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Popkultur

Art Issue Extra: Hermann Nitsch

Die Bilder von Hermann Nitsch erinnern ein bisschen an Menstruation—denn wenn du nicht gerade Arzt oder Schlachter bist, ist das vermutlich die einzige Möglichkeit, wie du heutzutage mit Blut in Berührung kommst.

Fotos: Fotostudio Hermann Nitsch

Porträts: Alexander Nussbaumer

Auch wenn Hermann Nitschs oft riesige Bilder im Museum hängen, kann man noch riechen, wie sie entstanden sind. Sie erinnern ein bisschen an Menstruation—denn wenn du nicht gerade Arzt oder Schlachter bist, ist das vermutlich die einzige Möglichkeit, wie du heutzutage mit Blut in Berührung kommst, dessen Geruch eigenartige Assoziationen in deinem Stammhirn erwecken wird. Wir glauben, das könnte auch die Intention des Malers sein, der in den 60ern gemeinsam mit Günter Brus, Otto Mühl und Rudolf Schwarzkogler allerlei Schweinereien angestellt hat, die dann Jahre später unter dem Begriff “Wiener Aktionismus” zusammengefasst und in allen wichtigen Museen der Welt ausgestellt wurden.

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Doch während die Kunstwelt noch damit beschäftigt war, diese Strömung zu kategorisieren, widmete sich Hermann Nitsch schon wieder ganz anderen Dingen. Seinem “Orgien Mysterien Theater” zum Beispiel. Das sind ziemlich opulente und zum Teil penibel durchgeplante Performances, bei denen alle möglichen Archetypen aufgegriffen werden—von der Geburt über Blut und Sex bis hin zu Opferbringung, Kreuzigung und Tod ist bei diesen oft mehrere Tage dauernden Kunstaktionen alles dabei. Natürlich reagieren einige konservative oder religiöse Zeitgenossen angepisst auf das Werk von Hermann Nitsch, sie übersehen dabei aber einen wichtigen Punkt: Der Künstler hält seinen Kritikern mit all ihren eigenartigen kirchlichen Zeremonien einen Spiegel vor. Ganz abgesehen davon, jeder, der findet, dass sich ein 6- Tages-Festival mit Unmengen an nackten Leuten, Rauschmitteln und Tiereingeweiden nicht nach extrem viel Spaß anhört, kann von uns aus auch gern tot umfallen. Aber natürlich bleiben hier noch viele Fragen offen, die wir dem Meister zusammen mit einer Opfergabe, bestehend aus drei ausgeweideten Lämmern und einem großen Krug voll Wein, präsentiert haben.

Hermann Nitsch: Bevor wir anfangen: Was machen Sie eigentlich hauptberuflich?

Vice: Ich studiere Politikwissenschaft.

Das ist schlecht.

Warum?
Weil Politik der größte Unfug der Welt ist. Und Politiker eine Horde von halbgebildeten, frustrierten Menschen sind, die versuchen, Macht auszuüben.

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War das immer schon Ihre Einstellung?
Ja, immer schon. Ich kann Ihnen auch ein konkretes Beispiel dafür geben, warum: Ich habe in der Volksschule—das war 1943—noch mit dem Hitlergruß grüssen müssen. Zwei Jahre später sind die Befreier gekommen. Jede Besatzungsmacht, die Amerikaner, die Russen usw., hatte ihre eigene Zeitung, natürlich zensuriert, Fernsehen gab es noch keins. Darin haben dann die Amerikaner über die Russen geschimpft und die Russen über die Amerikaner. Da habe ich eingesehen: die ganzen Politiker und alles, was damit zusammenhängt, sind ein gemeiner Schwindel.

Sie sind ein unpolitischer Mensch.
Durch und durch.

