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Alkohol

Warum ein Kater sich manchmal gut anfühlt – und warum das gefährlich ist

Wir haben Kopfschmerzen, sind völlig ausgetrocknet und noch restbetrunken – eigentlich kein Spaß. Aber vielleicht halten wir uns den Kater auch als Haustier. Denn eine gute Ausrede ist er durchaus.
Bild: Satori / Alamy Stock Photo

Der Morgen ist nicht das einzige, das graut. Dir graut es auch vor diesem Tag, den du in deinem zerstörten Zustand überstehen musst. Und wenn deine Haare nicht schon grau werden, dann hat zumindest deine Haut heute einen dezenten Grauton: Katertag. Ein Tag, der dank Alkohol am Vorabend völlig für den Allerwertesten ist – Erledigungen werden aufs Nötigste reduziert, bis du hoffentlich ungestört fettiges Lieferessen in dich reinstopfen und Netflix schauen kannst.

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Aber irgendwie gefällt dir das auch, oder? Der Schmerz prangt wie eine Medaille an deiner Brust, auch wenn du schwörst, dass du es nie wieder tun wirst. Die Bars und Pubs dieser Welt quellen über vor gerahmten Zitaten von Sinatra, Hemingway, Churchill – Männer, die irgendwie als Helden einer vergangenen Ära gelten und die sich in Oden an den Alkohol ergießen. Die jüngeren Generationen werden heute gern mal für ihren angeblichen Gesundheitswahn und ihre Superfood-Obsession ausgelacht, aber sich die Kante zu geben, ist eine sehr lebendige Tradition.

Auch in fiktiven Storys findet der Kater immer wieder einen Platz, bietet er doch gute Erzählmöglichkeiten rund um Strafe, masochistisches Leiden und Wiedergutmachung. Im echten Leben erfüllt nicht jeder dieser Punkte einen Zweck im Plot. Was bei Hangover zum Beispiel sofort als unrealistisch auffällt: Die Figuren sind so voller Leben, sie rennen, schreien und betreten laute Clubs, ohne zu zucken. In anderen Worten, sie verhalten sich kein bisschen verkatert. Am Ende der recht austauschbaren Filme steht die Wohlfühl-Message vom geteilten Leid, das zu Bromance wird.

Menschen genießen den Kater – diese geteilte Heilphase, in der sie mit Freunden bei fettigen Essen die Snapchat-Highlights vom Vorabend teilen.

Tatsächlich gibt es Forschung, die darauf hindeutet, dass die positiven Assoziationen, die wir mit Katern haben, ein echtes Phänomen sind. Der norwegische Gesundheitsforscher Eivind Grip Fjær fand in Befragungen unter Männern und Frauen im Alter von 18 bis 23 heraus: Menschen genießen diese geteilte Heilphase, in der sie mit Freunden bei fettigen Essen die Snapchat-Highlights vom Vorabend teilen.

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Gerade für junge Menschen scheint der Kater Teil der Party-Story zu sein – irgendwie muss man ja versuchen sich gemeinsam zu erinnern, was alles passiert ist. "Ich war überrascht, wie wenige Menschen den Kater auch als eine Form der Strafe sehen", berichtet Fjær. Selbst negative Erfahrungen haben ihren Platz in der Geschichte – deine übertrieben tränenreiche Reaktion, als der DJ deinen Song nicht spielen wollte, wird zur geteilten Tragödie. "Sie hätten diese peinlichen Erfahrungen für sich behalten können", schreibt Fjær. "Aber indem sie ihren Freunden erlauben, sie zu ärgern, können alle zusammen darüber lachen. Das scheint eine Art Bewältigungsmechanismus für beschämende und unerfreuliche Erfahrungen zu sein."


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Wie ist es so normal geworden, dass wir unserem Körper derart üblen Schaden zufügen? Immer wieder gibt es Diskussionen über die Gefahren von chemischen Partydrogen, Trinken dagegen ist derart verbreitet, dass wir es gar nicht infrage stellen. Julie Breslin von Addaction, einer britischen Charity im Bereich psychische Gesundheit und Drogen, ist überzeugt, dass der legale Status des Alkohols eine Schlüsselrolle spielt. "Das ist der große Unterschied. Alkohol ist sozial akzeptiert und nahezu überall erhältlich", sagt sie. Soziale Anlässe, zu denen getrunken wird, seien tief in der Gesellschaft verankert. Ob es etwas zu feiern oder zu betrauern gibt, Alkohol ist immer dabei. "Trotz der Schäden, die Alkohol auslösen kann, haben wir trinken normalisiert", sagt Breslin. "Dabei ist bekannt, dass es zu Krebs, Herzkrankheiten und anderen Gesundheitsproblemen führen kann."

