Ein Mann kauft eine Stange gefälschte Zigaretten
Übergabe: Am Berliner S-Bahnhof Neukölln kauft ein Kunde (links) gefälschte Zigaretten von einem vietnamesischen Händler | Fotos: Grey Hutton 
Kriminalität

So läuft der illegale Zigarettenhandel in Berlin ab

Mit Zigaretten aus altem Tabak, Rattenkot oder Plastik "Made in Swizerland, UE" lässt sich leichter Geld machen als mit Drogen. Jetzt dringen neue Gruppen auf den umkämpften Markt.

Die Dönerbude hat um 9 Uhr morgens noch geschlossen, aber die kriminellen Geschäfte daneben laufen schon gut. Zwei Vietnamesen verkaufen vor dem Berliner S-Bahnhof Neukölln unversteuerte, geschmuggelte Zigaretten aus ihren Umhängetaschen. Im Drei-Minuten-Takt bedienen sie Kunden. Kurzes Gespräch, das Geld in Hüfthöhe. Für 2,20 Euro bekommt man eine Schachtel, für das Zehnfache eine Stange.

Wie lange er das denn schon mache, frage ich einen der beiden, vielleicht ist er 20, die Kapuze der schwarzen Daunenjacke hat er an diesem kalten Märzmorgen tief in die Stirn gezogen. Sein kindliches Gesicht verzieht sich zu einem Ich-hau-dir-auf-die-Nase-Glotzen.

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"Hä?"

Ob er jeden Tag hier stehe? Das sei sicher ein schwieriger Job, oder?

"Wah?"

So beantwortet er alle Fragen, die über "Hast du Zigaretten?" und "Wie viel?" hinausgehen. Vielleicht, weil er kein Deutsch spricht, vielleicht aber auch, weil er es nicht will. Schließlich geht er gerade illegalen Geschäften nach.

Statt Antworten gibt er mir eine Packung L&M. Ihr fehlt die silberne Steuerbanderole und die Packung ist eigentlich auch nicht von L&M. "Made in UE" statt "EU" steht auf der Seite, dazu eine Adresse im Fantasiestaat "Swizerland". Die Zigaretten sind so offensichtlich gefälscht, als müsse man gar nicht versuchen, es zu verbergen. Sie schmecken, sagt später eine Kollegin in der Redaktion, trocken, alt, nach Erbrochenem. Und sie sind ein Millionengeschäft.

So wie hier läuft das überall auf dem illegalen Zigarettenmarkt von Berlin. Eine Stunde später wiederholt sich eine ähnliche Szene vor einem Spätkauf am U-Bahnhof Samariterstraße, kurz darauf am S-Bahnhof Greifswalder Straße und laut Zollfahndung an etwa 300 weiteren inoffiziellen Verkaufsstellen in Berlin.

Wie die illegalen Zigaretten nach Berlin kommen

Der Markt funktioniert seit den frühen 90ern immer gleich. Damals kämpften vietnamesische Gruppen um Einfluss in den Verkaufsgebieten, ermordeten konkurrierende Gang-Mitglieder. Heute ist es ruhiger geworden, aber seit kurzer Zeit verkaufen auch arabische Gruppen auf dem Zigaretten-Schwarzmarkt. Denn noch immer geht es um sehr viel Geld: Nach einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG sollen 2016 in Europa 4,8 Milliarden Zigaretten illegal verkauft worden sein. Ermittlungsbehörden schätzen den Markt um ein Vielfaches größer ein.

Gefälschte Zigaretten

An den Rechtschreibfehlern auf der Verpackung kann man Schwarzmarkt-Zigaretten manchmal erkennen – immer aber daran, dass die deutsche Steuerbanderole fehlt

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Ein Teil der Ware stammt aus illegalen Fabriken in der Ostukraine, Russland, Weißrussland und Polen. In ihrem Tabak stecken Nikotin und Teer, klar, manchmal aber auch Tierexkremente oder Plastik, sagen Zollfahnder. Womöglich saugt gerade in diesem Moment jemand genüsslich verbrannten Rattenkot in seine Lungen. Hauptsache, es qualmt. Diese Zigaretten nennen Fahnder "Cheap Whites" – die billigen Weißen.

