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Wie DHL versucht, Versandbetrug unter den Teppich zu kehren

Paketboten von DHL Express liefern in bestimmte Ecken in Berlin-Wedding keine Pakete mehr. Medien sprechen von "No-Go-Areas". In Wahrheit steckt mehr dahinter.
Foto: imago | STTP

Foto: imago | STTP

"Kampfzone Wedding": So steigt der Berliner Kurier in seinen Text ein. Ein Paketbote beschreibt darin, wie drei Leute ihn im Bezirk Wedding mit einem Messer angriffen. DHL bestätigt gegenüber VICE: In manchen Gegenden im Wedding liefern DHL-Boten Pakete nicht mehr an die Tür. Im Fokus: der Soldiner Kiez, ein Problemviertel. Plattenbauten neben Altbauten, Sozialwohnungen über Shisha-Bars, überquellende Mülleimer. Die Osloer Straße im Süden und die S-Bahn-Schienen im Norden ziehen die Grenze. Hier geht man nicht hin, wenn man hier nicht wohnt.

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Wie oft es zu Angriffen auf Paketboten kam, behält die DHL für sich. Das Unternehmen spricht von "absoluten Einzelfällen". Mehr können sie aus "sicherheitsrelevanten Gründen" dazu nicht zu sagen, so DHL. Auch die Polizei kann keine konkreten Zahlen nennen. Durchs Hintertürchen, am Ende des Statements, erklärt der Konzern, warum er in einigen Fällen nicht bis zur Tür liefert: "Bei diesen Ausnahmen hatten wir Hinweise auf mögliche Betrugsversuche, denen wir nachgingen."

Betrugsversuche also.

Im Soldiner Kiez gab es rund 4.300 Polizeieinsätze im letzten Jahr. Die häufigsten Delikte: Ladendiebstahl (546 Fälle), Körperverletzung (486 Mal) und—auf Platz drei —Betrug: 455 Fälle verzeichnet die Polizei für 2015.

Das Grundprinzip ist ganz einfach: Betrüger bestellen im Namen anderer Menschen teure Elektronik, Uhren, Markenklamotten. Kriminelle können die Pakete leicht abfangen, da DHL Express und auch vergleichbare Anbieter erstens garantieren, dass die Ware am Folgetag geliefert wird, und zweitens sogar die Wahl bestimmter Zeitfenster zulassen. Bei DHL Express gibt es gegen Aufpreis drei solcher Zeitfenster: vor 9 Uhr, vor 10 Uhr und vor 12 Uhr. Wer ein Paket abfangen will, weiß also ziemlich genau, wann er sich wo hinstellen muss, um sich als Empfänger auszugeben.

Die konkreten Tricks: Verbrecher bringen falsche Namensschilder an extra angemieteten Wohnungen an—dann brauchen sie nur Name und Geburtsdatum (wollen die Versandhäuser bei der Bestellung wissen), um Waren zu ordern. Andere arbeiten mit gefälschten Ausweisen oder Vollmachten. Und wieder andere behaupten, die Empfänger zu sein, und gerade auf dem Sprung zu sein.

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Es ist nicht im Interesse von DHL, dass jeder weiß, dass es potenziell jeden treffen kann. Dass es kein hausgemachtes Problemviertel-Problem ist. Denn das schreckt Kunden ab. "Alle Berlinerinnen und Berliner können beruhigt sein", heißt es in einem schriftlichen Statement von DHL.

Und das Unternehmen hat noch einen viel triftigeren Grund, nicht mit dem Betrug hausieren zu gehen: Versandhandelsbetrug ist teuer. Im Zweifel haftet DHL, wie eine Unternehmenssprecherin auf Nachfrage bestätigt.

Die Boten sind verpflichtet, sich die Identität bei Auslieferung bestätigen zu lassen. Paketzusteller stehen allerdings unter enormem Zeitdruck und bekommen bei manchen Unternehmen pro ausgeliefertem Paket nochmal eine extra Provision: Jedes Paket, das wieder im Depot landet, bedeutet weniger Geld auf dem Gehaltszettel.

Gibt es also eine No-Go-Area Wedding, No-Go-Area Soldiner Kiez? "Nein." Das sagt zumindest der SPD-Politiker Ralf Wieland. Für den Bezirk Gesundbrunnen sitzt er im Berliner Abgeordnetenhaus, sein Bürgerbüro ist direkt gegenüber des Gesundbrunnen-Centers. "Wir wollen unsere Probleme nicht kleinreden, auch der Soldiner Kiez ist nicht umsonst Quartiersmanagement-Bereich. Aber ein No-Go-Bezirk, das sind wir ganz sicher nicht."

Tatsächlich ist das Problem nicht der Wedding und auch nicht der Soldiner Kiez. Das Problem ist der Versandhandelsbetrug—und der kann überall passieren, nicht nur im Soldiner Kiez. Er trifft vor allem auch Politiker, die normalerweise nicht in Problemvierteln leben.

Im Oktober kam raus, dass fraktionsübergreifend bis zu 50 Berliner Abgeordnete selbst Opfer von Versandhandelsbetrug geworden sind. Deren Namen und Geburtsdaten stehen im Netz, leichtes Spiel für die Betrüger. Ein betroffener Abgeordneter ist Benedikt Lux von den Grünen. In drei Fällen bestellten Versandbetrüger in seinem Namen Luxusgüter, etwa eine Lederjacke im Wert von 399 Euro oder Sneaker für 159 Euro, bis heute hat keiner dafür gezahlt. Geliefert wurde nach Schöneberg (nicht in den Wedding!), an eine Adresse, die Lux nicht kennt. Seine Einschätzung: "Das war keine Aktion, die gegen uns als Politiker gerichtet war. Das war Versandbetrug im großen Stil, unsere Namen und Daten sind leicht im Netz zu finden."

Man muss es nun noch einmal ganz deutlich fragen: Spielt es DHL in die Karten, dass kein "solventerer" Kiez im Fokus steht? Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass DHL-Express-Kunden wohl eher finanzstarke und zeitlich beanspruchte Geschäftsleute als Hartz-4-Empfänger sind. Dazu die DHL-Sprecherin: "Wir nehmen keine Wertung verschiedener Berliner Bezirke vor." Ob es auch Betrugsvorfälle in Schöneberg gegeben habe? Kein Statement mehr von der Unternehmenssprecherin. Kurz zuvor beeilte sie sich jedoch, noch darauf hinzuweisen, dass die Berliner Weihnachtspakete sicher zugestellt würden.

Nur halt eben nicht für alle Bewohner des Weddings. Einzelne Ecken sind seit neuestem No-Go-Areas—für DHL-Express-Boten jedenfalls.