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Wir haben mit einem Juraprofessor über ‚Making a Murderer’ gesprochen

Professor Samuel Gross, ein Experte für Fehlurteile, erklärt, warum das amerikanische Rechtssystem so anfällig für Fehler ist—und weshalb wir True-Crime-Formate so lieben.

Foto von Netflix aus ‚Making a Murderer'

Bei der schieren Zahl von Artikeln, Reddit Threads und Petitionen, die Präsident Obama darum beten, Steven Avery und seinen Neffen Brendan Dassey zu begnadigen, kann man wohl sagen, dass die Netflix-Serie Making a Murderer ein Kulturphänomen geworden ist—und das Neueste in einer Reihe von True Crime Formaten, die sich momentan vor allem in den USA unglaublicher Beliebtheit erfreuen.

Während die Doku-Serie Fernsehsessel-Detektive auf der ganzen Welt dazu brachte, Averys und/oder Dasseys Schuld im Mordfall Teresa Halbach zu hinterfragen, ist für viele Zuschauer wohl besonders verstörend—wenn auch für Gerichtsreporter nicht besonders überraschend—, was die Sendung über die Tendenz des amerikanischen Rechtssystems im Allgemeinen aussagt, Unschuldige nicht zu schützen.

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Um mehr darüber zu erfahren, haben wir uns mit dem Juraprofessor Samuel Gross in Verbindung gesetzt, der auf sich auf Beweisführung, Strafverfahren und Fehlurteile spezialisiert hat. Er lehrt an der University of Michigan und ist Herausgeber des National Registry of Exonerations, in dem Fälle von Menschen zusammengetragen werden, die verurteilt und später entlastet wurden. Er hat für uns die Story der Serie in einen größeren Kontext aus Beispielen eingeordnet, in denen vor amerikanischen Gerichten große Fehler gemacht wurden.

VICE: Einer der zentralen Fragen, denen Making a Murderer nachgeht, ist ja die, ob das Sheriff's Department absichtlich irgendwelche Fehler gemacht hat. Lässt sich sagen, wie häufig Ermittlungsfehler in Kriminalfällen tatsächlich auftreten?
Samuel Gross: Unter den Fällen, in denen Verurteilte im Nachhinein entlastet werden, ist in 50 Prozent der Fälle irgendeine Form von Fehlverhalten seitens der Strafverfolgungsbehörden nachweisbar. Größtenteils handelt es sich dabei um besonders schwere Fälle—vor allem das Unterschlagen von Beweisen, die auf die Unschuld des Verdächtigen hinweisen könnten. Das ist extrem bedauerlich.

Warum passiert das Ihrer Meinung nach?
Dafür gibt es zwei sich überschneidende Gründe: Einmal ist da der natürliche Drang zu gewinnen, wenn man sich in einem Wettstreit befindet. Gerichtsverhandlungen werden oft wie ein Spiel inszeniert, bei dem eine Seite gewinnt und die andere verliert. Das sollte natürlich nicht so sein. Der Sinn einer solchen Verhandlung ist es am Ende nicht, einen guten Kampf zu haben, aus dem der Bessere am Ende als Sieger hervorgeht. Der Sinn sollte viel mehr darin bestehen, herauszufinden was geschehen ist, und auf dieser Grundlage ein angemessenes Urteil zu fällen. In besonders prestigeträchtigen Fällen ist das alles noch schlimmer, weil diese Fälle auch eine politische Dimension haben—so ein Fall kann schnell über deine weitere Karriere entscheiden. In so einer Situation übt nicht der Drang zum Sieg, sondern der Drang, nicht zu verlieren, den größeren Druck aus.

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Von den Staatsanwälten wird geradezu erwartet—und es ist ihnen erlaubt—, dass sie sich aggressiv präsentieren und alles versuchen, um den Fall im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu gewinnen. Sie sollen aber eigentlich auch sicherstellen, dass keine Ungerechtigkeiten auftreten und Menschen nur strafrechtlich verfolgt und verurteilt werden, wenn sie auch schuldig sind. Das alles zusammen sind schwer miteinander zu vereinbarende Erwartungen, denen sich Juristen hier ausgesetzt sehen.

Auf der anderen Seite im Gerichtssaal steht die Verteidigung nicht in der Pflicht, ein akkurates und gerechtes Urteil zu erreichen. Ihre ethische Pflicht besteht darin, dass bestmögliche Urteil für ihren Klienten herauszubekommen, ohne dabei aktiv zu vertuschen und zu lügen.

