Wie Gleichberechtigung ein queeres Urlaubsparadies verändert hat
Alle Fotos: Matthew Leifheit

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Wie Gleichberechtigung ein queeres Urlaubsparadies verändert hat

Anscheinend stand Herring Cove auch mal als heißer Tipp in einem Reiseführer für Perverse. Heute gibt es eine "heterosexuelle Invasion".

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Sie waren unser Zufluchtsort, unser privates, von Heteros übersehenes Ferienparadies: der Lesbenstrand von Provincetown und, ein paar Hundert Meter weiter südlich, der Schwulenstrand. Hierher fand nur, wer einen Tipp bekommen hatte oder einmal mitgenommen worden war. Und wer einmal dort war, kam wieder. Ich zumindest tat das Jahr für Jahr, nachdem ich in den 1980ern eine Freundin begleitet hatte. Wir kauften Shirts mit der Aufschrift "Herring Cove" – so hieß der Strand – als kleinen Wink, dass wir Provincetown meinten, wenn wir sagten, dass wir Massachusetts' malerische Halbinsel Cape Cod besuchen würden. Das war noch zu der Zeit, als wir diskret sein mussten, weil sich "Heten" vielleicht sonst ekelten.

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Unbeobachtet von Bademeistern konnten wir uns hier in aller Öffentlichkeit sonnen und miteinander knutschen. Junge Frauen in Badeshorts und Bikinioberteil spazierten am Wasser entlang oder warfen Footballs, damit die anderen ihre beeindruckenden Schultern und Arme in Aktion sehen konnten. Ein "Dienst an der Gemeinschaft", wie eine Freundin zu witzeln – und eine Einladung für alle, die die Chuzpe und den Charme hatten, sie anzusprechen. Comedians und Musiker tummelten sich am Strand und verteilten Werbeflyer für ihre abendlichen Auftritte. Immer saß dort auch mindestens ein ekliger Typ mit einem Handtuch im Schoß, der dreckig grinsend die Frauen beim Küssen beobachtete. Anscheinend stand Herring Cove auch als heißer Tipp in einem Reiseführer für Perverse. Wir ignorierten ihn, oder versuchten es zumindest.

Inzwischen hat sich alles geändert. Wie so viele Erholungsorte, die einst Außenseitern, Künstlern und Homo­sexuellen Zuflucht boten, ist Provincetown teuer geworden. Zu teuer für junge Menschen. Am Strand sonnen sich nur noch ältere Semester wie ich oder lesbische und schwule Paare mit ihren Kindern. Deren Erscheinen Ende der 1990er setzte dem lüsternen Treiben ein Ende. Das Smith College in Massachusetts ist das größte Frauencollege des Landes, und von dort reisten sie früher in Scharen an. Die Studentinnen bekommen aber keine Ferienjobs als Kellnerinnen mehr, um sich von dem Geld in Provincetown ein heruntergekommenes Haus zu teilen. Stattdessen machen sie karrierefördernde Praktika, denn flirten können sie ja heute überall.

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Mittlerweile gibt es hier keine herun­tergekommenen Häuser mehr, erzählt mir Alan Cullinane bei meinem Besuch Anfang April. Wohlhabende ältere Männer hätten geschmackvolle Paläste aus ihnen gemacht. Cullinane betreibt das idyllische Frühstückslokal Cafe Heaven. Er hat das Lokal 1998 einem Frauenpaar abgekauft, das sich trennte, und daraus den Hotspot der Stadt gemacht. Er erinnert sich an die etwas wildere Kundschaft von damals, die zeitgleich mit den Aschenbechern aus dem Café verschwand. Neben den jungen Lesben und Schwulen frühstückten hier die einheimischen Fischer, doch heute sind die Preise für sie zu hoch.

Der Turm der Bibliothek von Provincetown hinter einer Galerie. Die Stadt war früher ein Paradies für Künstlerinnen und Schriftsteller.