Diese Kriegserlebnisse schlagen sich auch direkt in Ihrem Werk nieder?
Schauen Sie, das ist eine Frage, die—im besten Fall—die Tiefenpsychologie beantworten könnte. Ich kann selber nicht über Beeinflussungen reden, die mein weiteres Leben bestimmt haben. Sicher waren das traumatische Erlebnisse, die meinen Hang zum Expressiven gefördert haben. Ich fühle mich nicht als geschädigter Mensch, aber als ein Mensch, der in unmittelbarer Nähe zu zwei furchtbaren Weltkriegen aufgewachsen ist. Den ersten haben meine Eltern und Großeltern miterlebt, den zweiten dann ich. Alle Leute sind mit Krieg in Berührung gekommen—dem 30-jährigen, den Napoleonischen Kriegen etc.—, aber nicht unbedingt mit zwei Weltkriegen.

Sie haben recht klassisch an der Graphischen in Wien angefangen. Was hat Sie als jungen Menschen zu dieser Zeit beeinflusst?
Ich hatte das Glück, viele gute Lehrer zu haben, die meine Neigung zur Kunst—die Werbegrafik hat mich nie interessiert—stets gefördert haben. Ich habe mich sehr mit den alten Meistern beschäftigt: Michelangelo, Leonardo, die niederländische Malerei, Rembrandt, Rubens. Das hat mich alles sehr fasziniert. Und auf philosophischer Ebene? Ich war zuerst weltabgewandt, asketisch, sehr beeinflusst von Schopenhauer. Nietzsche hat dann die Wende gebracht, hin zu einer lebensbejahenden Einstellung.

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Was für eine Stadt war Wien zur Zeit Ihrer ersten Ausstellung?
Es war nicht viel los. Es gab ein paar interessante Leute—den Filmemacher Peter Kubelka, den Bildhauer Karl Prantl usw. Ansonsten war Wien sehr unbefleckt von Kunst.

Wie sind Sie mit den Künstlern zusammengetroffen, mit denen Sie später den Kreis der Wiener Aktionisten gebildet haben?
Ich habe den Brus kennengelernt, habe dann später eine Ausstellung von Mühl, Frohner und Niederbacher gesehen. Schwarzkogler war ein Kollege an der Graphischen. Ich war aber in der Meisterklasse, er im ersten Jahrgang. Daraus hat sich dann ein Netz von Gleichgesinnten ergeben. Ich habe am Konzept meines “Orgien Mysterien Theaters” gearbeitet. Aber Erfolge habe ich am Anfang keine gehabt. Dafür bin ich dreimal eingesperrt worden.

Wie das?
Die haben in meiner Arbeit Blasphemie, Pornographie und alles Mögliche gesehen. Das war anlässlich einer Aktion in der Perinetgasse, im Keller von Mühl. Eigentlich hatten er und ich zwei aufeinanderfolgende Aktionen geplant. Für meine wurde ein totes Schaf benutzt, sie wurde aber nach einer Dreiviertelstunde von der Polizei abgebrochen. Die Aktion von Mühl konnte gar nicht mehr stattfinden. Dafür mussten wir beide ins Gefängnis. Zuerst drei und später vierzehn Tage. Damals war ich darauf sogar ein wenig stolz. Meine Arbeit hat die Leute aufgeregt und ich habe mich in der Tradition großer, unverstandener Künstler gesehen.

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Sie wurden später für eine andere Aktion zu sechs Monaten bedingt verurteilt.
Ja, 1966, für mein Menstruationsbild, die „Erste Heilige Kommunion“. Das war dann quasi mein Berufsverbot. Ich musste meine Heimat verlassen und bin nach Deutschland gegangen.

War Bayern ähnlich schwierig wie Österreich?
In Deutschland ist es mir sehr gut gegangen. Ich habe dort zehn glückliche Jahre verbracht. Ich habe wunderbare Freunde gefunden und konnte sehr viel realisieren. Auch wenn es in München ebenso Schwierigkeiten und Skandale gegeben hat, waren die Zustände dort längst nicht so intrigant wie in Wien. Nach dem tragischen Unfalltod meiner Frau bin ich dann zurück nach Österreich.

Hatte sich das Land in den zehn Jahren, die Sie weg waren, verändert?
Das war ja schon die Kreisky-Zeit. Alle meine Kollegen—Artmann, Brus usw.—sind dann aus dem Exil heimgekehrt. Das Klima war deutlich freundlicher, das muss man schon sagen.