Dann gibt es noch eine weitere Sache, die bedacht werden muss: In den allermeisten Fällen, vielleicht sogar in allen, in denen Ermittler, Staatsanwälte oder Polizei inkorrekt gehandelt haben, um die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung zu erhöhen, haben sie das getan, weil sie von der Schuld des Verdächtigen überzeugt waren—das konnten wir mehrfach nachweisen. Es ist auch gar nicht so unwahrscheinlich, dass die meisten Menschen, die so hereingelegt werden, tatsächlich schuldig sind. Dieser Impuls, Abkürzungen zu nehmen, zu schummeln und falsche Beweise zu präsentieren, um jemanden, von dessen Schuld man überzeugt ist, verurteilt zu bekommen, ist irgendwo auch nachvollziehbar.

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Was passiert denn in der Regel mit Beamten, wenn ihnen mutwillige Fehler nachgewiesen werden können?
Die Strafverfolgung hat in der Regel nur selten Disziplinarmaßnahmen zu befürchten, wenn sie während eines Prozesses irgendeine Art von Fehler gemacht hat. Die schlechte Repräsentation durch die Verteidigung ist ein gleichermaßen schwerwiegendes Problem—vielleicht sogar ein noch dringlicheres. Anwälte, die keinerlei Arbeit in ihre Fälle stecken oder Beweise ignorieren, die direkt vor ihrer Nase sind und ihren Klienten vor oder während der Verhandlung behilflich sein könnten, dürften wohl das größte Problem bei Fehlurteilen darstellen.

„Es geht nicht um das Resultat, sondern um das, was hinter den Kulissen abgeht."

Denken Sie, dass beliebte True Crime Podcasts wie Serial oder Sendungen wie The Staircase: Tod auf der Treppe und Der Unglücksbringer: Das Leben und die Tode des Robert Durst dabei helfen, der amerikanischen Öffentlichkeit die schwächen ihres Rechtssystems vor Augen zu führen?
Ich finde die sehr gut. Making a Murderer hat unglaublich viel Aufmerksamkeit bekommen und ist eine wirklich fesselnde Geschichte. Ich denke, dass diese Dokumentationen gut sind, weil die meisten Menschen keinerlei Ahnung von ihrem Rechtssystem haben. Und bis jetzt schien mir alles, was ich in Making a Murderer gesehen habe, glaubhaft—bei Serial sowieso.

Die Filmemacherinnen [Laura Ricciardi und Moira Demos] haben in Interviews [in etwa] gesagt: „Was seine Schuld oder Unschuld angeht, haben wir keine Position bezogen." Ihnen geht es vor allem um das ganze Prozedere, das Fehlverhalten und die Voreingenommenheit der Strafverfolgung. Es geht nicht um das Resultat, sondern um das, was hinter den Kulissen abgeht.

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Steven Averys Geschichte ist fesselnd, aber auch nicht unbedingt der ungeheuerlichste Fall eines Fehlurteils. Warum hören wir nicht die Geschichten von Menschen, die im Gefängnis sitzen und für deren Unschuld es massive Beweise gibt?
Man findet recht einfach Fälle, in denen die Beweise für die Unschuld unheimlich stark und überzeugend sind, die Beschuldigten aber weiter im Gefängnis sitzen, weil sich niemand für ihren Fall interessiert. Nur ein Bruchteil von dem, was in den Gerichtssälen verhandelt wird, bekommt überhaupt Aufmerksamkeit geschenkt, und generell sind die Geschehnisse schlecht dokumentiert.

Was sagt uns dieser Fall über die Probleme bei der Verwendung und dem Sammeln von DNA-Beweisen und wie diese von einer Jury bei der Verhandlung betrachtet werden?
Die Serie gibt uns vielleicht einen Einblick in die Komplexität der DNA-Beweise, jetzt wo sie auch über Sexualverbrechen und Mordfälle wie diesem hinaus vorgelegt werden, wo es Blutspuren, aber auch DNA-Spuren gibt.

