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Arbeiterklasse

Was junge Menschen in ihrem schlimmsten Job über das Leben gelernt haben

"Ich habe zwar aufs Fliessband gekotzt, aber auch gelernt, die Arbeiterschicht zu respektieren." – Luisa, 24.
In einem Job auf niedrigster Qualifikationsstufe zu arbeiten ist für rund zwei Prozent der Menschen in der Schweiz Lebensrealität. | Foto ArtsyBee | Pixabay | CC0

Um Geld zu verdienen, mussten schon viele von uns unangenehme Dinge tun. Sei es, in einem lächerlichen Kostüm herumzulaufen, stundenlang an einer Supermarktkasse zu sitzen oder verfaulte Kirschen von einem Fliessband zu picken. Diese Art von Jobs sind in den wenigsten Fällen befriedigend, bringen kaum die Arbeitserfahrung, die man für sowas wie eine Karriere benötigen würde und kratzen auch schon mal an der Würde.

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In einem Job auf niedrigster Qualifikationsstufe zu arbeiten, zum Beispiel als Hilfskraft, ist hingegen für rund zwei Prozent der Menschen in der Schweiz nicht nur vorübergehend Teil ihrer Lebensrealität. Kathrin Ziltener, Jugendsekretärin der Gewerkschaft Unia sagt auf Anfrage von VICE: "Im Gegensatz zu anderen Menschen ohne Berufsausbildung machen Studentinnen und Studenten diese Jobs mit dem Wissen, dass dieser Abschnitt irgendwann vorbei ist." In der Schweiz arbeitet fast jeder zweite Studierende während dem Studium in so einem Job und ist so in eine Gesellschaftsschicht eingebunden, zu der er oder sie nach dem Abschluss kaum mehr Berührungspunkte hat. Wir wollten von jungen Menschen wissen, was sie aus diesem Einblick in eine andere Lebensrealität gelernt haben.

Sandra, 29, Millionenlose verkaufen, 20 Franken pro Stunde
"In einem Einkaufszentrum habe ich Millionenlose verkauft. Zu allen Kunden freundlich zu sein und ihnen hundertmal dasselbe zu erklären, war recht mühsam. Ausserdem habe ich dabei gelernt, dass es gewisse Grenzen gibt, was die Würde in Jobs anbelangt. Ich durfte während der Arbeit weder Essen noch Trinken. Mein Chef kam sogar ab und zu vorbei, um sicherzugehen, dass ich nichts trinke. Das würde ich heute nicht mehr mit mir machen lassen."


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Kevin, 26, Grabstein setzen, 30 Franken pro Stunde
"Mein absurdester Nebenjob bisher war es, einen Grabstein zu setzen: Besonders schräg war, dass ich das Loch für den Grabstein grub, während nebenan der Sohn des Verstorbenen spielte. Aber irgendwie war genau das auch das Schöne an der Situation. Dem Kind war es völlig egal, dass es hier auf dem Friedhof ist und eigentlich gerade etwas Trauriges passiert. Es hat einfach gespielt. Das zeigte für mich den schönen Kontrast zwischen Tod und neuem Leben auf. Obwohl sich wohl kaum jemand eine Tätigkeit auf dem Friedhof als netten Zeitvertreib vorstellt, habe ich gelernt, dass auch eine Arbeit mit Verstorbenen auf eine schräge Art und Weise sehr schön sein kann."

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Mengia, 28, Staubsauger verkaufen, 20 bis 25 Franken pro Stunde

"Neben dem Studium arbeitete ich für viele Promofirmen. Für die meisten dieser Jobs musste ich in einem Supermarkt mitten im Nirgendwo Staubsauger verkaufen. Von Staubsaugern hatte ich keine Ahnung, musste diese aber irgendwelchen Leuten andrehen. Bei mehreren Pärchen führte das vor meinen Augen leider zu einer kleinen Beziehungskrise. Aber das eigentlich Mühsame am Job war eine Vertreterin einer Konkurrenzagentur. Sie verkaufte Kaffeemaschinen und schien irgendwie verwirrt. Sie redete ständig mit mir, erzählte mir ihre halbe Lebensgeschichte und roch schon frühmorgens nach Alkohol. Trotzdem hatte sogar dieser Job etwas Gutes: Er hat mich darin bestärkt, meinen Weg zu gehen und am Studium dranzubleiben. Damit ich irgendwann etwas machen kann, was mir wirklich Spass macht."