Manchmal zweigen die Lieferanten ihre Hehlerware aber auch in legalen Fabriken ab und karren sie an Steuerfahndung und Zoll vorbei nach Deutschland. Früher wurden die Zigaretten in LKW-Anhängern transportiert, heute lieber in mehreren Autoladungen – eins kommt immer durch. "Ameisenhandel" nennen Zollfahnder das, die nun statt 13 Millionen Zigaretten in einem Container nur noch rund 100.000 aufgreifen.

Bei der Übergabe im Berliner Umland zahlen vietnamesische Gruppen 13 bis 15 Euro pro Stange und verfrachten sie in sogenannte Bunker – Wohnungen, Keller, Garagen, Autos – auch nahe dem S-Bahnhof Neukölln. Dort, im Schutz eines Treppenaufgangs, übergibt gegen 11 Uhr ein Kurier fünf frische Stangen an den Verkäufer mit der Daunenjacke. So trägt er nur ein geringes Risiko in seiner Umhängetasche. Mit mir sprechen will der Mann nicht.

Zigaretten übergabe

Das Geschäftsmodell des von Vietnamesen dominierten Zigaretten-Schwarzmarkts ist immer noch so erfolgreich, dass es jetzt arabische Gangs kopieren

Steuerhinterziehung und Steuerhehlerei sind zwar Straftaten, aber weniger hart bestraft als Drogenhandel. Selbst bei 400 Stangen könnte ein einzelner Straßenhändler mit einer Bewährungsstrafe davonkommen, sagt ein Zollfahnder. Die größere Gefahr für die Verkäufer ist, abgeschoben zu werden. Denn oft sind sie illegal in Deutschland und sagen, dass sie mit ihrem Erlös ihre Schulden bei Schleuserbanden abbezahlen. Und die Kunden? Die zahlen lediglich Verwarngeld. 15 Euro für bis zu 100 Zigaretten. Eine legale Stange wäre teurer.

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Dank vieler potentieller Kunden, geringerer Strafen und kleinerer finanzieller Verluste bei Razzien gebe es im illegalen Zigarettenhandel größere Gewinnspannen als im Drogenhandel, sagen Zollfahnder. Und davon wollen jetzt auch andere etwas abhaben.

Während vietnamesische Zigarettengangs Ost-Berlin untereinander aufgeteilt haben, erobert seit spätestens 2018 eine neue Organisation den Markt in West-Berlin: eine kleine Gruppe syrischer Geflüchteter und libanesisch-stämmiger Krimineller. Wieder scheinen es Migranten zu sein, die aus Mangel an Alternativen und Integrationswirrwarr ein deutschlandweites Zigarettennetzwerk aufgebaut haben. Warum wiederholt sich diese Geschichte? Und werden die neuen Gangs irgendwann nach Ost-Berlin expandieren und offen gegen die alten kämpfen?

Um das einzuschätzen, muss man zurückblicken, ins Berlin der 90er Jahre, wo alles begann.

Die Anfänge des Zigaretten-Schwarzmarkts: In einem ehemaligen Berliner Vietnamesen-Viertel

Der deutsch-vietnamesische Filmemacher Duc Ngo Ngoc hat für sein nächstes Filmprojekt mit vielen ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeitern über die Hochzeiten des Berliner Zigarettenhandel gesprochen. Er führt mich durch die Ruinen einer weitläufigen Plattenbausiedlung in Berlin Alt-Hohenschönhausen, die er als Kind vietnamesischer Einwanderer in den 90ern selbst besucht hatte. Türen, Fenster und Bodenbeläge fehlen, Abrisstrupps haben die Leitungen aus den Wänden gerissen. Nach der Wende war das Asylheim an der Wartenberger Straße ein Zentrum des Berliner Zigaretten-Schwarzmarkts. Etwa 10.000 ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter lebten hier. Mit ihren Jobs hatten sie auch die betriebseigenen Wohnungen verloren. Ausgeliehen an die DDR und abgestellt in der neuen BRD, landeten sie hier.

Ein leerstehender Plattenbau in Alt-Hohenschönhausen

Früher lebten in den abrissbereiten Plattenbauten etwa 10.000 Vietnamesen, dahinter steht seit 2016 eine neue Geflüchtetenunterkunft

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Ngo Ngoc war damals ein Kind und kam oft hier her. Zum Haareschneiden, um Essen einzukaufen, um Freunde zu treffen.