Die Dinge, die heutzutage mit physischen Beweisen angestellt werden können, sind allerdings viel ausgereifter und fortschrittlicher als das, was 1985 möglich war. Es verstärkt die Gefahr einer Verunreinigung—sei sie absichtlich oder unabsichtlich. Es stellt sich die Frage, ob es nicht auch eine ganz unschuldige Erklärung dafür geben kann, wenn DNA auf einem Objekt hinterlassen wurde. Ich weiß nicht, wie es in diesem Fall aussieht, aber in manchen Fällen ja, in anderen Fällen nein. Es ist alles nicht so sehr in Stein gemeißelt, wie man vielleicht meint, aber wenn die Technik mit Bedacht eingesetzt wird, kann sie sehr aufschlussreich sein.

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In einem Interview auf Radiolab, das vor der Ausstrahlung der Dokumentation geführt wurde, fragt sich Penny Beerntsen, die Avery fälschlicherweise als ihren Vergewaltiger identifiziert hatte: „Würde Teresa Halbach heute noch leben, wenn ich meinen Angreifer nicht falsch identifiziert hätte?" Sie suggeriert damit, dass der Schaden, den eine unschuldige Person vielleicht durch eine Haftstrafe erfährt, dazu führen könnte, dass sie danach ein echtes Verbrechen verübt. Wie Verhalten sich denn Menschen, wenn sie aus nach einem Fehlurteil entlassen werden?
Zuerst einmal muss ich sagen, dass mir Penny Beerntsen unglaublich Leid tut. Sie hat sich mit dem Fall schon genug gequält—allein für die furchtbaren Dinge, die Avery geschehen sind, nachdem Avery fälschlicherweise verurteilt worden war. Ich hoffe, sie fühlt sich nicht auch noch irgendwie schuldig für den Mord an Teresa Halbach. Ich meine, sie hat damit nichts zu tun, und ich denke, die Serie zeigt das auch.

Was den Rest der Frage angeht, ist da durchaus etwas Wahres dran. Es gibt andere Menschen, die entlastet wurden, dann andere Gewaltverbrechen begingen und wieder im Gefängnis landeten. Das hier ist einer der verstörendsten Fälle in dieser Richtung, aber nicht der erste. Es gibt ein paar Menschen, bei denen alles OK ist, und dann gibt es welche, die sich danach einfach selbst zerstören—und es gibt welche, die sich zwischen diesen beiden Extremen bewegen. Aber egal, ob sie es wieder auf die Beine schaffen oder nicht, ihr Leben ist in keinem Fall so, dass man irgendwie das Gefühl bekommt, es hätte ein Happy End gegeben.

Letzte Woche hatte sich das Weiße Haus zu einer Petition zur Begnadigung von Avery und Dassey geäußert, die fast 300.000 Unterschriften bekommen hatte. Es wurde der Öffentlichkeit erklärt, dass der Präsident in diesem Fall keine Handhabe hat, da es sich um eine Rechtsangelegenheit des Bundesstaates handeln würde. Wie könnten sich Menschen Ihrer Meinung nach sinnvoll in Fällen engagieren, die ihnen am Herzen liegen?
Ich hätte mir davon am meisten erhofft, dass es dabei hilft, das Strafrechtssystem zu verändern, indem es mehr Aufmerksamkeit auf die alltäglichen Ungerechtigkeiten lenkt, die das Leben der Menschen zerstören—nicht durch furchtbare, aufsehenerregende Katastrophen, sondern durch ganz banale Fehler, mangelnde Sorgfalt, Ressourcen und Aufmerksamkeit, die Menschen für Sachen, die sie nicht getan haben, in den Strafvollzug bringen. Das passiert wesentlich öfter, als man denkt.

Es handelt sich dabei um ein furchtbar unterfinanziertes System und es wird in großen Teilen von dem Ideal beherrscht, Menschen ohne Verhandlung zu einem Geständnis zu bewegen. Dieses System, in dem einfach die Kosten einer Verhandlung und einer Ermittlung vermieden werden, indem man Verdächtige zu einem Geständnis drängt, generiert wahrscheinlich zehn mal mehr Ungerechtigkeiten als alles, was während einer Verhandlung passiert, aber wir bekommen davon kaum etwas mit.

Meiner Meinung nach ist es am wichtigsten, diese Fälle bekannt zu machen und bekannt zu machen, was dort passiert. Die meisten Menschen wissen nämlich nicht viel über das amerikanische Rechtssystem oder verstehen es nicht wirklich. Wenn man von diesen Fällen hört, dann merkt man schnell, dass viele der darin gemachten Fehler eigentlich vermeidbar wären.