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Wie das Internet uns zwingt, zu allem eine Meinung haben zu müssen

Erst Charlie Hebdo, dann ein viral gegangenes Kleid—wir müssen zu allem unseren Senf dazu geben und haben doch nichts zu sagen. Warum sich das ändern muss.

Foto: Jes | Flickr | CC BY-SA 2.0

Wer hätte den ESC-Vorentscheid gewinnen sollen? Ist Fler jetzt ein Nazi oder einfach nur ein bisschen dumm? Gibt es wirklich Frauen, die sich freiwillig verschleiern und wenn ja, hat man als weiße, mitteleuropäische Feministin wirklich das Recht, ihnen zu erklären, dass das aus frauenrechtlicher Sicht ganz fatal ist? Ich weiß es nicht und will mir dazu auch kein Urteil anmaßen. Trotzdem scheinen wir im Alltag ständig von Fragen umgeben zu sein, die einer Antwort bedürfen. Und weil wir die leuchtenden pulsierenden Mittelpunkte unseres Ego-Universums sind, sind wir es, denen die Aufgabe der finalen Klärung zufällt, richtig?

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Irgendwie hat man das Gefühl, dass heute nichts mehr ohne Meinung auskommt und es für den modernen Menschen nichts Wichtigeres gibt, als die eigene Weltanschauung mit metaphorischem Megafon in die Welt hinauszubrüllen. Können wir aufhören, so zu tun, als müsste man immer und auf alles eine Antwort haben und als wäre es eine soziale Bankrotterklärung, nicht zu allem seinen Senf dazugeben zu können?

Es gibt so viele Kanäle, über die wir uns äußern können und somit irgendwie auch müssen. Es ist ein bisschen so wie bei einer angeregten Diskussion, in deren Mitte sich plötzlich alle zu dir umdrehen und auf deinen Wortbeitrag warten. Vielleicht hast du ernsthaft versucht, dem Gespräch zu folgen, vielleicht hast du in den letzten zehn Minuten nichts anderes versucht, als dir verzweifelt irgendwelche Argumente zurecht zu legen, aus denen du so etwas wie eine Meinung konstruieren kannst. Eine Sache können und werden wir aber in den seltensten Fällen tun—zugeben, dass wir nichts beizutragen haben.

Keine Meinung zu haben, scheint immer auch irgendwie Nicht-Wissen zu implizieren und das wiederum sagt: Du bist nicht interessiert, du bist dumm, du bist eines der Mitläufer-Schafe unserer Gesellschaft, die alles einfach nur hinnehmen und keinen originären Gedanken haben. Unabhängig davon, ob das zutreffend ist oder nicht: Wer will das in den Augen der anderen schon sein?

Hat man wirklich Angst, kein potentiell interessanter Gesprächspartner zu sein oder steckt hinter dem Zwang zur Meinungsäußerung doch eher ein egoistischer Hang zur Selbstinszenierung? Können und wollen wir nicht mehr zuhören? Stimmt die alte Fight Club-Weisheit, nach der jede Person nur darauf wartet, dass das Gegenüber aufhört zu sprechen, damit er selbst etwas sagen kann? Was auch immer es ist, wir müssen damit aufhören. Sofort.

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Und selbst wenn man sich die Mühe macht und sich richtig in ein Thema einarbeitet, wenn man sich mit den Hintergründen auseinandersetzt, um etwas zumindest ansatzweise Fundiertes sagen zu können, macht es absolut keinen Unterschied. Sobald man genug Zeit investiert hat, um vollkommen informiert eine Äußerung abgeben zu können, ist das Internet schon zum nächsten Thema weitergehechelt.

