Links hält eine Frau ein Transparent für den Hambi, rechts ein Mann ein Plakat für den Hund Chico.
Foto Hambi: imago | blickwinkel; Foto Chico: Hakki Topcu

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Klimawandel

Der Hambacher Forst ist der Chico der Umweltschützer

Der Kampf für den Wald ist sinnlos und symbolisch – lenkt aber super von der eigenen Verantwortung ab.

Sie jubeln, tanzen, schwenken Hula-Hoops, Luftballons und Fahnen: Zehntausende Menschen feiern im Hambacher Forst den Rodungsstopp, den ein Gericht am Tag zuvor verkündet hat. Sie feiern ihren Sieg: Sie haben es geschafft, einen uralten Wald vor der Zerstörung durch den skrupellosen Energiekonzern RWE zu retten.

Acht Tage später demonstrieren wieder tausende Menschen vor den Toren von RWE. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Konzerns, die wegen des Abbaustopps jetzt um ihre Jobs fürchten – 4.600 Arbeitsplätze hingen am Tagebau Hambach, sagt der Konzern. Jetzt müsse man sehen, wie viele man davon streichen wird.

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Der Kampf der Kumpel interessiert fast niemanden. Die Umweltschützerinnen und Umweltschützer hingegen haben es geschafft, ihren Kampf um den "Hambi" zum nationalen Thema zu machen, am Ende begleiteten mehrere überregionale Medien die Räumung mit Live-Tickern.

Warum das kleine Waldstück so viele Menschen bewegt, ist nicht schwer zu verstehen: Die Bilder von den großen Maschinen, die den alten Wald zerstören, berühren etwas in uns, sie lassen uns sentimental werden. Und gleichzeitig ist der Konflikt so herrlich einfach zu verstehen: hier das unberührte Natur-Paradies, dort der Großkonzern.


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Aber genau das ist das Problem: Der Kampf um den Wald appelliert an so einfache Bedürfnisse, dass er zum "Chico" der Naturschützer geworden ist. Damals hielten Menschen im Namen des Tierschutzes Mahnwachen für einen eingeschläferten, hochgefährlichen Kampfhund ab – gaben aber offen zu, dass sie gerne Fleisch essen.

Heute feiern Hunderttausende Menschen in ganz Deutschland die Rettung eines kleinen Stückchen Waldes am Rande einer Kohlegrube – und müssen sich dann nicht mehr damit auseinandersetzen, wie komplex der Kampf gegen den Klimawandel ist. Und welche Verantwortung sie selbst tragen.

Dem Wald geht es gut, danke

"Die haben dem Baum weh getan!" Die Frau zittert vor Erregung, als sie das ruft, Tränen laufen ihr über die Wange. "Die denken wahrscheinlich, sie haben gewonnen, aber sie können nicht gewinnen! Weil sie den Wald genauso brauchen, und diese Erde!"

Das sind die Worte einer Umweltschützerin aus dem Hambacher Forst, die die Polizistinnen und Polizisten gerade gewaltsam aus ihrem Baumhaus gezogen hatten. Das Video von ihrer emotionalen Rede wurde ein viraler Hit. Auf Facebook haben es über 3,5 Millionen Menschen gesehen, viele davon loben die Frau für ihren Mut, einer nennt sie "eine Kriegerin, eine Verteidigerin unseres Raumschiffes Erde und unser aller Mutter".

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Das Problem ist nur: Wir brauchen diesen Wald nicht, und die Erde braucht ihn auch nicht. Die Facebook-Memes, die behaupten, dass RWE den "letzten großen Mischwald Mitteleuropas" roden will, sind absoluter Unsinn. In Deutschland gibt es heute viel mehr Waldfläche als noch vor hundert Jahren, und sie wächst weiter. Allein in Nordrhein-Westfalen, in denen die letzten 200 Hektar des Hambacher Forsts stehen, gibt es noch 900.000 andere Hektar Wald.

Natürlich war der Wald nicht für alle Demonstranten im Forst der Hauptgrund für ihren Protest. Daran beteiligt haben sich fast alle Organisationen, die auch sonst energisch gegen den Kohleabbau demonstrieren. Greenpeace, "Ende Gelände", der BUND und die Grünen. Die haben auch vollkommen recht, wenn sie die Kohlekraft als veraltet, ineffizient und schmutzig kritisieren. Aber um Lösungen für den Klimawandel zu finden, bringt es auch diesen Organisationen nichts, sich an die Baum-Romantik der Bevölkerung zu ketten – eher im Gegenteil.

