​Ich habe einen Tag am Wiener Landesgericht verbracht

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​Ich habe einen Tag am Wiener Landesgericht verbracht

Als der Sicherheitsbeamte mir zurief: „Was wollen Sie denn sehen? Körperverletzung? Oder versuchten Mord? Da hätt ma heute gleich zwei." wusste ich, dass das ein intensiver Tag werden würde.

Gerichtsverhandlungen sind in Österreich für alle Bürger zugänglich. Insofern der Richter die Öffentlichkeit nicht aus besonderen Gründen ausgeschlossen hat, kann jeder von uns zu jeder x-beliebigen Zeit in einen Gerichtssaal hineinspazieren und sich jeden Prozess zu jedem noch so schweren Verbrechen mit eigenen Augen ansehen. Das ist eine Tatsache, der sich viele Leute hierzulande gar nicht bewusst sind. Bis heute hatte auch ich in meinen 23 Lebensjahren noch nie von diesem Recht Gebrauch gemacht. Tatsächlich habe ich noch nie einen Gerichtssaal von innen gesehen—weder als Zuseher, noch als Zeuge, geschweige denn als Angeklagter. So blöd das klingt, aber mein Bild von Gerichtsverhandlungen ist vermutlich vor allem von Hollywoodfilmen und Richterin Barbara Salesch geprägt, die ich mir als Kind gern mal nach der Schule angeschaut habe.

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Das wollte ich ändern. Ich habe also den Tag am Wiener Landesgericht verbracht und mir Gerichtsverhandlungen angesehen. Welche, weiß ich noch nicht, als ich dort morgens ankomme. Aber das ist auch gut so, denn ich will einfach einmal den Justiz-Alltag miterleben. Ganz einfach, weil ich, wie viele Leute, gar kein Bild davon habe, welche Strafsachen an einem durchschnittliche Tag tatsächlich verhandelt werden. Ich weiß nur, dass ich mich vermutlich auf eine Realitätswatschn in irgendeiner Form einstellen muss.

"Wollen Sie was Bestimmtes sehen? Körperverletzung? Oder versuchten Mord? Da hätten wir heute zwei."

Das Wiener Landesgericht ist das größte Österreichs. Hier arbeiten insgesamt 230 Menschen. In 28 Gerichtssälen werden dabei täglich im Schnitt 45 Gerichtsverhandlungen abgewickelt. Soviel hatte ich nach kurzer Nachfrage beim Präsidium erfahren, aber ungefähr da hört mein Informationsstand auf, als ich morgens zu den Eingangsschleusen des Landesgerichts im 8. Bezirk spaziere. Ich erkläre dem Sicherheitsbeamten am Eingang, dass ich von den Medien bin und einfach einen Tag lang Gerichtsverhandlungen sehen will. Ich muss ganz flughafenmäßig meine Taschen entleeren und durch den Metalldetektor gehen.

Im Eingangsbereich hängt eine Liste, auf der steht, wann welche Gerichtsverhandlung in welchem Saal beginnt. Ich blättere sie durch, stelle aber schnell fest, dass sie mir nicht wirklich weiterhelfen wird, weil die Anklagepunkte lediglich in Paragraphen angegeben sind und ich kein Jurist bin, der daraus schlau werden könnte. Da ruft mir der Sicherheitsbeamte, mit dem ich zuvor gesprochen hatte, zu: „Wollen'S irgendwas Bestimmtes sehen? Körperverletzung? Oder vielleicht versuchten Mord? Da hätte ma heute zwei. Einen um 09:15 Uhr und einen um 11:30 Uhr."

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Boy, that escalated quickly. Nachdem ich mich im Vorhinein bewusst nicht informiert hatte, welche Verhandlungen am heutigen Tag so anstehen, hätte ich damit gerechnet, dass ich mich wohl zwischen Ladendiebstählen und Mopedtuning-Delikten wiederfinden würde. Aber wenn schon, denn schon—natürlich will ich die versuchten Morde sehen. Ich suche also nach Saal 311, in dem der erste versuchte Mord des Tages verhandelt wird, fahre mit dem Lift in den dritten Stock und laufe leicht orientierungslos durch die verwinkelten Gänge. Vormittags ist hier anscheinend Hochbetrieb, viele Leute sitzen vor den Sälen und warten offensichtlich darauf, als Zeugen aufgerufen zu werden. Vor der Tür eines Gerichtssaals stehen zwei große Männer in Zivilkleidung, die aber Polizeimarken und Handfeuerwaffen an ihren Gürteln tragen. Auf dem in die Hose gesteckten T-Shirt von einem der beiden steht: „I don't need your attitude, I got my own." Zumindest optisch unterscheidet sich mein erster Eindruck gar nicht so sehr von dem aus einem Hollywood-Film.

