Verschwörungstheorien

Wir haben einen Flat-Earther gefragt, warum Verschwörungstheorien ihn überzeugen

"Ich war auch einer, der sich in den YouTube-Kommentarspalten über die Flat Earther lustig machte", sagt Timothey – bis er seine Meinung änderte.
Flat-Earther Timothey vor einer braunen Wand
Bild von der Autorin

Die Erde ist eine Kugel. Okay, sie ist ein sogenanntes Ellipsoid, eine Kugel mit unregelmäßiger Oberflächenstruktur. Nur sicherlich nicht flach. Davon bin ich nicht nur überzeugt, es ist ganz einfach so. Das zeigen Satellitenbilder, das beweist die Wissenschaft, seit Jahrhunderten. Das eröffne ich Timothey bereits zu Beginn unseres Gesprächs. Er lächelt und wirkt, als würde er sich überlegen fühlen: "Ich war früher genau so."

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Timothey hat einen selbstbewussten, aufrechten Gang. Er sieht nicht aus wie jemand, der seine Zeit damit verbringt, im Keller Verschwörungsvideos zu gucken. Seine Haut ist braun gebrannt, und er scheint oft das Fitnesscenter zu besuchen. Seine grünen Augen wirken wach und interessiert. "Dir macht es nichts aus, Cabrio zu fahren?", fragt er, als wir in den silbernen Mercedes steigen. Er macht Musik an, irgendein Elektro-Remix. Die Frage, wie es dazu kam, dass er daran glaubt, dass die Erde flach ist, möchte ich mir eigentlich aufsparen, bis wir im Restaurant sitzen. Dann rutscht es mir doch raus:

"Was sagen eigentlich andere Menschen, wenn du ihnen eröffnest, dass du Flat-Earther bist?"

"Du wirst nie so schnell blockiert, wie wenn du jemandem über Facebook ein Flat-Earth-Video schickst."

Sobald Timothey über die Flat-Earth-Verschwörungstheorie redet, ist er voll in seinem Element. Alles andere wird nebensächlich "Mist, ich hab die Ausfahrt verpasst!". Also plaudern wir wieder über sein Sabbatical. Darüber, dass er froh ist, eine Pause von seinem alten Job als Buchhalter zu haben.

Wir gelangen zum Restaurant, haben Mühe, einen Parkplatz zu finden. "Keine Sorge, wenn wir keinen Platz finden, fange ich einfach laut an darüber zu reden, dass die Erde flach ist. Dann hauen die Leute schon ab", sagt er und grinst.


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Timotheys letztes Jahr wäre vermutlich anders verlaufen, hätte ihm der YouTube-Algorithmus an einem Abend kein Flat-Earth-Video vorgeschlagen. Er habe schon immer einen Hang zu Verschwörungstheorien gehabt. "Meinungen abseits des Mainstreams", wie er sagt. "Alles hinterfragen, was einem präsentiert wird. Schlussendlich gibt es immer jemanden, der profitiert."

"Was für Trottel", das sei auch sein erster Gedanke gewesen, als er auf die Flat-Earth-Theorie gestossen sei. "Ich war auch einer, der sich in den YouTube-Kommentarspalten über die Flat-Earther lustig machte." Aber anstatt das Ganze als hirnrissige Idee abzutun will er versuchen, das Gegenteil zu beweisen. Nämlich, dass die Erde sehr wohl rund ist. Dann fällt er ins berühmte Rabbithole. Er verbringt die folgenden Tage damit, sich stundenweise Material über die Flat-Earth-Theorie reinzuziehen. Er stösst auf Fragen, die er für sich nicht befriedigend beantworten kann, wie er sagt.

Was ihn überzeugt, sind Videos, in denen Verschwörungstheoretiker mit grossen Teleskopen aufzeigen, dass die Erde vermeintlich keine Krümmung aufweist. "Ich wurde immer skeptischer." Wie kann es sein, dass man die Krümmung der Erde nicht sieht? Zu dieser Zeit stellt er auch einige der Videos, die ihn besonders faszinieren, in ein Wissenschaftsforum. Er wird sofort blockiert. Die Fragen, die bei ihm offen bleiben, werden von den Flat-Earth-Videos im Netz beantwortet.

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"Es waren langsame Schritte bis zur Überzeugung", sagt er heute. Dann habe er sich gefühlt wie neu geboren. "Wenn du nicht mehr an den Globus glaubst, fallen damit ganz viele andere Glaubenskonstrukte zusammen."

Von da an fällt es ihm schwer, sich auf etwas anderes, als auf "die Wahrheitssuche", wie er es nennt, zu konzentrieren. Wenn er bei der Arbeit ist, will er nur noch weg, um zu forschen, wie er sagt. Er nimmt sich eine Woche Urlaub, die er mit YouTube-Videos im Netz verbringt.

Langjährige Freunde reagieren schockiert, können den fundamentalen Meinungswechsel nicht nachvollziehen. Auch seine Familie kann nichts damit anfangen. "Die finden das noch heute komisch. Aus ihrer Sicht habe ich Stunden, Tage und Wochen damit verbracht etwas zu hinterfragen, was ihrer Meinung nach keinen Sinn ergibt." Aber mit der Flat-Earth-Theorie sei es schlussendlich wie mit Religion und Politik. "Wenn du schwierige Themen nicht ansprichst, funktioniert das Zusammenleben trotzdem ganz gut."

