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Kriti Sharma: Ich muss als Erstes sagen, dass sich das nicht auf ländliche Gegenden beschränkt. Selbst in der Hauptstadt Jakarta gibt es noch jede Menge Aberglauben. Dort habe ich einen Mann kennengelernt, der für seine Tochter 27 Wunderheiler aufgesucht hatte, bevor er überhaupt zu einem Arzt ging. Wir sprechen hier nicht nur von Leuten mit einem geringen Bildungsstand. Es geht auch um Menschen mit Uniabschlüssen. Die Leute glauben immer noch, psychosoziale Krankheit seien das Ergebnis einer Besessenheit durch böse Geister. Allerdings kommt das Anketten hauptsächlich in Gegenden vor, wo es keinen Zugang zu psychiatrischer Hilfe gibt.Du hast ganz Indonesien bereist, um den Bericht zu schreiben. Kannst du mir noch von ein paar Fallbeispielen erzählen?
Der schlimmste Fall, den ich gesehen habe, war eine Frau, die schon 15 Jahre lang eingesperrt war. Sie musste im selben Zimmer defäkieren, urinieren, essen und schlafen. Anfangs hatte man sie eingesperrt, weil sie an die Ernte der Nachbarn gegangen war. Als der Vater es satt hatte, Entschädigungen zu zahlen, und die traditionellen Heiler ihren Zustand nicht bessern konnten, beschloss er, sie in einem Zimmer im Haus einzusperren. Die Fenster waren auch teils mit Brettern zugenagelt, also konnte ich im Dunkeln nicht gleich alles erkennen. Aber dann sah ich diese Frau, die komplett nackt und umgeben von Müll auf dem Boden kauerte.
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Ich habe schon Menschen kennengelernt, die viele Jahre lang angekettet waren. Oft können sie nicht sprechen und leiden an Muskelschwund, weil sie nicht herumlaufen und sich bewegen können. Allerdings bessert sich ihr Zustand mit der richtigen Unterstützung und Pflege sehr schnell und sie können produktive Leben führen. Ich habe eine 29-jährige Frau mit einer psychosozialen Behinderung kennengelernt, die von ihrem Vater 4 Jahre lang in einem Ziegenstall eingesperrt worden war. Als sie frei war und Zugang zu psychiatrischer Pflege hatte, konnte sie ein normales Leben führen. Sie hat sogar ein eigenes Geschäft eröffnet: Sie verkauft fermentierten Sojabohnenkuchen an einem Stand am Straßenrand.
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Wie gehst du mit Familien um, die Menschen so behandeln? Wie reagieren die Familien auf dich?MOTHERBOARD: Indonesische Schmuggler pferchen vom Aussterben bedrohte Kakadus in PET-Flaschen
Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Familien das Anketten als letzten Ausweg sehen. Es ist sehr schwierig für Eltern oder Geschwister, die Entscheidung zu treffen, Angehörige anzuketten. Fast alle Familien, mit denen ich gesprochen habe, haben angegeben, dass sie es gemacht haben, weil sie keine andere Wahl gesehen haben. Deswegen muss die Regierung sich mehr bemühen, humane Alternativen, Zugang zu psychiatrischer Versorgung und andere Formen der Unterstützung zu bieten.Du meinst also, dass reine Empathie nicht ausreicht, um die Praktik des Pasung auszumerzen?
Nein, hier geht es nicht um Empathie. Wir kommen nicht dagegen an, indem wir Mitleid haben. Es geht darum sicherzustellen, dass ihre Menschenrechte geachtet werden. In Indonesien haben diese Leute gesetzlich nicht dieselben Rechte wie andere. Ihre Angehörigen entscheiden für sie.
Natürlich, und deswegen haben wir auch viel Zeit auf Multimedia verwendet. Fotos und Videos sollen die Realität des Ankettens zeigen, denn die meisten Leute haben so etwas noch nicht mit eigenen Augen gesehen. Die eigenen Nachbarn wissen oft nicht, was nebenan vor sich geht.Und wie lässt sich deiner Meinung nach der Aberglaube eindämmen, der teilweise hinter dem Problem steckt?
Eine Möglichkeit ist es, von positiven Beispielen zu erzählen—Menschen, die einmal angekettet waren und die sich heute wieder in die Gemeinschaft integriert haben, unabhängig leben und einem Job nachgehen.Du hast gesagt, dass diese Forschungsarbeit eine der schwersten war, die du jemals in Angriff genommen hast. Kannst du dazu noch etwas sagen?
Bevor ich nach Indonesien kam, hatte ich Fotos und Filme von angeketteten Leuten in Einrichtungen und Privathäusern gesehen. Aber nichts kann einen darauf vorbereiten, wie grauenvoll es ist, einen Menschen vor sich zu haben, der seit 15 Jahren unter so schrecklichen Bedingungen angekettet ist. Viele haben mir gesagt, ihr Leben sei wie die Hölle. Ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Es ist wirklich ein Leben in der Hölle.