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Kranker Scheiss aus dem Leben von männlichen Balletttänzern

Vor Publikum lächelst du und bist die glücklichste Person auf Erden. Doch wenn der Vorhang fällt, musst du deine Ellenbogen ausfahren.
Foto: Sascha Britsko

Nachdem uns bereits Nachlieferanten, Tätowierer und Tankstellenmitarbeiter ihre skurrilsten Geschichten offenbart haben, wollten wir nun wissen, ob das Leben als Balletttänzer wirklich so hart ist, wie man es sich vorstellt.

Oleksandr und Sergiy sind zwei ukrainische Balletttänzer, die es bis ganz nach oben geschafft haben: Sie tanzten bereits in Kiev, Helsinki und zuletzt in Paris. So anmutig und wunderschön Ballett auf der Bühne auch aussieht, so heuchlerisch und hinterlistig geht es hinter den Kulissen zu und her. Ich durfte bei einer Ballettstunde der ukrainischen Zwillingsbrüder dabei sein und mir anschliessend die schrägsten Geschichten anhören, die sie während ihrer Laufbahn als männliche Ballerinas erlebt haben:

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Wir lieben das Ballett. Seit dem siebten Lebensjahr ist Ballett unser Leben. Ein Schauspieler kann reden. Aber alles, was ein Schauspieler sagt, können wir dem Publikum mit unseren Bewegungen mitteilen. Und dieses Gefühl ist unbeschreiblich.

Nichts ist unmöglich

Wenn man auf einem so hohen Level tanzt, gibt es nichts, was für deinen Vorgesetzten unmöglich scheint. Unser Chef liebte zum Beispiel akrobatische Kunststücke. Da man sich als Tänzer jährlich von Vertrag zu Vertrag arbeitet, wächst man auch schonmal über den Beruf des Tänzers hinaus.

Einmal hatten wir ein Vortanzen für die Hauptrolle im kommenden Theaterstück. Eine der Kandidatinnen landete nach einem Sprung falsch, verdrehte sich das Bein und fiel mit voller Wucht auf den Boden. Danach musste die Ballerina den Saal verlassen. Wir haben sie nie wieder gesehen. Die Rolle hat sie—wie ihr euch vielleicht schon denken könnt—nicht bekommen.

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Vom Spaghetti-Verbot bis zur Bulimie

Als Mann hast du es im Ballett-Business sehr viel leichter. Nur schon der Konkurrenzkampf ist halb so gross wie bei den Frauen. Der entscheidende Vorteil ist natürlich, dass es deutlich weniger männliche Balletttänzer gibt. Dementsprechend müssen sich Frauen gegen eine quantitativ grössere Konkurrenz durchsetzen können. Viele Frauen können aber dem in dieser Welt herrschenden Druck nur schlecht standhalten. Das Bild der magersüchtigen Balletttänzerin ist deswegen nicht nur ein Gerücht, sondern die traurige Wahrheit.

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Vor allem festere Frauen haben es in diesem Business sehr schwer und verfallen eher der Bulimie. Aber auch wir Männer müssen streng auf unsere Ernährung achten. Das bedeutet einen strikten Ernährungsplan: Pizza, Pasta, Brot oder Süssigkeiten waren uns ein gefühltes Leben lang tabu. Es gab zwar nie irgendwelche „Essensvorschriften" aber wer sichtlich zunahm, dem wurde der Vertrag nicht verlängert. Unser Chef machte diesbezüglich klare Ansagen: „Wenn du bis nächste Woche nicht abgenommen hast, bist du draussen."

Wer braucht schon Zehen?

Als Tänzer musst du sehr viel aushalten können. Du musst physisch aber auch psychisch fähig sein, Rückschläge zu verkraften. Dabei ist der psychische Druck um einiges grösser als der physische. Es gab viele Momente, in denen wir dachten, dass es nicht mehr geht. Die Konkurrenz war gross aber der Wille mitzuhalten war noch grösser. Vor Publikum lächelst du dann jeweils und bist die glücklichste Person auf Erden. Doch wenn der Vorhang fällt, musst du deine Ellbogen ausfahren.

Jeder, der den Film Black Swan gesehen hat, kennt wahrscheinlich die Szene, in der Natalie Portman unter Qualen die Hauptrolle im Stück Schwanensee tanzt. So ist das aber ganz und gar nicht. Balletttänzerinnen sind in der Regel glückliche Menschen. Es gibt für sie nichts Schöneres, als die Hauptrolle zu bekommen, auch wenn sie sich dafür sämtliche Zehen brechen müssen.