Doof aussehen, aber eine eigene Meinung haben. Man muss Abstriche machen im Verschwörungsbusiness. Foto: Dennis Skley | Flickr | CC BY-ND 2.0

Womöglich ist das auch der Grund, warum Verschwörungstheorien für viele Leute da draußen so sexy sind. Da kann man endlich mal was komplett Irres und Abwegiges sagen, ohne sich einem ernstzunehmenden Realitätscheck unterziehen zu müssen. Hauptsache, es klingt irgendwie aufregend und gibt eine halbe Antwort auf eine nie wirklich gestellte Frage. Negativen Backlash gibt es so oder so, da kann man auch gleich irgendeine Scheiße erzählen. Vielleicht sind deswegen auch die Leute zu beneiden, die Dinge kommentieren, ohne sie gelesen oder angeguckt zu haben. Wie befreiend muss es sein, sich aus der Teufelsspirale der stetigen Informationsflut zu befreien und auch vollkommen unbeleckt sagen zu können: Finde ich scheiße. Daumen hoch. LOL, Brüste.

Das Internet, das nichts so sehr fördert wie möglichst lautes Jahrmarktsgeschrei, hat uns zu omnipotenten Meinungsmonstern gemacht, die selbst dann noch kommentieren müssen, wenn sie eine Sache nicht interessiert—um zu sagen, dass es sie nicht interessiert. Würde man die aktuelle Internet-Kommentarkultur in ein reales Gespräch übertragen, ständen sich zwei Leute gegebenüber, von denen einer dem anderen mit ordentlich Spucke ins Gesicht brüllt, woraufhin Person Nummer 2 mit den Worten „Trollolollol, du bist hässlich!" aus dem Bild rennt.

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Klar, es gibt Dinge, zu denen muss man tatsächlich eine Meinung haben. Zum Beispiel zur Verharmlosung offenkundig rechtsradikal motivierter Pegida-Mitläufer oder dass Mord wegen als unangemessener Satire durch nichts zu rechtfertigen ist. Aber wenn wir mal ganz ehrlich zu uns sind: Wie viel von dem weißen Rauschen, das da jeden Tag durch unsere Social-Media-Feeds flimmert, ist wirklich relevant? Wie viele von uns gucken nur Tatort, um mitreden zu können? Jeder ist Filmkritiker, Profisportler oder der nächste Bundeskanzler, wenn es das aktuell polarisierende Thema verlangt, vor dem Internet bestimmt nicht die Aussage die Relevanz, sondern die Größe der Zuhörerschaft.

Warum ist es nicht OK zu sagen: Ich habe Birdman noch nicht gesehen. Und The Wire auch nicht, weil es mich irgendwie nicht so wahnsinnig interessiert. Ich gucke Let's Dance und Deutschland sucht den Superstar nicht, von mir aus kann dieses beschissene Kleid auch kotzgrün sein und wenn wir schon bei aktuellen Aufregern sind: die Krautreporter haben Tilo Jung nach seinem tendenziell sexistischen Weltfrauentags-Posting nicht gefeuert? Who cares? Wer Preise dafür bekommt, dass er Politikern Fragen auf dem Niveau eines Volksschülers stellt, macht wahrscheinlich auch dümmliche Witze auf Instagram und freut sich heimlich über den erzwungenen Shitstorm. Das ist weder eine Überraschung noch ein Thema, das ich bis zum Erbrechen diskutieren möchte.

Meinungsaustausch ist gut und wichtig und wenn es einen Platz gibt, an dem die verschiedensten Menschen aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt miteinander auf Augenhöhe diskutieren können, dann ist es das Internet. Wenn das aber darin mündet, dass jeder den inneren Zwang verspürt, zu allem etwas sagen zu müssen, dann sind wir nicht mehr als eine inhaltslos vor uns hinplappernde Gesellschaft aus halbinformierten Egozentrikern, denen sprechen wichtiger ist, als wirklich etwas zu sagen.

Ich wünsche mir (auch für mich selbst) mehr Mut zu Meinungsverzicht, da, wo er angemessen ist, und weniger Meinungsdurchfall. Wenn du dich genötigt dazu siehst, zu irgendeiner Sache etwas sagen zu müssen, weil es ja jeder tut, dann sag lieber nichts. Stille ist auch ein Statement, manchmal sogar ein viel gewichtigeres.

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