Natürlich waren wir LGBT-Urlauber auch nicht die ersten Fans der Region. Der abgelegene Küstenabschnitt um Provincetown diente einst Piraten als Beuteversteck. Als die Gegend noch Province Lands hieß und keine Stadt war, nannte man sie wegen der kriminellen Aktivität auch Helltown. Mit Helltown war es vorbei, als Walfänger versklavte portugiesische Seeleute von den Azoren dorthin brachten und die Region auf Fischerei umsattelte. Andere Fischer, die aus eigenem Antrieb kamen, bauten schließlich die wunderschöne Kirche St. Peter the Apostle, in der noch heute alljährlich die Flotte gesegnet wird. Als der Walfang Anfang des 20. Jahrhunderts an Bedeutung verlor, wurde das verschlafene Fischerdorf von Künstlern und Schriftstellern überrannt, die die Häuser der Fischer mieteten.

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Der WPA Guide to Massachusetts: The Bay State von 1937 enthält herrliche Beschreibungen von P-Town: von der Zeit, als die Stadt ein Zentrum für den Rumschmuggel war, und den Anfängen des Fischfangs und der Meersalzgewinnung – eine Zeit, als "die Leute statt Rasen Algenteppiche vor der Haustür hatten und ihre Kinder warnten, nicht bei Flut die Straße zu überqueren". Doch 1937 war die Fischerei bereits passé: "So mancher alter Kapitän hat jetzt ein Schild mit der Aufschrift ‚Fremdenzimmer' aufgehängt und wartet auf die Sommergäste. Künstler blockieren mit ihren Staffeleien die Wege, zum abendlichen Zirpen der Grillen gesellt sich das Klappern der Schreibmaschinen und aus den Künstlermansarden hört man rund um die Uhr die Dichter plaudern."

Mit den Touristen und Künstlern kamen auch die Homosexuellen, doch offensichtlich war meine jugendliche Kohorte aus Babyboomern und Gen-X-Queers ebenfalls nur eine vorbeiziehende Sanddüne. Dünen machen es richtig: Sie bewegen sich Stück für Stück, Sandkorn um Sandkorn und befinden sich plötzlich an einem ganz neuen Ort.


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Heutzutage haben Heterosexuelle kein Problem mehr damit, nach Provincetown zu fahren – und zwar nicht nur zum Gaffen. Unser Strand wurde von Touristen eingenommen, die uns nicht mal zu bemerken scheinen. Ihre Kinder, die styroporartige Schwimmnudeln und aufblasbares Spielzeug hinter sich her schleifen, sind ebenso unbeeindruckt. Sie ignorieren uns, als wären wir völlig normal.

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Was wir jetzt wohl auch sind. Zusammen mit meiner Freundin Arline Isaacson, einer wichtigen Vorkämpferin für Homorechte in Massachusetts, klage ich oft scherzhaft über unsere Mitschuld an dieser Entwicklung. "Was haben wir uns nur dabei gedacht?", lachen wir, doch eigentlich ist es uns auch ein wenig ernst.

Damit sind wir nicht allein. Letztes Jahr konnte ich mit jeder Lesbe und jedem Schwulen ins Gespräch kommen, indem ich mich augenzwinkernd über die heterosexuelle Invasion beklagte und darüber, dass Heteros einfach keine Angst mehr vor uns hätten. "Das ist der Preis dafür, dass wir akzeptiert werden", antworteten sie dann oft.

An der Kundschaft des beliebten Café Heaven lässt sich der Wandel in Provincetown ablesen.

Im April fuhr ich auf der Route 6 die Küste von Cape Cod entlang, an den Dörfern und Städten vorbei, in denen die Heteros immer Urlaub machten. Früher beschwerten meine Partnerin und ich uns immer, wie viel weiter Homosexuelle fahren mussten, um auch mal ihre Ruhe zu haben. Aber im Grunde war uns das egal, denn am Ende des Wegs wartete unser Himmel auf Erden.

Das Licht in Provincetown hat Generationen von Malern angezogen: Die Farben wirken tiefer und von unzähligen Schattierungen geprägt. Als ich das letzte Mal dort war, überkamen mich bei dem Anblick unzählige Erinnerungen an glückliche Jahrzehnte.

