und auch großen, und es kann gut sein, dass ihr mich schon mal in einem Musical, einer TV-Show oder als Backgroundtänzer gesehen habt.

Eigentlich finde ich es schade, dass ich mir für meine Erzählung ein Pseudonym zulegen muss, weil ich mich ganz und gar nicht für meine Vergangenheit schäme, um die es hier geht. Ich erinnere mich sogar gern daran. Es war eine tolle und ziemlich interessante Zeit. Aber leider haftet diesem Thema aber immer noch ein gesellschaftliches Stigma an und man wird sofort in die Drogen-, Prostitutions- und Kriminalitätsecke geschoben.

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So war es bei mir aber ganz und gar nicht. Ich habe zehn Jahre lang als Gigolo gelebt. Vielleicht kann man auch sagen, ich war High-Class-Escort, aber Gigolo gefällt mir besser. Ich habe zwar meine Seele und meinen Körper an reiche Männer verkauft, aber für mich war es mehr ein Lebensstil als ein Job. Vielleicht sogar eine Lebensphilosophie.

Angefangen hat alles, als ich 15 Jahre alt war. Ganz schön früh für manche, ich weiß – aber den Auslöser gab's sogar noch ein Jahr früher. Ich war ein Frühstarter in Sachen Sex und Selbstständigkeit. Mein erstes Mal hatte ich mit 12. In Wiens Gay Szene war ich auch sehr bald zuhause und auf den Mund gefallen war ich sowieso noch nie. Schon als Kind hat man mir dauernd gesagt, wie hübsch ich sei – dass ich mir mein gutes Aussehen bewahrt habe, bekomme ich heute noch beinahe täglich zu hören.

Mittlerweile würde ich mich als straight-aussehenden Schwulen bezeichnen, aber damals war ich in meinem Auftreten eher tuntig und sehr extrovertiert (OK, letzteres bin ich heute noch). Vielleicht hat mich auch deshalb bereits mit 14 Jahren ein Politiker in höherem Alter, der in der Szene für seine Vorlieben für jüngere Burschen bekannt war, auf der Straße angesprochen, ob er mich küssen dürfe.

Dafür würde er mir auch ein "Taschengeld" geben. Ich hab's gemacht und obwohl ich es als Kind immer sehr schockierend fand, wenn ich die Nutten am Wiener Gürtel in ein Auto steigen sah, war dieses Erlebnis für mich nicht seltsam. Im Gegenteil: Ich fand es vielmehr erstaunlich, wie leicht es geht, mit meinem Aussehen Geld zu verdienen – Geld dafür zu bekommen, dass ich einfach ich bin. Wie viel ich für den Kuss bekam, weiß ich nicht mehr, damals gab's noch Schilling. Auf jeden Fall habe ich mir damit CDs gekauft.

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Weil ich als Kind und Jugendlicher aus privaten Gründen zum Teil in Wien, zum Teil in London aufwuchs, wo auch Verwandte von mir lebten, hatte ich an beiden Orten viele Freunde. Als ich 15 Jahre alt war, hatte ich einen um viele Jahre älteren Boyfriend, der Opernsänger war, in den USA und England lebte und in der High Society zuhause war.

"Es war ein offenes Geheimnis, welchen Zweck die Partys erfüllen sollten. Offen gesprochen wurde darüber jedoch nie – auch nicht unter uns."

Er war der erste Sugar Daddy in meinem Leben: Er bezahlte mir nicht nur die teuren Flüge, sondern auch sonst alles, was ich so brauchte und wollte. Ich verbrachte viele Wochen mit ihm, wir aßen in den nobelsten Restaurants, besuchten die angesagtesten Events und wohnten in einem teuren Apartment.

Da ich nach der Grundstufe die Schule abgebrochen habe – ich besuchte noch kurzzeitig eine berufsbildende Schule, wurde dort aber unter anderem wegen öffentlichem Sex mit meiner damaligen Freundin rausgeschmissen –, gab's auch hier keine Probleme; auch nicht seitens meiner Familie: Meine Eltern waren geschieden, ich wohnte alleine mit meinem Vater, mit dem ich ein sehr distanziertes Verhältnis hatte. Er kümmerte sich nicht darum, was ich tat und wie es mir ging, also war es auch vollkommen okay für ihn, wenn ich wochenlang ins Ausland verschwand. "Ich bin bei Freunden in England", sagte ich immer – damals schon und viele Jahre später noch, als mein Gigolo-Leben bereits Hochkonjunktur hatte.