Wir steigen auf Betonstufen das ausgehöhlte Plattenbaugerippe empor. Der Wind fegt durch die leeren Gänge. In den winzigen 15-Quadratmeter-Wohnungen eröffneten Anfang der 90er die ersten inoffiziellen Pho-Restaurants Berlins. Wenn auf den Gaskochern Rinderbrühe köchelte, hing der Dampf unter den Zimmerdecken, sagt der 30-jährige Ngo Ngoc. Heute blickt man von hier aus auf ein Containerdorf für Geflüchtete, seit 2016 steht es nebenan. Die alten und die neuen Migranten – ihr Leben könnte sich hier Tür an Tür abspielen, nur nicht zur selben Zeit. Ngo Ngoc habe sich hier an Vietnam erinnert gefühlt. "Das war ein Rückzugsort für die Vietnamesen. Im umliegenden Hohenschönhausen lebten damals viele Rechtsradikale."

Die grauen Wohnblöcke erinnern an Bilder aus Tschernobyl, an den Wänden erzählen verblichene Graffitis vom Leben, das es hier einmal gab. "Verkaufe Joghurt, Handys und D2-Sim-Karten" hat jemand vor vielleicht 20 Jahren auf vietnamesisch an eine Wand geschrieben. "Haarschnitt 5 DM" an eine andere. Nur "Thuốc lá" steht nirgends, vietnamesisch für Zigaretten – die kauften vor allem Deutsche. Nicht hier, sondern außerhalb der Wohnanlage, sagt Ngo Ngoc.


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Wenn er von den Zigarettenhändlern dieser Zeit erzählt, spricht er von einer Minderheit in der Minderheit. Viele Landsleute seiner Eltern eröffneten damals Imbisse, Blumen- oder Gemüseläden. Sie entsprechen dem Bild von Einwanderern, mit denen Deutsche etwas anfangen können. Fleißige Arbeiter, von deren Leben man zwar keine Ahnung hat, aber neben dem eigenen akzeptiert. Andere, die weder Aufenthaltstitel, Deutschkenntnisse noch Startkapital hatten, sicherten mit Zigaretten ihr Überleben. Sie befanden sich damals in einem ähnlich ungewissen Status wie heute Geflüchtete aus Syrien und anderen Ländern, die zum Nichtstun verdammt auf eine Arbeitserlaubnis warten. Manche von ihnen waren auch Rückkehrer, ehemalige Vertragsarbeiterinnen und Arbeiter der DDR, die von den 3.000 DM, mit denen sie sich wieder ein Leben in Vietnam aufbauen sollten, nicht zurechtgekommen waren.

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Wohnungen Plattenbau

Eine Familie lebte in der Wartenberger Straße auf etwa 15 Quadratmeter

Die Deutschen waren ihre Kunden und Kundinnen, aber auch ihre Geschäftspartner. Wie auch Polen und Russen schmuggelten Deutsche – im Transporter weniger auffällig als ein Vietnamese – die Zigaretten über die polnische Grenze. Vietnamesische Händler lieferten ihren deutschen Kunden Zigaretten bis nach Hause. So seien damals auch Freundschaften entstanden, sagt Ngo Ngoc. Man habe sich gegenseitig bekocht und zu den Zigaretten gab es ab und zu ein paar Frühlingsrollen obendrauf. Die Deutschen servierten dann mal Kassler. Die freundliche Seite dieses Geschäfts.

Die andere Seite war das, was Ermittler später als Zigarettenkriege bezeichneten.

Schon früh nach der Wende erfuhren auch Gruppen aus Süd- und Zentralvietnam von dem Zigarettenmarkt, den ihre kommunistischen Landsmänner und -frauen in Berlin aufgebaut hatten. Und sie mischten sich ein. Gangs erpressten Schutzgeld von den Verkäufern. Vietnamesen gegen Vietnamesen. Wer nicht bezahlte, zahlte manchmal mit dem Leben. Im Mai 1996 stürmte ein Killerkommando der Ngoc-Thien-Gang eine Plattenbauwohnung in Berlin-Marzahn und richtete sechs Vietnamesen der verfeindeten Quang-Binh-Gang mit Kopfschüssen hin. Die Zahl der Todesopfer in diesem Krieg stieg damit seit 1992 auf 39 – alleine in Berlin.