Einmal hatten wir eine Unterrichtsstunde in klassischem Tanz. Nach einem Sprung landete ein Tänzer falsch und brach sich dabei den grossen Zeh. Der Zeh zeigte danach nach aussen statt wie gewohnt nach vorne. Der Typ musste dann gehen und kam nie wieder.

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Auf Kortison tanzen

Wenn man Schmerzen an den Füssen hat, kann man das Tanzen überhaupt nicht geniessen. Es gibt aber einige Möglichkeiten es sich ein wenig zu „erleichtern". Frauen beispielweise legen Silikoneinlagen in ihre Spitzenschuhe, um einen weicheren Boden zu haben. Es gibt aber auch effektivere Methoden. Eine Voltaren-Tablette zum Beispiel lässt deine Schmerzen für gute zwei Stunden verschwinden, genug Zeit um ein Stück aufzuführen oder bei einem Vortanzen zu überzeugen.

Auf Schmerzmittel zu tanzen ist in unserer Brache mehr als üblich. Wir hatten mal eine asiatische Tänzerin, die sich den Fussknöchel und das Handgelenk verstaucht hatte. Um weitertanzen zu können, spritzte sie sich regelmässig das Betäubungsmittel Kortison in die betroffenen Stellen. Niemand hat gemerkt, dass sie „auf Spritzen tanzte", aber schlussendlich wurde ihr Vertrag trotzdem nicht verlängert.

Von Lieblingen und Affären

Wir alle machen beim Tanzen Fehler. Aber nicht jedem werden die Fehler gleich angerechnet. Der eine wird für einen Sturz entlassen, der andere bekommt nur einen bösen Blick. Der Chef hat eben seine Lieblinge und das ist ganz normal. Es gibt schliesslich auch in unseren Leben Menschen, die wir mehr und solche, die wir weniger sympathisch finden. In unserer Heimat, also in der Ukraine und in Russland, ist es so, dass derjenige der Liebling des Chefs wurde und dementsprechend die wichtigeren Rollen bekam, der mit ihm ins Bett stieg.

Solche vorübergehenden „Affärchen" sind ausserhalb von Europa in diesem Business keine Seltenheit. Natürlich kommt man auch ans Ziel, wenn man seine Beine nicht spreizt, aber es hilft. Macht dir der Chef schöne Augen und du weist ihn ab, kannst du dich mit Sicherheit auf Rache gefasst machen. In Kiev hat die Hauptbesetzung einmal unserem Vorgesetzten einen Tag vor der Premiere einen Korb gegeben. Nun, sagen wir's mal so: Bei der Premiere war er nicht mehr die Hauptbesetzung. In Europa sind die Leute aber viel zivilisierter und deswegen passiert das hier sehr selten.

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Das grüne Spektakel

Das grüne Spektakel ist eine alte Tradition im Ballett, die die allerletzte Aufführung eines Theaterstücks betrifft. Sie wird vor allem ausserhalb der europäischen Union praktiziert, da dort die Regelungen nicht so streng sind. Dabei überlegen sich die Tänzer des Stücks irgendwelche Fehler, die sie in die Show einbauen. Einmal tanzten wir die letzte Aufführung von Schwanensee. Laut der Geschichte wird der Prinz ausgetrickst und tanzt auf dem Ball mit dem schwarzen Schwan. Der weisse Schwan schaut durchs Fenster und fängt an dagegen zu schlagen, um den Prinzen zu warnen. Normalerweise spielen zwei identisch aussehende Tänzerinnen diesen Part.

Bei diesem grünen Spektakel übernahm ein muskulöser Typ in einem weissen Karton diese Rolle und hämmerte mit Ballettschuhen gegen das Bühnenfenster. Alle mussten so sehr lachen, dass ihnen die Tränen kamen. Das Stück haben wir aber trotzdem ohne mit der Wimper zu zucken fertig getanzt. Ein anderes Mal tanzte die Solistin völlig falsche Schritte, die überhaupt nicht zur Musik passten.

Das Publikum kriegt von all dem in der Regel nichts mit, da nur die Tänzer den richtigen Ablauf kennen. Offiziell ist das natürlich strikt untersagt, aber auch die Direktion muss ab und zu schmunzeln.

Sascha tanzt zwar kein Ballett, ist aber auf Twitter: @saschulius

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