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Cop Watch

Video: Demonstrierende im Hambacher Forst singen, bis Polizei die Helme abnimmt

Einsatzkräfte zeigen, dass auch bei ihnen nicht jeder Bock auf den Einsatz hat. Nur ändern dürfte das kaum etwas.
Screenshot: Twitter | Anett Selle 

Demonstrierende, die mit Fäkalien werfen. Einsatzkräfte, die Aktivisten und Aktivistinnen von den Bäumen zerren. Dazwischen Eltern, die sich mit ihren Kindern für den Erhalt des Waldes einsetzen. Seit die Landesregierung von NRW am 13. September mit der Räumung der Protest-Camps begonnen hat, ging es im Hambacher Forst nicht immer friedlich zu. Protestierende warfen der Polizei gewalttätiges Vorgehen bei der Räumung vor. Die Polizei den Aktivisten und Aktivistinnen gewalttätigen Widerstand. Doch inmitten prügelnder Einsatzkräfte gibt es immer wieder Momente, in denen diese zeigen: Auch unter den Sichtschutzen und Uniformen stecken Menschen, die in Teilen die Abholzung des Waldes nicht wirklich gut finden.

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Der Hambacher Forst am letzten Sonntag im September: Zwischen den Bäumen blitzt die Sonne hindurch. Sie bricht auf dem Helm eines Polizisten, der rauchend auf einer Lichtung steht. Ihm gegenüber eine Sitzblockade: Demonstrierende singen im Chor "Ohne Helm und Knüppel seid ihr schön". Dann zieht einer der Polizisten seinen Helm ab. Und noch einer. Eine Polizistin schüttelt den Pferdeschwanz, als sie ihre Kopfbedeckung absetzt.

Das Video, das diese Szene zeigt, hat die Journalistin Anett Selle auf ihrem Twitter-Account gepostet. Sie berichtet seit mehr als zwei Wochen vom Ort der Räumung. "So etwas habe ich auch noch nie gesehen", sagt Selle im Video, als die Einsatzkräfte ihre Helme abnehmen. Die Menschen in der Sitzblockade applaudieren. Sie rufen: "Ihr habt die Haare schön!" Vereinzelt schnellen Kameras in die Höhe.

Es ist nicht das erste Mal, dass auch Polizisten und Polizistinnen im Hambacher Forst zeigen: Auch sie haben eine Meinung zum Einsatz. Und die hat mit den Vorgaben ihres Dienstherrn manchmal so wenig gemeinsam wie die abenteuerversprechende Tinder-Bio mancher Männer, die in Wirklichkeit bei einer Steuerberatungsfirma arbeiten.

Polizisten geben Aktivistin bei Festnahme Raum für ein Video-Statement

Am 15. September teilte die Facebook-Seite "Soli für Hambi" ein Video der Aktivistin "Winter". Ihren echten Namen will sie nicht preisgeben. Winter steht in verschlammten Klamotten zwischen zwei Einsatzkräften in voller Montur. Mit heiserer Stimme fordert sie den Erhalt des Hambacher Forsts, Tränen laufen ihr die Wangen herunter. "Sie denken wahrscheinlich, sie haben gewonnen", sagte sie. "Aber sie können nicht gewinnen, weil sie den Wald genauso brauchen." Das Video geht viral, hat bis zum 1. Oktober rund 3,4 Millionen Views auf Facebook.

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Das war am dritten Tag der Räumung. Winter und eine Freundin hatten sich zuvor, wie viele andere Protestierende, an einem Baum festgekettet. Die Polizei holte die Frauen runter und nahm sie fest. Bevor sie abgeführt wurden, entstand das Video. Und viele wollen erkannt haben, dass die beiden Polizisten von Winters Statement genauso bewegt sind wie die Menschen, die es bei Facebook mit Herz-Emojis kommentiert haben.

Mehrmals dreht sich der Polizist links neben Winter von ihr weg. Er schaut auf den Boden, auf die Aktivistin, auf herumstehende Menschen. Nur seine Augen sind unter der Maske und dem Sichtschutz des Helmes sichtbar. Es ist nicht klar, ob er dem Monolog zustimmt oder einfach nur darauf wartet, dass er zu Ende ist. Allerdings: Nach hartem Durchgreifen sieht sein Benehmen in dem Moment nicht aus.