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Jedenfalls waren mein Opernsänger-Boyfriend und ich mehrmals zu einer Party in London eingeladen, bei der ausschließlich reiche Geschäftsmänner und junge Künstler und Künstlerinnen verkehrten – von SchauspielerInnen angefangen bis hin zu SängerInnen, Models, SchriftstellerInnen und eben auch TänzerInnen.

Auch spätere Stars waren anwesend, zum Beispiel eine bekannte Baywatch-Nixe (es war nicht Pamela Anderson!) und eine durchaus gebeutelte, wenn auch nicht untalentierte Jungschauspielerin. Die Gastgeberin war ein ehemaliges, stinkreiches Topmodel. Ich beobachtete erst mal. Mir war schnell klar, wie der Hase läuft: Die Geschäftsmänner angelten sich die jungen KünstlerInnen, waren entweder bereits in ihrer Begleitung hier oder lernten sie auf der Party erst kennen.

Manchmal war ein Pärchen wochenlang zusammen verschwunden und tauchte dann plötzlich wieder auf. Das Gastgeber-Topmodel – nennen wir sie einfach mal Linda – fand mich sympathisch, hübsch und stellte mich bald dem einen oder anderen Banker, Manager oder sonstigen Business-Typen vor (was diese Männer genau beruflich machten, hat mich eigentlich nie wirklich interessiert).

Wir lernten uns kennen, tauschten Kontaktdaten aus und wenn ich wollte, ging ich mit ihnen auch nachhause. Am besten kann man sich diese Partys als eine Art Partnerbörse vorstellen: Linda lud Geschäftsmänner im Alter zwischen 30 und 70 ein und stellte ihnen aufstrebende KünstlerInnen vor, die ihre Partys vor allem als Chance sahen, Kontakte zu knüpfen oder einen Fuß in die Karriere-Tür zu bekommen – und ja, sich auch einen luxuriösen Lebensstil finanzieren zu lassen.

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Es war ein offenes Geheimnis, welchen Zweck Lindas Partys erfüllen sollten. Offen gesprochen wurde darüber jedoch nie – auch nicht unter uns KünstlerInnen. Da war uns unsere Anonymität zu wichtig. Schließlich strebten wir alle eine Karriere in der Öffentlichkeit an. Ich hatte Glück, dass ich von Beginn an aufgrund meiner sehr offenen, humorvollen Art und meines türkischen Aussehens (ich war der klassische Twink, also sehr bubenhaft) wirklich beliebt bei den Geschäftsmännern war.

Linda gab mir nach einiger Zeit Tipps, welcher "Kunde" (ich nenne meine Männer eigentlich nur ungern so) auf welche Art von Typ stand. Ich weiß nicht, ob Linda für diese Partnervermittlung je Geld zu Gesicht bekam oder nicht – jedenfalls hat sie sich niemals eingemischt, was ich und meine "KollegInnen" machen sollten und was nicht oder ob Sex beim Kennenlernen inbegriffen war oder nicht.

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich wurde niemals einzig und allein für Sex bezahlt, bin keinem Mann nur für eine Nacht zur Verfügung gestanden. Ich bin auch nie mit einem Kunden eine Beziehung eingegangen, der mir nicht sympathisch war oder den ich unattraktiv fand.

"Manchmal war nur ein Wochenende, meistens aber mehrere Wochen oder Monate, und einmal habe ich sogar ein halbes Jahr mit einem Manager in seinem New Yorker Penthouse zusammengelebt."

In den insgesamt zehn Jahren, in denen ich mein Leben als Gigolo verbrachte, hatte ich ein Repertoire von insgesamt rund 20 Stammkunden aufgebaut – wobei es mir nach wie vor schwerfällt, hier zwischen privaten und geschäftlichen Beziehungen zu unterscheiden. Ich verbrachte jeweils eine bestimmte Zeit mit einem Kunden. Manchmal war nur ein Wochenende, meistens aber mehrere Wochen oder Monate, und einmal habe ich sogar ein halbes Jahr mit einem Manager in seinem New Yorker Penthouse zusammengelebt.