Sie haben damals auch einige Aktionen in Amerika durchgeführt.
Wissen Sie, wer Peter Kubelka ist? Der war zu der Zeit in Amerika sehr erfolgreich und wir waren ausgesprochen gut befreundet. Im Jahr 1967 war ich schon in Bayern bei meiner späteren Frau. Dort kam eines Tages eine Karte von Kubelka: „Die Amerikaner wollen Dich einladen. Das Geld ist da, Du musst nur noch zusagen.“ Ich habe dann zwei Aufführungen in der Cinematheque in New York und eine an der Universität Cincinnati gehabt. Insgesamt muss ich sagen, dass ich in den USA einen Riesenerfolg hatte, von dem ich nicht einmal zu träumen wagte. Ein gewaltiges Presseecho, Titelseite der Village Voice …

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Manche Ihrer Aktionen führen Sie alleine durch, andere wiederum werden als großes Schauspiel mit bis zu 100 Akteuren konzipiert. Wie viel ist davon im Voraus geplant, und was passiert spontan?
Beides ist notwendig. Der Trick ist, Spontaneität und Zufall planen zu können. Die Anzahl der Akteure macht dabei für mich keinen Unterschied.

Aber mehr Leute bedeuten doch einen viel höheren logistischen Aufwand. Müssen Sie dabei nicht zwangsläufig eine Rolle einnehmen, die sich von der des Künstlers unterscheidet? Fühlen Sie sich manchmal wie ein Dirigent oder ein Diktator?
Jetzt lassen Sie mal die politischen Begriffe weg. Da wäre ja jeder Regisseur ein Diktator. Für mich ist das dieselbe künstlerische Leistung wie das Malen eines Bildes. Wie viele Objekte ich verwende, ist nicht relevant.

Sind Sie erleichtert, wenn eine Aktion vorbei ist?
Wenn die Sache glückt, fühle ich mich sehr gut. Das Gefühl der künstlerischen Handlung, des ästhetischen Vollzugs, das macht mich glücklich.

Wie ist es eigentlich, mit Blut und Fleisch zu arbeiten?
Es ist unser Fleisch und Blut, mit dem ich arbeite. Ich werde immer wieder gefragt, warum ich mich mit Blut, Eingeweiden usw. beschäftige. Ich sage dann: “Schauen Sie, es gibt Künstler, die beschäftigen sich mit Landschaften. Andere mit Porträts oder Stillleben. Ich bin der Künstler, der mit Fleisch und Blut arbeitet.” Und das ist ein äußerst interessantes Beschäftigungsfeld. Es gibt auch einige Berufsgruppen, für die Blut ein Thema ist. Mediziner zum Beispiel, Jäger. Und für die Religionen ist es ebenfalls ein wichtiges Thema. Es ist nur für die meisten Menschen ungewohnt, weil sie wenig damit in Berührung kommen.

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Hätten Sie auch mal Lust gehabt, mit etwas anderem zu arbeiten? Die Intensität hätten Sie doch z. B. auch mit Fäkalien erzeugen können.
Einige meiner Kollegen haben viel mit Fäkalien gearbeitet, ich habe das nicht getan. Monet hat auch kaum Porträts gemalt.

Wie ist Ihr Verhältnis zur Provokation? Bedeutet sie Ihnen irgendetwas?
Ich habe mein Leben lang nie provozieren wollen. Ich habe immer die Intensität gesucht. Auch in der Kunstgeschichte hat mich immer die Intensität fasziniert. Die antike Tragödie, die Passion Christi. Meine Liebe galt immer der intensiven Kunst. Wenn eine meiner Arbeiten die Leute provoziert hat—gut, dann war es halt so. Diese Provokation wurde aber nicht am Reißbrett berechnet.

Aber Tabus sind ein essentieller Bestandteil Ihrer Arbeit, oder?
Ich interessiere mich sehr für Tabus, v. a. für ihre Entstehung. Ich habe mich mein ganzes Leben mit Tiefenpsychologie beschäftigt, und meine Arbeit entspricht einer tiefenpsychologischen Dramaturgie. Die Tragödien von Sophokles, Grünewalds „Isenheimer Altar“—Kennen Sie den?—das sind großartige, intensive Sachen. Aber provozieren wollte ich nicht. Das wollten vielleicht andere Kollegen. Ich war aber nicht so dumm, dass ich nicht auch bedacht hätte, dass das provozieren könnte.

