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GAMES

Ich habe meinen videospielsüchtigen Freund in einem Online-Game gesucht

Zuvor hatte ich meinen ehemaligen besten Freund zwei Jahre lang nicht mehr gesehen.
Screenshot/Collage vom Autor

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Ich bin Gamer, doch das öffentlich zuzugeben fällt mir irgendwie immer noch schwer. Ich wuchs in einer Prä-Big Bang Theory-Ära auf—einer Zeit bevor Nerds für die breite Masse salonfähig gemacht wurden. Ich bin ein passionierter Verfechter der kunterbunten Pixel-Welten und genau darum fällt es mir wohl so schwer, mir einzugestehen: Die geliebte digitale Welt hat mir meinen besten Freund Nils genommen.

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General Nils hat sich mit seiner Tastatur im Schlepptau auf den Schlachtfeldern von StarCraft, Counter-Strike und DayZ selbst verloren. Deshalb habe ich das getan, was jeder gute Freund tun würde. Ich habe mich in die Games-Welt aufgemacht, um ihn zu retten.

Bevor Nils der Sucht verfiel, war er einfach ein liebenswerter Nerd. Zwar ein durch und durch echter Gamer, doch Hobby blieb Hobby und die Realität hatte stets Vorrang. Unsere gemeinsame Leidenschaft fürs Zocken verband uns von klein auf. Vor dem TV sitzend, sprangen wir mit Klempner Mario von Level zu Level, fuhren die besten Rundenzeiten in Gran Turismo oder besiegten die mächtigsten Bossgegner in Metal Gear Solid. Games waren unser gemeinsames Refugium. Ein Moment, um den Kopf durchzulüften und den Ernst des Seins hinter sich zu lassen. Anfang 20 zogen wir als beste Freunde in eine gemeinsame WG.

Ich kann nicht genau sagen, wann seine Abhängigkeit tatsächlich begann—doch plötzlich gehörte sie zum Alltag. Ich bezweifle, dass es einen alles entscheidenden Zeitpunkt gab, an dem er süchtig wurde. So funktioniert das im echten Leben nicht. Er baute unseren Zufluchtsort zu seinem eigenen Kosmos aus. Nach der Arbeit schaltete er den Computer ein und stopfte vor dem Bildschirm irgendwelchen Fast Food in sich hinein, damit er keine Zeit fürs Kochen aufwenden musste. Bis vier Uhr morgens sass er jeweils da, liess seine Hände über die Tastatur fliegen. Nach zwei Stunden Schlaf kämpfe er sich mit blutunterlaufenen Augen zur Arbeit. Selbst seine Eltern konnten nicht mehr zu ihm durchdringen. Seine Mutter brach regelmässig in Tränen aus, wenn wir das Gespräch mit ihm suchten.

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Schliesslich kam es soweit: Als ich von einem Urlaub nach Hause kam, war Nils weg. In einem Telefongespräch teilte er mir seine neue Adresse mit und das war's. Seit zwei Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen.

Screenshot vom Autor

Unsere WhatsApp-Konversationen sind seither ziemlich einseitig: „Hey Nils, wie geht's dir? Wollen wir uns treffen?" Einige Tage später sendete ich dieselben Fragen in anderen Variation. Und nochmal. Und nochmal. Doch Antwort kam keine. Dem Rest seiner Freunde geht es nicht anders.

Dennoch liess ich mich nicht entmutigen. Er wollte in der echten Welt nicht gefunden werden? Kein Problem, dann würde ich ihn in seinem neuen virtuellen Zuhause besuchen kommen. Das Problem: Nils ist ein digitaler Mensch, der einen Dreck auf Social-Media gibt. Kein Handy-Kontakt oder E-Mail-Adresse. Kein Facebook, Instagram oder Twitter. Dafür erinnerte ich mich an unser altes Lieblingsspiel. Auf dem Laptop startete ich StarCraft.

Auf den Schlachtfeldern des Strategie-Klassikers hatten wir über hunderte Stunden hinweg unsere Soldaten gegen Spieler aus der ganzen Welt in den Krieg geführt. Kaum hatte ich das Spiel aber aufgestartet (und zugegebenermassen zwei, drei Runden gezockt) bemerkte ich: Keine Aktivitäten, seit 157 Tagen war Nils nicht mehr online gewesen. Er musste ein neues Spiel haben.

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Einige Tage später erhielt ich aus einem uralten WhatsApp-Chat eine Nachricht von einem alten Kumpel: „Du findest ihn in DayZ. Er hat dort einen eigenen Server mit seinem alten Profilnamen." Zwei Stunden Installationszeit brauchte das Game, dann hatte ich ihn gefunden, zumindest einen Server der nach Nils altem Gamertag „RePlayerOne" benannt worden war. Ich klickte auf „Spiel Starten".

