leerer Plenarsaal des Bundestags
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Bundestagsabgeordnete

Warum ich als Abgeordneter keine Zeit habe, dauernd im Parlament zu sitzen

Ein Gastbeitrag von Konstantin Kuhle (FDP), Mitglied des Bundestags.

Seit gut einem Jahr gehöre ich als Abgeordneter dem Deutschen Bundestag an. In dieser Zeit habe ich viel gelernt – über die politische Arbeit in Berlin, über die Stärken und Schwächen von Menschen und über die Fachthemen, für die meine Fraktion mich eingeteilt hat. Am wichtigsten ist jedoch, dass ich nun weiß, welches Thema den Menschen in Deutschland am meisten auf der Seele brennt: Es ist die Frage danach, wie viele Abgeordnete wann und wie lange im Plenum sitzen.

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Kein Gespräch mit Freunden, Kollegen oder Verwandten kommt ohne die Frage aus. Keine Besuchergruppe in Berlin, bei der die bohrende Nachfrage nicht kommt. Kein Video einer Rede im Plenum, bei der in den Kommentarspalten nicht nachgefragt wird. Kein Foto aus dem Plenarsaal, ohne dass sich jemand brennend dafür interessiert: Warum sitzen in der Regel nur so wenige Abgeordnete im Plenum des Deutschen Bundestages?

Seit dem Einzug der AfD ins Parlament hat sich die Diskussion über mein Sitzfleisch und das meiner Kolleginnen und Kollegen weiter verschärft. Von Anfang an legten es die Rechtspopulisten darauf an, die anderen Abgeordneten als faule Schmarotzer darzustellen, die ihrer Arbeit nicht nachkommen würden. Einzig der Abgeordnete, der den ganzen Tag im Plenum rumhängt, sei ein guter Abgeordneter.

Mit dieser Erzählung hat die Debatte über das Sitzen im Plenum eine neue Ebene erreicht. Wer das verfolgt, hat den Eindruck, dass es sich beim mangelhaften Sitzverhalten der Abgeordneten um die Urkatastrophe des deutschen Parlamentarismus handelt. Wer nicht im Plenum sitzt, ist nicht nur faul, sondern auch korrupt und arbeitsscheu bis in die Haarspitzen. Mit mehr dauersitzenden Abgeordneten wäre Deutschland ein besseres Land.


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Das ist gefährlicher Unfug. Wer ihn verbreitet, vertritt in Wahrheit ein autoritäres Staatsverständnis. Denn frei gewählte und nur ihrem Gewissen verpflichtete Abgeordnete sind mehr als Abnicker und Claqueure. Sie sind Volksvertreter, die durch den aktiven Austausch mit Menschen und durch die kritische Auseinandersetzung mit Problemen neue politische Ideen entwickeln, für die sie andere Menschen gewinnen wollen.

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Es ist für die Abgeordneten schlichtweg nicht möglich, während der gesamten Sitzungszeit im Plenum anwesend zu sein. Das liegt daran, dass der Deutsche Bundestag ein arbeitsteiliges Parlament ist. Ich selbst bin Mitglied im Ausschuss für Inneres und Heimat und im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Gemäß der Absprache in meiner Fraktion versuche ich, bei allen wichtigen innen- und europapolitischen Debatten im Plenum anwesend zu sein – so wie alle Kolleginnen und Kollegen in ihren Fachbereichen.

Damit komme ich während der Plenumszeit, also von Mittwochnachmittag bis Freitagnachmittag auf durchschnittlich fünf bis sechs Tagesordnungspunkte. Wenn nicht gerade die Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung abgibt oder die Fraktionsvorsitzenden sprechen, bleibe ich den restlichen Debatten fern. Und zwar mit voller Absicht.

Während 21 Wochen eines Jahres tagt der Bundestag in Berlin. In der übrigen Zeit hält man sich als Abgeordneter weniger in Berlin auf, da meine Wählerinnen und Wähler im Wahlkreis Göttingen und in Niedersachsen ihren Abgeordneten auch mal zu Gesicht bekommen wollen. Für bestimmte Termine in Berlin bleiben also nur die 21 Sitzungswochen. Zu diesen Terminen gehören für mich als Innenpolitiker etwa Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern der Sicherheitsbehörden oder mit Journalistinnen und Journalisten, die sich im Bereich der Innen- und Europapolitik besonders auskennen.

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Ich bin darauf angewiesen, bestimmte Texte in Ruhe zu lesen, um mir eine Meinung zu den Vorlagen in den Ausschüssen oder im Plenum des Deutschen Bundestages bilden zu können. Als Abgeordneter hat man das große Privileg, bei dieser Arbeit durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützt zu werden. Doch selbst die kürzeste Zusammenfassung muss irgendwann gelesen werden. Selbst der knackigste Vermerk kann zu Rückfragen führen. Und wer kluge und fleißige Mitarbeiter in seinem Bundestagsbüro beschäftigt hat, muss auch die Zeit haben, mit ihnen irgendwann über ihre Ideen zu sprechen.

Wer von den Abgeordneten verlangt, stattdessen pausenlos im Plenum rumzulungern, setzt sich für schlechter informierte Abgeordnete ein. Darunter leider die Qualität demokratischer Entscheidungen. Im Plenarsaal kann ich mich mit anderen Politikern unterhalten, aber nicht mit Polizeigewerkschaften, Bürgerrechts-Blogs und Bürgermeistern. Diese Gespräche sind auch an den anderen Tagen der Woche kaum möglich. Denn von Montag bis Mittwoch tagen Partei- und Fraktionsvorstände, Arbeitsgruppen und Arbeitskreise, Landesgruppen und Fraktion.

Man kann im Plenum des Deutschen Bundestages unmöglich in Ruhe lesen oder selbst etwas zu Papier bringen. Aufgrund der guten Akustik ist es laut. Immer wieder gibt es Zwischenrufe. In meiner Fraktion setzen sich alle Abgeordneten beim Wechsel eines Tagesordnungspunktes auf einen anderen Platz, damit jeweils die zuständigen Abgeordneten vorne sitzen können. Sobald ein Redner der eigenen Fraktion zum Rednerpult geht, rücken alle Abgeordneten einen Platz nach vorne, damit es im Fernsehen nicht so aussieht, als wäre die erste Reihe der FDP-Fraktion unbesetzt. Trinken und Essen sind im Plenum genauso verboten wie die Benutzung eines Laptops. Der Gedanke dahinter ist, dass die Abgeordneten sich im Plenum auf die Rednerin oder den Redner konzentrieren sollen. Das gebieten Anstand und Höflichkeit und es ist richtig so. Aber wer Politikerinnen fordert, die den ganzen Tag über in einer Vielzahl von Angelegenheiten sprechfähig sind, sollte ihnen auch die Zeit zubilligen, sich zu informieren.

Gegen Angriffe auf unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung werden wir nicht alleine sitzend vorgehen können, sondern indem wir laut und deutlich unsere Stimme erheben. Sitzen ist kein demokratischer Wert an sich – aber gut informierte Abgeordnete, die sich nicht nur mit anderen Abgeordneten, sondern auch mit Menschen und Meinungen aus der Bevölkerung, die sie vertreten, austauschen, schon.

Konstantin Kuhle (29) ist innenpolitischer Sprecher und Sprecher der Jungen Gruppe der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag.

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