Provincetown hat einen leiterförmigen Grundriss: zwei etwa vier Kilometer lange Parallelstraßen, Commercial Street und Bradford Street, die durch Einbahnstraßen verbunden sind. "Das Dorf ist nur zwei Straßen breit", hieß es 1937 im WPA Guide, "aber es erstreckt sich fast sechseinhalb Kilometer entlang der inneren Küste des Kaps. Von dessen Ende krümmt sich Long Point wie ein sandiger Finger um seinen Hafen."

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Auf der Fahrt in die Stadt erinnerte ich mich an die herrlichen Zeiten, in denen ich als junge Frau in Provincetown herum­spazieren oder -radeln konnte, ohne von Männern angestarrt zu werden. Ich konnte mich entspannen und dazugehörig fühlen. Wir alle kannten damals Leute, die geschlagen oder ermordet worden waren oder die AIDS von der Seite ihrer Partner gerissen hatte. Die Bundesstaaten hielten Referenden ab, um uns das Unterrichten zu verbieten und unsere Gleichstellung zu verhindern. Die Republikaner bezeichneten uns im Fernsehen als pervers und degeneriert. Es war abscheulich – abscheulicher, als ich in Worte fassen kann.

Ich holte das Rad aus meinem SUV und fuhr im leichten Aprilregen gemächlich die Commercial Street entlang. Bis auf die fehlenden Menschenmassen war alles unverändert. Die Gärtner zupften Unkraut. Die Ladeninhaber hielten vor ihren Geschäften ein Schwätzchen.

Herring Cove Beach ist im April noch menschenleer. Im Sommer ist der Strand ein beliebter Zufluchtsort für Schwule und Lesben.

Bei Century, einem Geschäft für edle Uhren, Schmuck und Taschen, sprach ich mit Brenda LeBlanc, einer dunkelhaarigen Butch in meinem Alter, die hier ganzjährig den Laden ihres Bruders führt. Ihr zufolge geht es dem Einzelhandel schlecht, weil die Frühstückspensionen teurer geworden und die Mieten gestiegen sind. Deshalb bleiben fast jede Woche Zimmer leer, außer vielleicht zu beliebten Terminen wie dem 4. Juli, der Carnival Week, der Woche für schwule und lesbische Familien oder der Bear Week.

Dann besuchte ich Spiritus Pizza, ein Restaurant mit Kultstatus, das im Sommer zum Cruising-Mekka wird. Die nächste Station waren die Galerien. Zuerst machte ich Halt bei der Julia Heller Gallery, wo man auf dem Boden sitzend in Meisterwerken von Milton Avery, Blanche Lazzell und Robert Motherwell stöbern kann. Doch die Galerie öffnet nur noch nach Vereinbarung, also radelte ich weiter durch das East End. Zum Schluss zog es mich zum neuesten kulinarischen Hotspot: der Joon Bar & Kitchen im Westen des Orts, fast schon die letzte Adresse vor der Küstenwache. Selbst Ende April musste ich hier auf einen Tisch warten.

Kurz vor meiner Abfahrt am Montagmorgen saß ich mit Kaffee und Gebäck im Joe's und lauschte einer Gruppe grauhaariger Männer, die sich beschwerten, wie sehr sich der Ort verändert habe.

Aber ist das nur schlecht? Nach den idyllischen Trips damals in den 1990ern war das Abschiednehmen immer grausam. Widerwillig und den Tränen nahe ins Auto zu steigen und die Rüstung wieder anlegen zu müssen. Meine Partnerin hasste vor allem den Halt an der Tankstelle in Truro, wo wir angestarrt wurden: zwei kurzhaarige Frauen in langen Shorts und einfachen T-Shirts, die sich in ihren Körpern wohlfühlten, die Fahrräder auf dem Autodach. Es war klar, was wir waren, und den Einheimischen gefiel das nicht.

Vielleicht haben wir unseren Zufluchtsort verloren, aber dafür ist im Mainstream ein bisschen gay inzwischen OK. Vielleicht kein so schlechter Deal.

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