Offiziell hat die Verhandlung schon vor 15 Minuten begonnen, als ich den Gerichtssaal 311 finde. Ich muss mich ziemlich überwinden, den Raum zu betreten. Es ist ein seltsames Gefühl, in eine bereits laufende Gerichtsverhandlung hineinzuspazieren, als wäre es das normalste auf der Welt. Aber zu meiner Verblüffung scheint es keinen der Menschen in dem Raum wirklich zu irritieren, als ich die Türe öffne. Und es sind ziemlich viele Menschen in dem Raum: So gut wie alle Plätze in Gerichtssaal sind besetzt. Viele jungle Leute sitzen auf den Publikumsplätzen—ich vermute, dass sie Jus-Studenten sind.

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Die Verhandlung ist schon voll im Laufen. Der Gerichtsmediziner wird gerade von Richter einvernommen. Es geht um DNA auf dem Griff von einem Klappmesser, um fehlende Fingerabdrücke auf einer Waffen-Attrappe, die neben einer Blutlache gefunden wurde, und um Pfefferspray. Irgendwie bin ich erstaunt: In den ersten Minuten ist hier eigentlich alles verblüffend ähnlich wie in einer Reality-TV-Gerichtsshow. Der Richter versucht sogar, ähnlich locker und charismatisch durch die Verhandlung zu führen, wie seiner Zeit ein Alexander Hold.

Was die Szenerie dann aber deutlich von einer Pseudo-Reality-Show unterscheidet, sind die versteinerten Gesichter der Zeugen und des Täters, die ziemlich klar ausstrahlen, wie massiv unwohl sie sich fühlen. Auf dem Platz in der Mitte, direkt vor dem Richter sitzt ein Mann, der eine Aussage machen soll. Der vermeintliche Täter, ein glatzköpfiger Mann, vielleicht um die 30, trägt Hemd und sitzt auf der Bank links daneben. Es dauert ein wenig, bis ich es schaffe, mir zusammenzureimen, was ihm vorgeworfen wird.

Der Angeklagte war von einer Frau, nachdem er sie angeblich bereits längere Zeit belästigt und immer wieder an ihrer Wohnungstüre geläutet hatte, vor seiner eigenen Wohnung konfrontiert worden. Mit der Frau mitgekommen waren deren Freund und der Mann, der nun als Zeuge aussagen soll. Als sie an der Wohnungstüre klopften, wurden die drei vom Angeklagten mit einem Klappmesser erwartet. Der Angeklagte jagte die Frau und ihren Freund durch das Stiegenhaus hinaus auf die Straße, und schnitt der Frau dabei den Hals auf, bevor er bei einem Freund oder Bekannten aufs Motorrad sprang, und davonfuhr. Klingt zunächst nach einer ziemlich eindeutigen Sache—hätten der Freund des Opfers und der dritte Mann nicht selbst ein 20 cm langes Küchenmesser, Pfefferspray und eine Pistolen-Attrappe dabei gehabt, die danach am Tatort von der Polizei sichergestellt wurden.

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Der besagte dritte Mann, der ganz offensichtlich so etwas wie der Kronzeuge ist, stammt aus Gambia, weshalb eine Englisch-Dolmetscherin zum Einsatz kommt, deren Englisch aber selbst nicht allzu flüssig wirkt. Zudem klingt der Mann nicht, als ob Englisch überhaupt seine Muttersprache wäre. Eine geschlagene Dreiviertelstunde wird der Mann zu jedem noch so kleinen Detail der paar Minuten verhört, in denen sich die Tat abgespielt hat. Es kommt zu so vielen banalen Übersetzungsschwierigkeiten, teilweise müssen Leute im Publikum schon verlegen lachen und den Kopf schütteln, weil sich das Hin und Her aus Deutsch und eher schlechtem Englisch so kompliziert gestaltet. Zu meinem Erstaunen wird der Zeuge aus Gambia nach seiner Aussage selbst in Handschellen aus dem Raum geführt. Der Mann neben mir wirkt weniger interessiert, er löst Kreuzworträtsel in einer Tageszeitung.