Es musste etwas passieren. Also bündelten Zoll und Polizei ihre Kräfte, um gegen die Zigarettengangs vorzugehen. Das war 1999. Damals waren die Vietnamesen das Problem – heute kommen arabische Gangs dazu.

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Heute verkaufen syrische Händler Zigaretten auf der Neuköllner Sonnenallee

Die Berliner Sonnenallee zählte lange Zeit nicht zu den typischen Einsatzgebieten Berliner Zigarettenfahnder. Denn sie liegt in West-Berlin, wo Vietnamesen mit wenigen Ausnahmen nie Fuß fassen konnten. Aber hier, auf der fünf Kilometer langen "arabischen Straße", wo Syrer, Libanesen und Palästinenser Restaurants, Imbisse, Cafés und Geschäfte betreiben, operiert seit einiger Zeit ein eigenes illegales Zigarettennetzwerk.

Ein paar hundert Meter vom Hermannplatz entfernt hat ein mittelalter Mann Ledergürtel und Portemonnaies auf einem Bettlaken vor sich ausgebreitet.

Ob er auch Zigaretten verkaufe? Nein, aber da drüben im Spätkauf gebe es welche. Ganz legal. "Viel Glück, mein Freund", sagt er und schaut, wie man einem Kleinkind nachschaut, das über seine eigenen Füße fällt. Ich komme hier nicht weiter. Also bitte ich meinen syrischen Bekannten Hamoudi*, mir bei der Suche nach den arabischen Zigarettenverkäufern zu helfen.

Eine Übergabe von Schwarzmarktzigaretten

Erst das Geld, dann die Zigaretten – eine unversteuerte Stange kostet derzeit 22 Euro, für Stammkunden auch mal weniger

Wie an den meisten Tagen, sind die Bürgersteige der Sonnenallee auch heute voller Menschen, die ihre Einkäufe erledigen. Ein Mann um die 50, brauner Pullover, Vollbart, steht vor einer Fleischerei nahe der Fuldastraße und schaut immer wieder die Sonnenallee rauf und runter. Überwacht er sein Gebiet? Hamoudi geht auf ihn zu, ich halte Abstand.

"Hast du Zigaretten?", fragt Hamoudi.

"37 Euro die Stange, 4 Euro eine Schachtel", sagt der Mann auf Arabisch. Hamoudi erkennt einen syrischen Dialekt.

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"Ist das gute Qualität? Wo kommen die her?"

"Ja, gut. Aus Polen, nicht aus Russland." Der Mann fischt eine Schachtel Winston aus seinem Rucksack.

"Wo finde ich dich, wenn ich mehr kaufen will?", fragt Hamoudi.

"Du kannst auf der ganzen Straße Zigaretten kaufen. Aber warum stellst du so viele Fragen?" Der Verkäufer wirkt nervös.

"Einfach nur so", sagt Hamoudi. "Ist das ein guter Job?"

"Geht so. Ich mache das, weil ich kein Deutsch spreche", antwortet der Verkäufer. Mittlerweile haben sich vier andere Männer dazu gestellt. Die Situation wird brenzlig. Hamoudi geht weiter.

In einer Seitenstraße schauen wir uns die Zigaretten genauer an. Die Winston wurden laut Packung in Rumänien produziert und in Polen verkauft. Keine Steuerbanderole. Schmuggelzigaretten. Sie schmecken alt und trocken.

Eine halbe Stunde später kauft Hamoudi bei einem anderen Verkäufer die gleiche Marke zum gleichen Preis. Syrer verkaufen nur an andere Syrer. Man vertraut einander und akzeptiert dafür, dass die Preise höher sind als bei den Vietnamesen. Für uns ist damit bewiesen: Das arabische Zigarettennetzwerk auf der Sonnenallee existiert.

Ende 2018 hatten Zollfahnder eine ganze Gang in Neukölln verhaftet. Trotzdem läuft ihr Geschäft noch. Ich treffe die Ermittler nahe des alten Tempelhofer Flughafens in ihrer Zentrale, um sie zu fragen, woran das liegt.