Was Chico mit dem Wald zu tun hat

Knapp 60 Menschen versammelten sich an einem heißen Apriltag in Hannover, um ihre Wut kundzutun. Sie waren wütend, weil die Stadt Hannover einen Hund eingeschläfert hatte, der zwei Menschen totgebissen hatte. "Für uns ist Chico unser Held! Unser Freiheitskämpfer!", rief ein Redner, und dann: "Er ist unser Chico-Vara!"

Damals wunderten sich viele Beobachter über die Empörung, die das Schicksal eines einzelnen Hundes auslöste – vor allem bei Leuten, die selbst noch nie darüber nachgedacht hatten, vegetarisch zu leben. Ein junger Gegendemonstrant hatte eine Erklärung dafür: "Es ist halt viel einfacher, hier Kerzen aufzustellen, als darüber nachzudenken, wie viel tierisches Leid die eigene Lebensführung anrichtet."

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Die Sentimentalität, die den Kampf um den Hambacher Forst vor allem online begleitet, erinnert ein bisschen an die Chico-Jünger. Und der Verdacht liegt nahe, dass auch die Motivation bei vielen Unterstützern ähnlich ist: Sich von der eigenen Verantwortung abzulenken, indem man sich auf einen einfachen Konflikt mit klar verteilten Rollen stürzt.

Denn die Anforderungen, die der Klimawandel an den Einzelnen stellt, sind genauso klar wie hart. Mülltrennen, Energiesparlampen oder kürzere Duschen werden nicht reichen. Der Weltklimarat hat mittlerweile vier sehr klare Empfehlungen für alle herausgegeben, die ihren CO2-Fußabdruck ernsthaft verringern wollen:

  • Ein Kind weniger haben
  • Autofrei leben
  • Transatlantische Flüge vermeiden
  • Sich ausschließlich pflanzlich ernähren

Einfach, aber hart. So hart, dass man es eigentlich niemandem verdenken kann, wenn er stattdessen lieber ein emotionales "Gold kann man nicht essen!"-Zitat mit Indianer-Bild und #hambibleibt-Hashtag auf Facebook postet – und dann nicht weiter drüber nachdenkt.

"Kettensägen zu Windrädern!" – Hambi-Doppelmoral, die zweite

Und das ist nur die individuelle Ebene. Denn auch wenn man glaubt, dass der Einzelne gegen den Klimawandel nicht viel ausrichten kann, solange das System nicht mitmacht, bekommt man mit der "Kein Baum ist egal"-Haltung bald Probleme.

Laut einer Umfrage sind 70 Prozent der Deutschen gegen die Rodung des Hambacher Forsts. Dementsprechend positiv fiel auch die Resonanz aus, als der Rodungsstopp bekannt wurde. Das Problem ist nur, dass die Freude über die Rettung des Forstes all die Ungereimtheiten verdrängt, die die neue Klimapolitik so mit sich bringt.

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Zum Beispiel: Ohne Atomausstieg, den ebenfalls 70 Prozent der Deutschen befürworten, bräuchten wir die Hälfte aller heute laufenden Kohlekraftwerke nicht mehr.

Noch schwieriger: Ganze 80 Prozent sind gegen den Ausbau von Windenergie in Waldgebieten. Sie haben dafür auch gute Gründe. Für jedes Windrad müssen zwischen einem und anderthalb Hektar Wald gerodet werden – und das wird auch fleißig gemacht. Während die Umweltschützer im Hambacher Forst für das Leben jedes Baumes kämpfen, werden im 40 Kilometer entfernten Aachener Münsterwald Tausende Bäume gefällt, um dort zwölf Windräder aufzustellen.

Es ist also völlig absurd, wenn die Linke im Bundestag eine Solidaritätserklärung mit den Hambi-Protesten unter dem Titel "Kettensägen zu Windrädern!" herausgibt. Man braucht Kettensägen, um Windräder aufzustellen. Die Rettung aller Bäume und die Rettung der Erde, das ist eben nicht immer dasselbe.

Also: Dass der Hambacher Forst erstmal stehen bleibt, ist toll – besonders für die Wühlmäuse, die da leben. Aber wer will, dass das mit dem Kohleausstieg und dem Ende der Erderwärmung wirklich klappt, der darf sich nicht nur darüber freuen, dass RWE jetzt ein paar Millionen in der Grube versenkt hat. Sondern der sollte sich überlegen, wie viel er bereit ist, selbst zu opfern.

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