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Ich begleitete sie auf Geschäftsreisen, verbrachte mit ihnen ihren Urlaub im Ferienhaus am Strand oder war einfach Teil ihres Alltags. Manchmal hörte ich auch zwei Jahre nichts von einem Kunden, dann aber, wenn er sich wieder meldete, wohnte ich plötzlich wochenlang bei ihm. Das ungeschriebene Gesetz aller dieser Beziehungen: Sie waren meine Sugar Daddys und finanzierten mein Leben. Kleidung, CDs, Essen und jeder sonstige Luxus, natürlich die teuren Flüge – alles wurde von ihnen bezahlt.

Als Gegenleistung gab's meine Gesellschaft, was in den allermeisten Fällen auch Sex miteinschloss. Ich war unterwürfig, ohne wirklich unterwürfig zu sein: Ich hatte zu bestimmten Zeiten zuhause zu sein, sollte sie in Restaurants oder zu Events begleiten und mit ihnen das Bett teilen.

Manchmal gab es auch einen Tagesplan, wann ich wo zu sein hatte. Als Belohnung bekam ich auch schon mal ihre goldene Kreditkarte in die Hand mit den Worten: "Kauf dir, was du willst!" Ganz schlecht für die Kreditkarte, aber ein Traum für jeden Teenager. Ich lebte im Luxus, besuchte zum Beispiel die Metropolitan Opera, speiste in 4-Sterne-Hotels, ging stundenlang shoppen und bereiste vor allem die ganze Welt.

Meine Kunden, wenn man sie so benennen will, waren unter anderem in den USA, in Deutschland, England, Spanien und in Saudi-Arabien zuhause. Irgendwann war die Welt nur noch ein einzelnes großes Dorf für mich und man merkt schnell, dass sich jede Stadt auf der Welt im Grunde sehr ähnelt. Bargeld als Bezahlung im klassischen Sinn gab es nur in den seltensten Fällen.

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All diese Männer waren in mich verliebt und ich war es manchmal auch – das ist nur schwer zu sagen. Meine Kunden waren zwischen 30 und 60 Jahre alt (für mich damals beides uralt!) und ihnen ging es vor allem um eines: Gesellschaft. Sie trugen mich auf Händen, vergötterten mich, waren sehr fürsorglich und lasen mir jeden Wunsch von den Augen ab.

Ihnen gefiel es, mit mir stundenlange Gespräche zu führen und erfreuten sich an meinen strahlenden Augen, wenn sie mir einen tollen Abend spendierten. Mir gefiel es, der Besitz von ihnen zu sein, denn in Wirklichkeit – dessen war mir immer sehr bewusst – besaß ich die Macht und nicht sie. Ich wusste, welche Rolle ich zu spielen hatte – was jedoch nicht heißt, dass ich mich verstellen musste, denn diese Art von Leben und Beziehungen entsprach genau meinen damaligen Vorstellungen und meiner Lebensphilosophie.

"Ich führte ein Doppelleben. Und ich genoss es. Es war verrucht und aufregend und ein bisschen dreckig."

Ich habe mit diesen älteren Männern (Typen in meiner Altersgruppe haben mich nie interessiert) sehr bewusst meine Daddy Issues aufgearbeitet und mir das geholt, was ich von meinem wirklichen Vater nie bekam: Liebe, Zuneigung, Aufmerksamkeit, Fürsorge. Ob es ihnen klar war, dass ich mehrere Kunden parallel hatte, weiß ich nicht. Genauso wenig wusste ich über das sonstige Leben meiner Kunden Bescheid.

Mir war bekannt, dass manche von ihnen verheiratet waren und Kinder hatten. Aber es ging um das Hier und Jetzt, um das vollkommene Ausleben einer Fantasie. Ich hatte zudem zu dieser Zeit auch mehrere "private Beziehungen" – heißt: Beziehungen mit Männern, die ich außerhalb dieser Kreise und nicht auf Lindas Party kennenlernte. Mein Gigolo-Dasein hielt ich vor ihnen geheim, genauso wie vor meinen Freunden und vor allem meiner Familie. Ich führte ein Doppelleben. Und ich genoss es. Es war verrucht und aufregend und ein bisschen dreckig. Und ich hatte keinerlei finanzielle Sorgen.