All das ist fesselnder als jeder Kinofilm, aber es macht keinen Spaß, es mitzuverfolgen. Es löst viel eher sehr starkes Unbehagen aus. Der Gerichtsarzt erzählt von den posttraumatischen Belastungsstörungen, unter denen das Opfer, das gar nicht anwesend ist, seit der Attacke leidet, und den Psychopharmaka, die sie seither nehmen muss. Nach über einer Stunde im Saal beschließe ich, den Raum zu verlassen, denn der nächste versuchte Mord ist ja mit Sicherheit nicht weniger spannend. Ich gehe wieder zum Eingangsbereich, um nachzusehen, wo der nächste Fall verhandelt wird. Eine Truppe Polizisten mit Maschinengewehren verabschiedet sich gerade freundlich von einer Frau des Wachpersonals und spaziert Richtung Ausgang, als wäre sie auf dem Weg in die Pause.

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Saal 103, in dem der zweite versuchte Mord des Tages verhandelt wird, ist nicht schwer zu finden. Vor dem Saal ist die Hölle los. Dutzende Menschen stehen vor der Eingangstüre, Jus-Studenten, Fotografen, eine Fernsehkamera. Ich unterhalte mich kurz mit den Journalisten, die dort sind. Sie sind zum Großteil von den großen Boulevard-Zeitungen. Einer fragt mich, für wen ich hier bin. „VICE" sage ich ihm. „Ah, VICE ist super, wir stehlen immer eure Geschichten!" Gern geschehen. Die Tür zum Gerichtssaal geht auf, ich setze mich in die vordere Reihe, die für Journalisten reserviert ist, aber komme mir phänomenal fehl am Platz vor, weil ich ja immer noch nicht weiß, worum es hier gleich gehen wird. Ich rede kurz mit einem Jus-Studenten hinter mir und frage ihn, worauf ich mich ungefähr einstellen müsse. Er sieht mich mit großen Augen an. „Du bist nur zufällig hier? Dann hast du auf jeden Fall zufällig einen argen Fall erwischt."

Nun kommen die Geschworenen in den Raum und legen Eid ab. Kurz darauf wird der Angeklagte—ein Bursche mit starrem Blick, vielleicht 20 Jahre, unter Blitzlichtgewitter hereingeführt. Bei der vorigen Verhandlung hatten vor allem die Opfer und der Täter todernste Gesichter aufgelegt, jetzt sind es so ziemlich alle im Raum—der Staatsanwalt, die Richterin, der Amtsarzt. Niemand hier scheint das, was nun verhandelt werden wird, so wirklich locker wegstecken zu können. „Sie wissen ja weshalb Sie hier sind", meint die Richterin zum Angeklagten. Der Angeklagte antwortet auf ihre Fragen, aber ganz leise und apathisch. Auch ich werde jetzt endlich aufgeklärt, worum es hier geht.

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Dem jungen Mann wird vorgeworfen, versucht zu haben, seine Großmutter zu erstechen—zum wiederholten Male. Im Februar wacht er in der Floridsdorfer Wohnung seiner Oma auf, bei der er lebt, und sagt zu seiner Freundin „Schatzi, ich hab schon wieder Mordgedanken". Dann geht er in die Küche, wo seine Oma gerade Zeitung liest, nimmt ein Küchenmesser aus der Schublade und rammt es ihr so in den Rücken, dass die Klinge abbricht und stecken bleibt. Die Großmutter schafft es im Schock, die Rettung zu rufen und überlebt.

Auch wenn die Schilderungen im ersten Augenblick nach dem Plot von einem Psychothriller klingen, ist die ganze Verhandlung und die Biografie des angeklagten Burschen einfach nur tieftraurig. Denn der Täter leidet an schwerer Schizophrenie. Der Staatsanwalt erklärt kurz die Lebensgeschichte des Angeklagten: Seine Eltern waren beide schwer drogenabhängig, die Mutter konsumiert die ganze Schwangerschaft hindurch, schon als Embryo wird sein Hirn dadurch geschädigt. Der Baby kommt drogensüchtig zur Welt und muss direkt nach der Geburt einen Entzug durchmachen. Der Angeklagte wächst bei seiner Großmutter auf. Es dauert nur 13 Jahre ist, bis er selbst beginnt, Drogen zu nehmen—laut dem Amtsarzt lässt er keine Substanz aus, die man am Markt so bekommt, wird mit 15 zum ersten Mal wegen Raub verurteilt. Mit 17 sticht er erstmals, nach einem Konflikt, auf seine Mutter und seine Großmutter ein. Und zwar 17 Mal. Doch beim damaligen Gerichtsverfahren wird seine Schizophrenie nicht erkannt—er wird als zurechnungsfähig eingestuft und kommt nach dem Verbüßen einer Haftstrafe wieder auf freien Fuß. Obwohl die Ärzte ihr ganz klar davon abraten, holt die Großmutter ihn wieder zu sich nach Hause. Bis er sie im Februar zu zweiten Mal zu töten versucht.