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Aus diversen Magazinen und Let's Plays wusste ich, was mich in DayZ erwarten würde: Der schnelle Tod für Noobs. Ich wachte an einem verlassenen Strand auf. Mein Charakter hatte Hunger und Durst. In der Nähe erblickte ich ein kleines Dorf und steuerte automatisch darauf zu.

„Stehen bleiben!"—Ein bis auf die Zähne bewaffneter Soldat kam aus dem Gebüsch neben mir gekrochen und richtete den Lauf seines Gewehrs direkt auf mich. „Leg dich auf den Boden! Bist du allein?", fragte mich der maskierte Unbekannte, während ich nervös im Menü nach der Sprachbefehltaste suchte.

Ich hämmerte auf die „Alt"-Taste und schrie ins Mikro: „Bitte erschiess mich nicht! Ich bin neu!" Er kam ein paar Schritte auf mich zu und warf etwas Verpflegung und ein verrostetes Brecheisen auf den Boden. „Hier nimm das. Das sollte für den Anfang reichen." Ich öffnete mein Inventar und nahm alles dankbar entgegen. Ich solle ihm folgen, er würde mich an einen sicheren Ort bringen.

Ich lief meinem neuen Freund bereits über eine Stunde hinterher. Nach einer Stunde, während der er kommentarlos einen Zombie nach dem anderen platt machte, poppte plötzlich eine Textnachricht von „Freedom_Angel01" auf meinem Bildschirm auf: „Hey, du bist ja auch mal wieder online? Soll ich zu dir ins Spiel kommen?" Ein anderer alter Kumpel von mir. Wir verabreden uns auf Nils Server. Ich solle dem Unbekannten nicht trauen.

Und er hatte recht: Kurz vor einer Stadt namens Cherno traf ich die Freunde des wortkargen Soldaten und diese waren weniger höflich, fesselten und zwangsfütterten mich mit verdorbenen Früchten. Ich schrieb an „Freedom_Angel01": „Ich bin kurz vor Cherno. Ich brauche Hilfe." Seine Antwort fiel kurz aus: „Wir kommen!"

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Gefesselt, auf dem Boden sitzend und von einer Gruppe offensichtlich wahnsinniger Spieler umgeben, musste ich zusehen wie mein virtuelles Ich langsam vor sich hin krepierte. Ich zuckte unvorbereitet zusammen, als wie aus dem nichts fünf Schüsse zu hören waren. Meine Kidnapper sackten allesamt zu Boden. Dann hörte ich Nils Stimme: „Checkt, ob sie wirklich tot sind und helft „JimmyOnEarth!" (Das war ich.)

Es war das Normalste auf der Welt, dass Nils mich brüderlich begrüsste und umgehend komplett verarztete. Er musste zig Stunden für diese Gegenstände gespielt haben, legte sie mir dennoch hilfsbereit ins Inventar. Und ich, ich brachte nicht mehr als ein verdutztes „Hey Nils, was gibt's?" zustande. Wir zockten noch die ganze Nacht hindurch, als ob nie etwas gewesen wäre.

Wir unterhielten uns über Gott und die Welt, so wie früher. Doch mit keinem Wort erwähnte er seinen Job, unsere Freunde oder meine vergebenen Versuche ihn zu erreichen. Das Ganze ist inzwischen einige Tage her und ich habe Nils zwei SMS geschickt—so wie immer. Er hat nicht geantwortet—so wie immer.

Auch wenn unsere Begegnung nur in der digitalen Welt stattfand, war ich froh, ihn gefunden zu haben. Er lebte und war wohlauf, der Rest musste vorerst warten. Ich kenne nun sein (vorerst) aktuelles Gamer-Profil und werde ihn zumindest online wieder finden können. Ein erster Schritt.

Game-Abhängigkeit ist hierzulande im kollektiven Bewusstsein kein grosses Thema. Natürlich wird nicht jeder Kiffer zum Drogenjunkie und gleichermassen nicht jeder Gamer zum Süchtigen. Ein gewisses Risiko-Potential besteht dennoch und es wäre klug, wenn sich unsere Affinität dem Thema gegenüber steigern würde. Darum habe ich hier so offen vom Schicksal meines verlorenen Freundes erzählt.

Weitere Informationen zum Thema gibt es hier und hier. Einen Selbsttest zu eurer Spielsucht-Gefährdung könnt ihr hier machen.

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