Die Zollfahnder rüsten auf

Auf Christian Lanningers Schrank steht, trophäengleich, eine überdimensionale Schachtel der nur für den Schwarzmarkt produzierten Jin-Ling-Zigaretten. Lanninger ist Pressesprecher der Berliner Zollfahndung. "Wir stehen bei den arabischstämmigen Händlern noch ganz am Anfang. Aber man sieht, dass die Globalisierung eben auch vor dem Zigarettenhandel nicht halt macht", sagt er. In seinem Büro sitzen zwei weitere Ermittlungsbeamte sehr aufrecht auf ihren Stühlen: Andreas Lemke und Carsten Brügge. Sportliche Typen, die wahrscheinlich problemlos Zigarettenhändlern hinterherrennen könnten. Aber sie interessieren sich viel mehr für die Hintermänner und deren Strukturen.

Lemke, der ältere, war dabei, als im September 1999 Zoll und Polizei die Gemeinsame Ermittlungsgruppe Zigarettenhandel, kurz GEZig, gründeten. Heute leitet er sie vonseiten des Zolls. 16,3 Millionen Zigaretten haben die Zollfahndungsämter in Berlin und Brandenburg so alleine 2018 beschlagnahmt. Weil sie auf diese Weise Kriminellen regelmäßig die Geschäfte versauen, heißen beide Zollfahnder hier anders als auf dem Revier.

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Übergabe von gefälschten Zigaretten

Viele vietnamesische Zigarettenhändler sagen gegenüber Zollfahndern, dass sie Schulden bei Schleuserbanden haben und deshalb diesen Job machen

Seit seinen Anfängen, sagt Lemke, habe sich am Zigaretten-Schwarzmarkt etwas Entscheidendes geändert: "Es gibt keine Morde mehr, zumindest nicht feststellbar." Aber der Markt wachse weiter, wirft Lanninger ein. Je teurer legale Zigaretten werden, desto mehr Menschen decken sich illegal ein. Obendrein würde Deutschland zum Transitland für illegale Zigarettentransporte nach Frankreich. Dort steigt die Tabaksteuer gerade besonders stark, 8,80 Euro kostet seit März zum Beispiel eine Packung Marlboro Red. Da wirkt es manchmal wie Schattenboxen, wenn Zoll und Polizei aufrüsten und sich international vernetzen.

Die Leute wollen eben rauchen. Weil die Nachfrage wächst, wächst der Markt. Das wird sich nicht ändern, solange Kunden für 100 unversteuerte Zigaretten weniger Strafe zahlen, als 100 versteuerte Zigaretten kosten. Aber auch nicht, solange der Staat Migranten in eine Situation manövriert, in der Kriminelle sie einspannen und ausnutzen können. Was würde man selbst tun, wenn man monatelang in einer Geflüchtetenunterkunft säße, arbeiten will, aber nicht darf? Die Bürokratie bewegt sich langsam. Also muss man sich selber helfen. Geschmuggelte Zigaretten sind da anspruchslos. Sie machen einen Perspektivlosen zum Verkäufer. Es klingt zynisch, aber es ist die Realität. Bei den Vietnamesen, bei den Syrern.

Der Unterschied: Die neuen Netzwerke sind nicht für deutsche Kunden gemacht

2016 habe die Polizei in Neukölln zum ersten Mal Zigarettenverkäufer aufgegriffen, die es dort bislang nicht gegeben hatte. Syrische Geflüchtete hatten begonnen, andere Geflüchtete mit unversteuerten Zigaretten zu versorgen. Die GEZig-Ermittler erkannten schnell, dass hier, im Hoheitsgebiet arabischstämmiger Kriminellengruppen, etwas Außergewöhnliches läuft.

Sie observierten die Verkäufer, ermittelten Verkaufsstellen in Hinterzimmern von Cafés und Geschäften. Die Ermittler beobachteten, wie die Zigarettenhändler immer professioneller wurden, sich mit lokalen Kriminellen vernetzen. Im März 2018 landeten Lemke und seine Kollegen dann einen ersten Treffer. Sie stellten 120.000 unversteuerte Zigaretten sicher, die sie einer syrisch-libanesischen Gruppe zuordneten. Doch der Verkauf lief weiter. Die Gruppe erschloss neue Vertriebswege, traf sich mit polnischen Lieferanten. Größere Lieferungen bedeuten größere Gewinne. Acht Monate sammelten die Ermittler Beweise – bis sie zuschlugen.