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Mein Sexleben war dabei natürlich intensiv, allerdings hatten meine Kunden nie irgendeine Art von Perversion von mir verlangt – obwohl ich von meinen "Kolleginnen" auch ganz andere Geschichten gehört habe. Im Gegenteil. Ich als Person war ihre Fantasie schlechthin: Das Leben mit einem viel Jüngeren und die Vorstellung, ihn zu besitzen. Tatsächlich war ich es, der sexuell die Zügel in der Hand hatte und alles ausprobierte, was ich wollte: Das ging von Kerzenwachs und harmlosen SM-Spielchen bis hin zu Sex in der Öffentlichkeit. Den Männern gefiel meine Experimentierfreudigkeit, für mich wiederum war es sexuell eine sehr befreiende Zeit, denn ich wusste, dass ich niemals verurteilt wurde.

Besonders gut kann ich mich an ein arabisches Brüderpaar und Söhne eines Scheichs erinnern, denen es tatsächlich vor allem um Sex ging und die regelmäßig einen Dreier mit mir wollten. Dabei hat mich der eine Bruder gevögelt und der andere sah zu und wixte sich einen ab. Manchmal gingen auch beide gleichzeitig ran. Ich fand's geil und irgendwie auch süß, wenn sie danach stets ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie schwulen Sex hatten – in ihren Kreisen ein Tabu. Mit mir konnten sie ihre Gelüste aber ausleben.

Irgendwann war das Abenteuer dann für mich verflogen. Ich entwickelte mich weiter, wollte selbst über mich bestimmen und mich vor allem vollends meiner Tanzkarriere widmen. Ich entdeckte mehr und mehr meine dominante Ader, war nicht mehr das devote Bürschchen – zwar würde es auch dafür Kunden geben, aber das hat mich nie gereizt. Es war mir auch zu stressig, regelmäßig auf Lindas Partys zu erscheinen.

Vor allem aber kann so ein Gigolo-Leben ganz schön einsam sein. Oft wartest du einfach darauf, bis dein Mann von der Arbeit heimkommt – und das Geld mitbringt, das du dann ausgibst. Und nach all den Jahren war es für mich nicht mehr ausreichend, vor allem eine Fantasie von jemandem zu sein – denn da läuft man Gefahr, sehr schnell an Persönlichkeitssubstanz zu verlieren. Das einzige, das ich bezüglich dieser Zeit bereue, ist dass ich als Gigolo nicht meine Tanzkarriere finanziert habe. Bezahlt wurde mir schließlich alles, was ich wollte. Dafür war ich wohl zu wenig vorausschauend. Andererseits hätte ich dann das Gefühl gehabt, meine Männer auszunutzen.

Meine Gigolo-Erfahrungen haben mich noch selbstbewusster und offener gemacht. Sie hat meine Menschenkenntnis verbessert und mich vor allem gelehrt, was ich tun muss, damit mein Gegenüber sich wohl fühlt. Es fällt mir leicht, auf Leute einzugehen und schnell ihre Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen.

Es gibt wohl keinen Schwulen, den ich heute nicht um den Finger wickeln könnte – und meinem Gaydar haben meine Gigolo-Jahre auch nicht geschadet. Aber zugegeben: Es fällt mir bis heute irrsinnig schwer, treu zu sein. Treue ist für mich eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Sex ist für mich in einer zwischenmenschlichen Beziehung etwas Normales, weshalb ich auch den einen oder anderen "Friend with Benifits" habe.

Meine Philosophie: Sex hat man, wenn man sich näherkommt – und erst durch Sex kommt man sich wirklich nahe. Allerdings habe ich meinem aktuellen Freund gegenüber vor allem dann Schuldgefühle, wenn ich Sex mit jemandem habe, bei dem keine Gefühle irgendwelcher Art im Spiel sind. Ich habe nie gelernt, dass Sex und Gefühle trennbar sind – auch als Gigolo nicht. Weshalb ich bis heute immer wieder Affären habe.

Über Männer – egal ob schwul oder hetero – habe ich gelernt, dass sie sehr simpel gestrickt, sehr unkompliziert und einfach zu handhaben sind. Das empfinde ich als sehr angenehm. Es ist mir egal, ob mein Partner eine dicke Geldbörse hat oder nicht. Den Luxus von damals vermisse ich nicht. Ich erwarte mir aber, dass er mich als mitunter mittellosen Künstler in seinem Rahmen finanziell unterstützt. Das ist für mich ein Ding der Selbstverständlichkeit. Es ist mir wichtig, dass man für mich sorgt – ob Gigolo oder nicht.

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