Florin, 26, Eier verteilen, ca. 100 Franken für einen Nachmittag
"Bei etwa dreissig Grad habe ich in einem Hühnerkostüm gekochte Eier verteilt. Der Cousin eines Freundes war bei einer Marketingagentur angestellt und überredete mich und weitere Freunde unserer Gruppe dazu. Wofür wir mit den gekochten Eiern Werbung gemacht haben, wissen wir bis heute nicht genau. Auf den Eiern war sowas wie 'Bald kommt etwas' aufgedruckt. Nur gekommen ist nie etwas. Im Nachhinein haben wir erfahren, dass das eine Marketingaktion für die Onlineplattform irgendeiner Zeitung war. Das Schlimmste war aber nicht, mit einem Hühnerkostüm herumzumarschieren und von Bekannten erkannt zu werden, sondern viel mehr die Hitze. Immerhin dauerte das Ganze nur etwa vier Stunden. Das Geld, das ich verdient habe, habe ich wahrscheinlich noch am selben Tag für Bier ausgegegeben. Meine Lektion dabei? Frei nach Xavier Naidoo: Was wir alleine nicht schaffen, schaffen wir zusammen."

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"Ich fühlte mich zeitweise wie ein Mensch zweiter Klasse. Das sagt einiges über unsere Gesellschaft aus."

Rosie, 26, Flyern, 15 Franken pro Stunde
"Für irgendeine Promotionfirma habe ich in einer Bahnhofshalle Flyer verteilt. Ich merkte genau, dass ich gerade der meistgehasste Mensch dort war. Aber dennoch musste ich halt allen einen Flyer in die Hand drücken. Mit der Zeit schaust du dir die Leute auch nicht mehr so richtig an, sondern streckst ihnen einfach das Papier entgegen. Auf einmal steht der Schauspieler Emil Steinberger vor mir und meint in sehr genervtem Tonfall: 'Was soll ich jetzt damit?!' Aber was sollte ich machen – ich habe nur meinen Job gemacht. Das Wissen, dass ich alle mit diesen Flyern nerve, war etwas vom Mühsamsten am Job. Dadurch empfinde ich jetzt aber auch Solidarität mit Menschen, die das für mehr als ein paar Semester machen müssen. Ich fühlte mich zeitweise wie ein Mensch zweiter Klasse. Das sagt einiges über unsere Gesellschaft aus."

Luisa, 24, Kirschen aussortieren, 15 Franken pro Stunde
"Meine Aufgabe war es, in einer Früchtefabrik den nie endenden Strom von schwarzroten Kirschen zu beobachten und verfaulte oder schimmlige von Hand herauszupicken. Ich bin einmal zur Arbeit und mir war schon vor Arbeitsbeginn etwas übel. Die Arbeit am heissen Fliessband und der Geruch von Kirschen machten das nicht besser. Plötzlich musste ich mich übergeben. Auf das Fliessband. Die Aufsicht hat natürlich sofort die Produktion gestoppt und das ganze Band musste gereinigt werden. Ich wurde nach Hause geschickt. Dort traf ich auf meine Mutter, die ebenfalls früher von der Arbeit zurückgekehrt war, weil sie sich übergeben hatte: Magendarmgrippe. Meine Lehre aus diesem Job ist, dass ich unbedingt weiter zur Schule gehen sollte, weil ich nicht mein ganzes Leben solche Jobs machen möchte. Es hatte einige Erwachsene, die dort waren und es hat mich traurig gemacht, mir vorzustellen, dass ich sowas allen Ernstes mein Leben lang machen müsste. Gleichzeitig habe ich dabei die 'Arbeiterschicht' respektieren gelernt."

Annina, 28, an der Supermarktkasse, 25 Franken pro Stunde
"Jetzt arbeite ich als Lehrerin und habe dementsprechend viele Freiheiten. Als ich während meines Studiums an der Supermarktkasse gearbeitet habe, hatte ich das nicht. Die Arbeit beginnt und endet auf die Minute genau dann, wie es auf dem Arbeitsplan steht. Du musst zwar nicht Kopfrechnen können aber diese achteinhalb Stunden, die du arbeitest, musst du den Kopf bei der Sache haben und zu jedem Kunden freundlich sein. Auch wenn schon zum zehnten mal jemand fragt, wieso denn das EC-System nicht funktioniert. Ich lernte dadurch sehr, die kleinen Freiheiten zu schätzen, die ich jetzt habe – und Respekt für Leute zu haben, die an der Kasse und generell im Verkauf arbeiten. Die haben zwar vielleicht kein Studium aber leisten eine Arbeit, bei dem man etwas können muss. Dass acht Stunden an der Kasse zu sitzen anstrengend ist, glaubt zwar keiner, aber das ist es."

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