Macht es für Sie einen Unterschied, wodurch Sie die Intensität erzeugen— ob Sie also z. B. jemanden ans Kreuz binden oder Schafsgedärme auf den Penis legen?
Ich gehe der Form nach. Da macht es keinen Unterschied, ob diese oder jene Thematik behandelt wird. Die Intensität ist das Entscheidende.

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Wo ziehen Sie da die Grenze?
Kunst hat überhaupt keine Grenzen. Meiner Meinung nach kann alles Kunst sein. Nur sind da irgendwann das Strafgesetzbuch und das eigene Gewissen. Bei manchen Dingen denke ich: Das kann ich nicht verantworten, da entsteht zu viel Leid.

Woher kommt Ihr Verständnis von Moral?
Sie haben ja sicher Nietzsche gelesen. Er hat zwar nicht den Einfluss auf die Menschheit ausgeübt, den er vielleicht wollte. Aber ihm ging es v. a. um die Veränderung der Ethik, Mitleid usw.—das kennen Sie ja alles. Die traditionelle Ethik hat sicher durch Nietzsche eine Veränderung erfahren. Ich bin nach wie vor dafür, dass niemandem Leid zugefügt wird. Ich bin nach wie vor für eine gerechte Verteilung der Güter, die die Menschheit hervorbringt. Ich bin aber dagegen, dass die Philosophie immer nur über die Ethik abgewickelt wird. Die Vorsokratiker haben da meiner Meinung nach viel ehrlicher und redlicher philosophiert als der Deutsche Idealismus. Aber um Gottes willen keine Herrenmenschen-Ideologie oder Ähnliches.

Wie ist Ihr Verhältnis zum Religiösen?
Mich faszinieren Religionen aller Zeiten und Kulturen. Ich empfinde gegenüber ihnen allen Respekt, ohne einer von ihnen anzugehören. Ich habe nur religiöse Gefühle dem Leben, der Natur, dem Kosmos, der Ewigkeit gegenüber.

Das spiegelt sich auch in Ihrer Arbeit wider.
In erster Linie bin ich jemand, der mit dem konkreten Material und dem konkreten Ereignis arbeitet. Ich inszeniere in meinem Theater reale Geschehnisse. Diese sind mit allen fünf Sinnen erfahrbar, sind also ein Gesamtkunstwerk. Das ist meine Leistung: die Auseinandersetzung mit der konkreten Farbe, dem konkreten Fleisch, den konkreten Gedärmen, den Körpern von Menschen. Mein Werk ist aber zum anderen auch eine mehr oder weniger psychoanalytische Bewusstwerdung unbewusster Zusammenhänge. Ich bin ein großer Verehrer von Freud und C. G. Jung. Die Mythen aller Zeiten spielen für mich eine sehr große Rolle. Des Weiteren ist es auch fast ein philosophisches Programm, eine Ontologie, eine Seinssuche—nicht im Sinne Heideggers, den ich bis auf seine politischen Vorlieben trotzdem sehr schätze. Von den Vorsokratikern an haben sich viele mit dem Phänomen des Seins beschäftigt. Ich mache das im Zuge meiner Arbeit.

Für wen schreiben Sie eigentlich Ihre dicken theoretischen Bücher?
Für jene, die meine Arbeit bereits verstanden haben. Das ist keine Einführung auf Volkshochschulniveau. Theorie macht nur Sinn für Leute, die bereits Lunte gerochen haben.

Was ist mit Leuten, die ohne theoretisches Wissen zum ersten Mal mit Ihrem Werk konfrontiert werden?
Ich wünsche mir, dass sie von meiner Arbeit ergriffen werden. Und dass sie auch bewusstseinsmäßig in der Lage sind, meine Arbeit zu umreißen. Sie sollen wissen: jetzt hat das Bewusstsein ein Ende, und es geht in tiefere Bereiche.

Sind Sie ein Missionar?
Ich habe mein ganzes Leben lang für die Kunst missioniert.

Sie wollen verstanden werden.
Ich wünsche es mir sehr.