Polizist und Demonstrierende pflanzen gemeinsam einen Baum

Auch der Facebook-Post einer anderen Demonstrierenden zeigt: Die Polizisten und Polizistinnen mögen Barrikaden abreissen – komplett egal scheint ihnen der Wald aber nicht zu sein. In dem Beitrag vom 17. September schreibt Merle Niederwemmer, sie wolle die polizeilichen Übergriffe auf Demonstrierende und die Presse "nicht beschönigen". Dennoch gebe es auch "Polizist_innen mit Herz".

Mit einer Freundin habe Niederwemmer am Wegesrand einen Setzling entdeckt, der noch nicht eingepflanzt worden war. Aktivisten und Aktivistinnen hatten zuvor mit den neu eingepflanzten Bäumen gegen die Rodung protestiert. "Wir dachten uns, dass die im Auto sitzenden Polizist_innen bestimmt auch eine schöne Aussicht auf Bäume geniessen wollen", schreibt Niederwemmer. "Und so haben wir angefangen, unser Bäumchen unter dem Fenster des Polizeiwagens zu pflanzen." Dann haben sie einen der Beamten gefragt, ob er helfen wolle.

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Auf einem Foto unter dem Text kniet ein Polizist in Uniform neben zwei Frauen. Mit seinen Händen gräbt er den Baum ein, eine zweite Einsatzkraft sitzt im Hintergrund im blau-silbernen Polizeiwagen. "Wir bedankten uns bei ihm und er sich bei uns", schreibt Niederwemmer. Sie scheint sich sicher: Selbst die Beamten und Beamtinnen hätten nicht alle Lust, "dort zu stehen".

Und manche von ihnen sagen mittlerweile tatsächlich selbst, dass sie die Rodung des Waldes nicht wirklich gut finden.

"Keiner der Kollegen am Tisch fand es auch nur ansatzweise richtig, was dort geschieht"

Am Freitag veröffentlicht der Blog Polizist = Mensch den mutmasslichen Kommentar eines Polizisten. Der anonyme Autor schreibt, er selbst sei nicht im Hambacher Forst im Einsatz. Dennoch mache ihn die Rodung des Waldes wütend. Und dass bei dem Einsatz "Kollegen und Kolleginnen dort im Wald vor einen Karren gespannt werden, den sie nicht ziehen sollten."

Die Einsatzkräfte würden für RWE und damit für einen milliardenschweren Konzern arbeiten, der "gegen jegliche Vernunft und ohne Rücksicht einen riesigen Lebensraum abholzt", schreibt der Polizist. Viele der Proteste hält er für sinnvoll, gerechtfertigt und nötig: "Es wäre äusserst leichtfertig, diese Leute als 'linke Spinner' abzustempeln", so der Beamte. "Immerhin machen sich Menschen Gedanken und ich bin froh über jeden, der das tut."


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In welchem Bundesland der Polizist arbeitet, erfahren wir nicht. Nur so viel: In seinem Büro unterstütze niemand den Einsatz. "Keiner der Kollegen am Tisch fand es auch nur ansatzweise richtig, was dort geschieht", schreibt der Polizist. Er habe seinem Dienstgruppenleiter gesagt, er würde sich krankmelden, wäre seine Einheit an der Räumung im Hambacher Forst beteiligt.

Sein dreijähriger Sohn verstehe langsam, dass sein Vater Polizist ist. Er sei stolz auf den Papa, der Räuber fängt. "Aber", schreibt der Mann, "wenn er irgendwann gross ist und aufgrund von hundert anderen durchgesetzten Rodungen mit einer Staubmaske herumrennen muss, sage ich ihm dann, dass ich 'dabei' war?"

Die Demonstrierenden im Hambacher Forst werden gegen die Einsatzhundertschaften und den Willen des Energiekonzerns RWE ziemlich sicher nicht gewinnen. Auch am Montag gehen die Räumungsarbeiten weiter. Die letzten Baumhäuser sollen abgerissen werden. Und die Polizisten und Polizistinnen werden weiterhin die Entscheidungen der Landesregierung durchführen.

Selbst wenn manche von ihnen zeigen, dass die Abholzung des Hambacher Forsts ihnen möglicherweise genauso grosse Sorgen macht wie jenen, die sich mit Ketten an den Bäumen festhalten.

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