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Im November 2018 durchsuchen 200 Beamte zwölf Objekte in Berlin und Brandenburg. Am Ende stellen sie 500.000 unversteuerte Zigaretten und 200 Kilogramm unversteuerten Wasserpfeifentabak sicher. Außerdem über 100.000 Euro und mehrere Schreckschusswaffen. Seitdem laufen Ermittlungen gegen zehn Beschuldigte syrischer und libanesischer Herkunft. Darunter die Anführer der Gruppe, aber auch Ladenverkäufer, Straßenverkäufer und Lieferanten aus Brandenburg.

Die Flüchtlinge haben, so wie damals die Vietnamesen, eine eigene Händler- und Verteilungsstruktur aufgebaut. "Daran sehen Sie, dass das nichts mit der Nationalität zu tun hat. Hätten wir morgen Flüchtlinge aus Schweden hier, könnten die genauso gut in dieses Deliktfeld einsteigen", sagt Lanninger, der Sprecher der Ermittler. Die Vietnamesen und die syrisch-libanesischen Gruppen würden sich in Zukunft den Kuchen teilen müssen.

Wird es einen neuen Zigarettenkrieg geben?

Bislang sehe es nicht danach aus, dass es Streitigkeiten um Lieferanten geben könnte, sagt Lemke, einer der Ermittler. Einen neuen Krieg mit Toten und Verletzten, wie damals in den 90ern, sieht er nicht kommen. Das Angebot aus Polen sei einfach so groß. Aber die arabischen Gruppen hätten Wachstumspotential: "Die Manpower ist da, der Markt ist da. Die Voraussetzungen sind so gut wie bei den Vietnamesen, wenn nicht vielleicht sogar noch besser. Weil es Vorbilder gibt."

Die Fahnder wollen nicht alle Geflüchteten in einen Topf werfen. Mehrmals betonen sie, dass es sich bei den Mitgliedern der syrisch-libanesischen Gang wie bei den Vietnamesen nur um eine kleine Gruppe innerhalb der Minderheit handele. Aber die beschränke sich nunmal nicht auf Berlin. Das Netzwerk ziehe sich über ganz Deutschland. Teilweise könnten sich die Leute bereits in Aleppo gekannt, die gleichen Fluchtrouten genommen, in den gleichen Unterkünften gesessen und sich dann bundesweit in alle Ecken verstreut haben. Sie stehen in Kontakt. Sie lernen voneinander.

Vietnamesische Zigarettenhändler

Der S-Bahnhof Neukölln liegt eigentlich in Westberlin. Das Vietnamesen hier Zigaretten verkaufen, ist ungewöhnlich

Die Geschichte wiederholt sich. Und das werde teilweise ausgenutzt, sagt Sprecher Lanninger, von Gruppen, die schon länger in Berlin verankert seien. Ja, sagt er, es sei natürlich möglich, dass bei so viel potentiellen Gewinnen auch irgendeiner der medienbekannten Neuköllner Clans mitmische. Aber: "Uns ist das als Zollfahndung eigentlich egal. Unser erstes Ziel ist, die Zigaretten vom Markt zu nehmen und die Steuern wieder reinzukriegen."

Noch gibt es keine offenen Auseinandersetzungen zwischen den alten und den neuen Zigarettenhändlern. Aber das Kapitel des vietnamesisch dominierten Zigarettenverkaufs geht wohl zu Ende. Ihr Monopol haben sie bereits verloren.

18 Uhr am S-Bahnhof Neukölln. Die Zigarettenverkäufer beschäftigt jetzt erst mal der Feierabend. Ein Vietnamese, Anfang 20, Basecap, Helly-Hansen-Jacke, holt seine beiden Kollegen ab. Grußlos stopfen sie ihre Umhängetaschen in seinen Rucksack und setzen sich in die Ringbahn nach Norden. Jeder in eine eigene Reihe. Der erste öffnet am Smartphone eine Talkshow, der zweite Candy Crush. Und als der dritte nach ein paar Minuten die Augen schließt und sich die Züge seines Jungengesichts entspannen, verschwimmen sie mit den anderen Fahrgästen. Junge Typen, die sich von einem Scheißjob erholen, der nur andere reich macht.

*Name geändert

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