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Alkohol ist überall, in Gesellschaft und Popkultur, aber wir haben nicht nur das Bier um Vier normalisiert, sondern auch das hemmungslose Besaufen. Schwanken, laut singen und gröhlen, Verflossene mitten in der Nacht anrufen – auch der Exzess ist in unsere Kultur geschrieben. Maddy Lawson, zuständig für Kommunikation bei der britischen NGO Alcohol Concern, sagt: "Die meisten glauben, wir trinken 'normal', selbst wenn wir viel mehr trinken, als die Medizin empfiehlt. Selbst wenn es negativen Einfluss auf unser Leben hat." Viel zu trinken gelte oft sogar als bewundernswert.

"Wir bemerken Alkoholprobleme erst, wenn sie sehr, sehr schwerwiegend sind. So gehen wir mit anderen Drogen nicht um."

Das hat sicherlich damit zu tun, dass wir Alkohol in jeden Lebensbereich, in jede Stimmung integriert haben. Ein Drink passt immer, ob wir uns langweilen oder wahnsinnig beschäftigt sind. "Wir bemerken Alkoholprobleme erst, wenn sie sehr, sehr schwerwiegend sind", sagt Lawson. "So gehen wir mit anderen Drogen nicht um." Dabei bräuchten Menschen, die zu viel trinken, dieselbe Unterstützung wie alle anderen, die Drogenprobleme hätten.

Darüber spricht nur niemand gern. Echte Alkoholprobleme sind einfach nicht so witzig wie Comedy-Filme und Facebook-Memes. Sie sind langweilig und beklemmend. Abhängigkeit sieht immer irgendwann so aus, dass wir etwas tun, ohne dass es dabei überhaupt noch um Genuss geht – weil wir einfach überzeugt sind, es zu brauchen.

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Foto: Avico Ltd / Alamy Stock Photo

Ich selbst habe auch erkannt, dass ich den Kater zu sehr genieße, aber nicht aus den Gründen, die der norwegische Forscher aufgezeigt hat. Mir gefällt dieses Gefühl, dass sich der Körper wieder aufbaut und erholt – die Kopfschmerztablette wirkt, die Sicht wird klarer, Flüssigkeit kehrt in die Zellen zurück. Für manche kommt dieser Katertag vielleicht zweimal im Jahr. Selbst Leute, die jedes Wochenende trinken, bemerken diesen Effekt vielleicht nicht. Aber wer diesen Zyklus von High und Crash regelmäßig, oder sogar täglich, durchmacht, erkennt vielleicht früher oder später, dass es einen Namen dafür gibt: Selbstverletzung.

Außerdem liefert ein Kater eine ausgezeichnete Ablenkung. Wie oft habe ich deswegen etwas liegenlassen ("So kann ich mich nicht konzentrieren"), mich aus Verabredungen gewieselt ("Ich fühle mich zu elend") oder einfach nicht über größere Probleme nachdenken müssen, weil ich mit dem unmittelbaren Problem beschäftigt war: wieder fit werden. Bei anderen Formen der Selbstverletzung ist es auch so. Der Schmerz wird vorübergehend dein Fokus, sodass du die anderen Dinge nicht so deutlich spüren musst.

Die echte Gefahr ist nicht wie bei Hangover, dass wir plötzlich fremde Babys und Tiger in unserer Wohnung finden, sondern dass wir schlechte Gewohnheiten verfestigen – oder sogar schädliches, selbstverletzendes Verhalten.

Ob wir allein getrunken haben oder mit anderen, ein Kater liefert uns immer eine Ausrede. Wir lecken unsere Wunden und müssen das Gift loswerden, das vergangene Nacht so viele unvernünftige Entscheidungen gerechtfertigt hat. Leider bestätigen wir damit auch immer wieder, dass Alkohol – vom Bier um vier bis hin zum völligen Besäufnis – eine gute Idee ist. Manchmal ist er das auch. Ab und zu ist es vielleicht gut, seine Hemmungen abzubauen und am nächsten Tag mit Freundinnen und Freunden darüber zu reden.

Die echte Gefahr ist nicht wie bei Hangover, dass wir plötzlich fremde Babys und Tiger in unserer Wohnung finden, sondern dass wir schlechte Gewohnheiten verfestigen – oder sogar schädliches, selbstverletzendes Verhalten. Wir sehen uns selbst gern als berauschte Hedonisten statt als besoffene Idioten. Aber das Leben ist nun mal keine Komödie.

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