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Ginge es nicht darum, einen Artikel zu schreiben, würde ich jetzt vor Unbehagen den Raum verlassen. Großmutter und Mutter des Angeklagten sollen aussagen. Beide scheinen keinen Groll gegen ihren Sohn beziehungsweise Enkelsohn zu hegen, machen aber als Verwandte von ihrem Aussagenverweigerungsrecht gebraucht. Die Großmutter setzt sich ins Publikum und beginnt zu weinen. Der Staatsanwalt wendet sich ziemlich direkt an die Medien und betont, dass es sich hier eben ganz sicher nicht um ein Monster, oder einen geborenen Verbrecher handelt. Der medizinische Experte erklärt die Schäden, die er in der Schwangerschaft davongetragen hat, erschweren die Behandlung der Krankheit aber massiv. Bei diesem Fall wurde öffentlich schon einkalkuliert, dass sich die Gazetten darauf stürzen würden.

Die ganze Entscheidungsfindung ist eine relativ klare Sache. Die Geschworenen entscheiden letztendlich, dass der Angeklagte in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher muss. Wie lange er dort bleiben müssen wird, kann auch der Amtsarzt nicht genau sagen. Es werden wohl viele Jahre sein.

Ich verlasse den Saal noch, bevor die Verhandlung beendet wird. Mir wird langsam aber sicher bewusst, dass ich heute wohl keinen besonders durchschnittlichen Tag hier erwischt habe. Wenn doch, ist der Alltag an österreichischen Gerichten definitiv nicht das, was ich mir erwartet hätte. Obwohl sich meine Lust darauf nach dem gerade Erlebten wirklich in Grenzen hält, beschließe ich, mich noch auf gut Glück in eine dritte Verhandlung zu setzen.

In dem kleinen Saal, für den ich mich entschieden habe, ist kein einziger Zuseher. Es dauert nicht lange, bis ich herausfinde, was verhandelt wird: Es geht um zwei Handys, die schlafenden Leuten in der U-Bahn aus den Hosentaschen gestohlen wurden. Der Angeklagte, der auch nicht aussieht, als wäre er wesentlich älter als 20, kommt aus Tunesien, schaut beinahe permanent wie ein geprügelter Hund auf den Boden und murmelt seine Aussagen so leise vor sich hin, dass man sie vermutlich auch mit guten Arabisch-Kenntnissen nur schwer verstehen würde. Ich kann gar nicht anders als Mitleid mit dem Kerl zu bekommen.

Der Zivilpolizist, der ihn erwischt hat, erklärt der Richterin auf die Frage hin, wie er auf den Angeklagten und seinen Komplizen aufmerksam geworden ist, dass es ja im Grunde zwei Hauptgruppen von Leuten gibt, die solche Diebstähle begehen—einerseits die arabischer Herkunft, und andererseits die aus Bulgarien und Rumänien, Leute von „Wandervolk-Herkunft". Mir dreht sich ein bisschen der Magen um. Der Arabisch-Dolmetscher—ein Mann, der aussieht, als könnte er bereits im Pensionsalter sein—scheint sich nicht umbedingt leichter zu tun, als die Englisch-Dolmetscherin in der ersten Verhandlung. Der Angeklagte ist vorbestraft. Er hat zuvor Gras verkauft und stammt anscheinend aus sehr schlechten finanziellen Verhältnissen. Zugute gehalten wird ihm, dass er mehrmals betont, wie leid ihm die Tat tut, und dass die Handys wieder sichergestellt werden konnten. 10 Monate Haft bekommt er als Strafe.

Ich bin heilfroh, als die Verhandlung beendet wird und ich den Saal verlassen kann. Ich hatte bei Gott nicht erwartet, dass ein paar Stunden im Wiener Landesgericht so spannend, aber vor allem so unbehaglich und deprimierend sein könnten. Klar, auf einem Gericht geht es selten um Plüsch und Eierkuchen, aber ich hatte mir den Einblick in die österreichische (Justiz-)Seele trotzdem weniger … intensiv vorgestellt. Es ist erst früher Nachmittag, als ich das Gerichtsgebäude verlasse, aber die Verhandlungen des Tages sind alle abgewickelt. Mir kommt es vor, als hätte ich eine knappe Woche dort drinnen verbracht. Draußen scheint die Sonne, es ist der bisher heißeste Tag des Jahres. Ich bin ziemlich glücklich, dass ich nicht mehr in einem Gerichtssaal sitzen muss.

Tori auf Twitter: @TorisNest