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Hämmer, Brecheisen und Messer—Die Räumung des Berliner Refugee-Camps

Die gestrige Räumung des Berliner Oranienplatz könnte als Lehrstück dienen für zukünftige Fragen, wie man eine Protestbewegung langsam zermürbt und schlussendlich kampfunfähig macht.

Gestern wurde das Flüchtlingscamp auf dem Oranienplatz in Berlin geräumt. Nach langen Verhandlungen hat sich offenbar ein Großteil der Flüchtlinge mit darauf geeinigt, ihre Zelte und Hütten auf dem seit anderthalb Jahren besetzten Platz selbst abzubauen.

Trotzdem kam es zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Flüchtlingen, von denen einige nicht mit der Räumung einverstanden sind. Teilweise mussten die Flüchtlinge sich sogar mit linken Aktivisten streiten, die gegen die Räumung protestierten.

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Der Berliner Innensenator Frank Henkel und Polizeipräsident Klaus Kandt können zufrieden sein. Die Räumung des Flüchtlingscamp auf dem Kreuzberger Oranienplatz erfolgte ohne die befürchteten Ausschreitungen und Krawalle und vor allem ohne dass Polizisten auf Geflüchtete einschlagen mussten. Die Aktion könnte als Lehrstück dienen für zukünftige Fragen, wie man eine Protestbewegung langsam zermürbt und schlussendlich kampfunfähig macht.

In aller Herrgottsfrühe machte sich gestern Morgen gegen sechs Uhr eine Gruppe von Flüchtlingen auf, die selbstgezimmerten Hütten auf dem Platz abzureißen. Bewaffnet mit Hämmern, Brecheisen und Messern zerstörten sie nach und nach alle Zelte und Behausungen, egal ob die jeweiligen Bewohnern den Platz verlassen wollten oder nicht. Dabei kam es zu extremen Spannungen zwischen den Bewohnern untereinander, wobei diejenigen, die den Abriss vorantrieben, extrem gewaltbereit wirkten.

Es wurden Messer gezogen und mit den mitgebrachten Werkzeugen gedroht. Immer wieder kam es zu Handgreiflichkeiten. Die anwesenden Unterstützerinnen und Unterstützer standen vor dem Problem, dass sie nicht, wie erwartet, der Polizei gegenüber standen, sondern jenen Menschen, die sie eigentlich unterstützen wollten. Letztendlich ist es sogar ihnen zu verdanken gewesen, dass Schlimmeres verhindert werden konnte. Bis zum Nachmittag tauchte die Polizei nicht auf.

Das Geschehen des gestrigen Tages ist das Ergebnis eines taktischen Vorgehens, das schon vor Monaten einsetzte. Dilek Kolat, Integrationsministerin von Berlin, erklärte sich im Januar bereit, das Problem Oranienplatz zu lösen. Zu diesem Zweck lud sie zu einem runden Tisch und empfing mehrere Delegationen aus dem Flüchtlingscamp. Als klar wurde, dass die Geflüchteten höchst unterschiedliche Ausgangslagen und Ansprüche stellten, begann Kolat, sukzessive gewisse Gesprächspartner auszuschließen und andere zu bevorzugen. Gegen Ende konzentrierte sie sich auf die Gruppe der sogenannten Lampedusa-Flüchtlinge, die im Gegensatz zu anderen Asylsuchenden gültige italienische Papiere haben, denen sie aber Geldzahlungen, eine Unterkunft und eine Duldung versprach—immerhin für ganze sechs Monate.

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Den anderen Flüchtlingsaktivisten war dieses Angebot zu wenig, da in dem vorgelegten Kompromisspapier auch keinerlei Garantien gegeben werden konnten, außer dem Versprechen auf eine wohlwollende Einzelfallprüfung. Trotz allem gelang es Kolat, einen Teil der Flüchtlinge zu überzeugen, den Kompromiss anzunehmen, ein Umstand, der die Bewegung zutiefst spaltete. Hinzu kamen noch Streitigkeiten um die Verwendung von Spendengeldern, wobei auch hier wiederum die Lampedusa-Gruppe schwere Anschuldigungen gegen Flüchtlingsaktivisten und Unterstützer erhob.

Geld sei veruntreut worden, Geld, das die Bewohner des Oranienplatzes dringend bräuchten, zumindest dringender als die politische Bewegung. Die ursprünglichen Forderungen—Abschaffung der Residenzpflicht, Abschaffung der Lagerunterbringung, Stop aller Abschiebungen—traten immer weiter in den Hintergrund. Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings, dass die Spendenbereitschaft der Berliner Bevölkerung und die Solidarität mit dem Refugee-Camp über die letzten Monate hinweg immer weiter nachließ, so dass zuletzt kein Essen mehr ausgegeben werden konnte und die Bewohner des Camps nicht mehr wussten, wie sie überleben sollten. All diese Faktoren führten letztendlich zu einer Gemengelage, in der ein paar Refugees im Angebot des Senats nun also einen Strohhalm zu sehen glauben, der ihnen die Chance auf ein würdiges Leben zu bieten scheint. Für diese Chance gingen sie dann also gestern morgen los und demolierten ihre Hütten und die der Anderen.

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Wenn Menschen in ihrer Verzweiflung alles tun, um ihre Situation zu verbessern, so ist das eine Sache. Wenn die Politik allerdings diese Menschen instrumentalisiert und gegen andere Menschen in der gleichen Situation aufhetzt, dann ist das perfide. Menschen, die mit extremen Gewalterfahrungen traumatisiert sind, über Stunden ihrem eigenen Schicksal zu überlassen und mit Waffen aufeinander losgehen zu lassen, ist mehr als nur fahrlässig.

Bei jeder mittleren bis größeren Schlägerei ist spätestens nach fünf Minuten die Polizei da. Gestern bedrohten sich auf dem Berliner Oranienplatz Menschen mit Stahlrohren und Messern, ohne dass auch nur ein Ordnungshüter in Uniform erschien. Schlussendlich kam die Polizei gegen 15 Uhr auf dem Oranienplatz an, um die letzten verbliebenen Aktivisten zu räumen. Weiträumig wurde der Platz abgesperrt, so dass niemand mehr ins Innere der Absperrungen gelangen konnte. In nur 20 Minuten wurden sämtliche Sitzblockaden aufgelöst und die letzten 200 Protestierenden vom Platz entfernt.

Das Refugee-Camp auf dem Oranienplatz scheint nun vorerst Geschichte zu sein. Der Kampf wird allerdings fortgesetzt werden, versicherten Aktivisten, und bis in die frühen Abendstunden hielten sich auch noch die letzten fünf Demonstranten auf einem Baum, den sie am Nachmittag besetzt hatten.

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