Wie Sachsen-Anhalt zum unglücklichsten Bundesland wurde
Dieses Schild warb ursprünglich für das Reformationsjubiläum || Montage: VICE || Foto: imago | Steffen Schellhorn

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Glücksatlas 2017

Wie Sachsen-Anhalt zum unglücklichsten Bundesland wurde

Ein Leidensbericht eines Betroffenen – aus dem Exil.

"Sachsen-Anhalt? Kenn ich, von der Autobahn." Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz schon gehört habe. Dass mein Heimatbundesland kein Teil von Sachsen ist, musste ich auf WG-Partys in Berlin oder Hamburg auch immer wieder erklären. Nur die Fragen nach Tokio Hotel haben mit der Zeit nachgelassen. Den Menschen, die ein Forschungsinstitut im Auftrag der Deutschen Post befragt hat, dürfte es ähnlich gehen – und es scheint sich auf ihre Stimmung ausgewirkt zu haben. Im gerade veröffentlichten "Glücksatlas" landet Sachsen-Anhalt auf dem letzten Platz. Die Menschen hier sind deutschlandweit am unzufriedensten, wenngleich Deutschland selbst im internationalen Vergleich sehr gut dasteht und die Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern abgenommen haben.

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Dennoch weiß jeder, der es schon mal von der Autobahn runtergeschafft hat, dass es in Sachsen-Anhalt Landstriche gibt, die einen Partywettbewerb selbst gegen den Todesstern verlieren würden. Und mit hinteren Plätzen kennen sich die Sachsen-Anhalter aus. Ihr Land ist das drittdünnstbesiedelte Bundesland und hat die zweithöchste Arbeitslosenquote, das zweitniedrigste Wirtschaftswachstum, das zweitniedrigste Durchschnittseinkommen, den zweitniedrigsten Anteil an sich ehrenamtlich engagierenden Bürgern und die dritthöchste Pflegequote. Überall zweite und dritte Plätze, Sachsen-Anhalt ist sogar im Schlecht-Sein schlecht.


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Wenn man nach Sachen sucht, in denen Sachsen-Anhalt an der Spitze ist, findet man das Sammeln von Bioabfall, die Dichte an UNESCO-Welterbe-Stätten und die Anzahl an Alleinerziehenden, die Hartz IV beziehen müssen – in Sachsen-Anhalt ist das mehr als jeder Zweite.

Meistens hört man von Sachsen-Anhalt wegen rechter Gewalttaten oder skurriler Nachrichten. Weil der Ministerpräsident Artikel von Verschwörungsportalen verbreitet. Weil das Fußballstadion in Magdeburg kostensparend gebaut wurde und die Stadt den Fans ein "Hüpfverbot" erteilen musste, da die Tribüne sonst wohl eingestürzt wäre. Oder weil das Management eines Regionalflughafens erst Millionen an Fördermitteln versenkte, nur um dann auf die Idee zu kommen, die Wörter "Berlin" und "International" mit in den Flughafennamen aufzunehmen – obwohl die Hauptstadt fast 200 Kilometer mit dem Auto entfernt liegt. Ein Gericht schritt ein und untersagte die Verwendung des Namens, heute hebt dort niemand mehr ab.

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In Sachsen-Anhalt konnte man schon immer offen über "die Ausländer" herziehen

Man kann all dem mit Humor begegnen. Die Landespolitik nötigt einen förmlich dazu, wenn sie sich mal wieder eine unglückliche Imagekampagne wie das "Land der Frühaufsteher" ausdenkt. Oder man begegnet dem mit schlechter Laune. Wenn ich in Magdeburg aus dem Zug steige, fällt mir jedes Mal aufs Neue auf, wie viele Menschen hier gedeckte Farben tragen: Schwarz, Dunkelblau, Braun, Grau. Die Männer stecken oft unter Kurzhaar-Gelfrisuren, wenn einer die Haare stattdessen lang wachsen lässt und in enge Hosen schlüpft, rülpst man ihm ein "Schwuchtel" hinterher. Laut sind nur die Fußball- oder Handballfans, die meisten anderen Passanten wirken sehr in sich gekehrt.

Natürlich gilt das nicht für alle Menschen und passiert so auch anderswo. Aber in Sachsen-Anhalt fehlt es an Ablenkungen. Es liegt anders als Mecklenburg-Vorpommern nicht am Meer und anders als das Saarland nicht an der Grenze zum schönen Frankreich. Die Brandenburger können sich ihren Frust wenigstens am Wochenende in Berlin wegfeiern. Menschen in ländlichen Regionen wie der Altmark oder dem Harzvorland haben hingegen Probleme, überhaupt wegzukommen. Auf dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, fährt sonntags kein Bus. Musiktechnisch gibt es zwischen Aprés-Ski und Schranztechno nicht viel Auswahl. Gute Drogen: Fehlanzeige. Dafür kommt der Harzer Käse aus Sachsen-Anhalt – übelriechend, eiweißreich und bei vielen Fitness-YouTubern beliebt.

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Hunderttausende Sachsen-Anhalter sind aber nicht einfach nur unzufrieden, sie haben das auch bei den letzten Wahlen zum Ausdruck gebracht: Nirgendwo erreichte die AfD ein besseres Ergebnis bei einer Landtagswahl. Bei der Bundestagswahl blieben viele gleich ganz zu Hause, nirgendwo sonst beteiligten sich so wenige Stimmberechtigte. Überrascht hat mich das nicht: In Sachsen-Anhalt konnte man schon immer an jeder Bushaltestelle ganz offen und fast immer unwidersprochen über "die Ausländer" herziehen. Und das obwohl (oder gerade weil) man den drittniedrigsten Ausländeranteil bundesweit hat.



In Sachsen-Anhalt ist man seit der Wende unter sich geblieben. Vielleicht braucht es mehr Menschen, die nach vorne schauen, anstatt nach hinten, die neue Geschichten mitbringen, andere Perspektiven als die der Wendeverlierer, die die Stammtische dominieren. In Sachsen-Anhalt gibt es auch kein großes Volksfest, bei dem man sich gemeinsam im Arm liegen und betrinken kann. Kein Oktoberfest, kein Karneval (bis auf eine Ausnahme). Dass junge Sachsen-Anhalter nach Berlin, München oder Leipzig ziehen, und dann statt zurückzukehren, lieber Artikel wie diesen schreiben, hilft sicherlich auch nicht.

Vielleicht markiert der Glücksatlas aber auch nur die Sohle des Tals. Seit einiger Zeit kommen wieder mehr Kinder in Sachsen-Anhalt zur Welt. Die Großstadt Halle profitiert vom Boom des nahegelegenen Leipzig. Magdeburg ist eine internationale Studentenstadt geworden, in der sich junge Menschen erfolgreich gegen die AfD wehren. Netzwerke wie Sachsen-Anhalt Rechtsaußen und rechercheMD decken rechte und rechtsextreme Umtriebe im Land auf.

Angela Merkel hat angekündigt, sich um den ländlichen Raum gezielt zu kümmern. Hoffentlich kommt dabei mehr rum als nur das nächste Imageplakat an der Autobahn.

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