Timothey gründet die erste Facebook-Flat-Earth-Gruppe der Schweiz, Flat Earth Switzerland. Obwohl er im realen Leben noch nie einen anderen Flat-Earther getroffen hat, findet er im Internet Gleichgesinnte. Ausser, er schickt die Videos seinen Facebook-Freunden. Dann reagieren die meisten aggressiv, beleidigen ihn, blockieren ihn sofort. Auch mir schickt er eines der Videos, als ich mit ihm über Facebook Kontakt aufnehme.

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Es wäre einfach, sich über Timothey lustig zu machen. Aber auf die Frage, wieso er denn die Videos verschickt, hat die Antwort fast etwas Rührendes, Kindliches: "Ich schenke jemandem etwas wertvolles. Ich schenke ihnen ein Stück Wahrheit."

Es hört sich so an, als hätte er sich die Welt mit der Theorie magischer gemacht, als sie ist: "Mit meiner Wahrheitssuche haben sich auch alle meine Prioritäten geändert. Früher war ich ziellos. Ich habe gearbeitet, Geld verdient, es wieder ausgegeben, habe Rechnungen bezahlt, führte dieses 08/15-Leben. Ich wusste ziemlich genau, wie die nächsten 40 Jahre ausschauen würden." Jetzt betreibe er lieber "Wahrheitsforschung". "Wie alle, die gerne Abenteuer haben."

Das Wort "Abenteuer" benutzt er oft, wenn es um die Flat-Earth geht. Eines seiner neuesten Abenteuer ist die "Fake History", wo es unter anderem auch darum geht, dass Dinosaurierfossilien künstlich sind, sie also nie existiert haben.

Wieso man eine falsche Geschichte erfinden sollte? Das frage er sich selbst auch. Aber er ist sich sicher: Da muss ein grösserer Grund dahinter stecken.

Er erzählt mir von einem seiner liebsten YouTube-Accounts. Der Macher dahinter sei kein Flat-Earther, aber ein Geologie-Enthusiast. "Ich liebe seine Videos. Denn du kannst von Anfang bis Schluss genau nachvollziehen, was passiert, siehst die Laborwerte und er erzählt dir seine Gedanken auf Augenhöhe frisch von der Leber weg."

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Auf Augenhöhe. Das ist der Punkt.

"Würdest du dir wünschen, dass die Wissenschaft in diesen Bereichen zugänglicher wäre?" "Ja klar! Wer es ehrlich meint, zeigt dir, wie du es prüfen kannst und schickt dich auf deinen eigenen Weg. Und wenn du Fragen hast, kannst du zurückkommen und sie stellen."

"Du wünschst dir, dass jemand auf dich zukommt und sagt: 'Hey, so habe ich herausgefunden, dass die Erde rund ist. Du kannst das gerne selbst ausprobieren.'?"

"Das wäre genial. Du würdest etwas dabei lernen und hättest Action, das wäre witzig!"

"Dann würdest du auf das eine oder andere Resultat kommen und ihr könntet darüber reden."

"Genau!"

"Und du wärst für diesen Diskurs offen?"

"Ja, im Grunde genommen ist es das Ziel, dass man die Wahrheit herausfindet. Wenn du schon einmal am Glauben gerüttelt hast, dass die Erde rund ist, kann man im schlimmsten Fall auch noch ein zweites Mal daran rütteln. Hauptsache, du findest das heraus, was stimmt."

Ich muss an eines meiner Lieblingszitate von Neil deGrasse Tyson, einem vehementen Gegner aller Flat-Earther, denken: "Das schöne an Wissenschaft ist, sie ist wahr, ob man daran glaubt oder nicht." Aber ich erinnere mich auch daran, dass ich mich in Gesellschaft von Wissenschaftlern oft dumm fühle. Ich verstehe selten, wovon sie genau sprechen, wenn sie in theoretische Diskussionen rutschen. Und denke daran, dass ich für länger als ich es gerne zugeben möchte dachte, Winston Churchill sei ein Präsident der Vereinigten Staaten gewesen.

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Kann man Menschen – und dazu gehöre auch ich – vorwerfen, dass sie wissenschaftliche Analphabeten sind? Oder wäre es nicht auch Aufgabe der Wissenschaft, die Kluft des Unwissens zu überbrücken und Informationen für alle verständlich aufzubereiten? Gäbe es weniger Verschwörungstheoretiker, wenn Wissenschaftlerinnen nicht in ihrem Elfenbeinturm sitzen würden und auf die Welt hinabblickten, sondern wenn sie sich mehr Mühe gäben, eine Sprache zu sprechen, die alle verstehen?

Für manche ist Timothey irgendein Verrückter, der zu viel Zeit auf YouTube verbracht hat. Auf mich wirkt er eher wie ein aufgeweckter, neugieriger junger Mensch, der zur falschen Zeit die falschen Informationen von den falschen Leuten bekommen hat. Klar, wer sich auswählt, nicht an die Wissenschaft zu glauben, rüttelt schnell auch am Staat, an Demokratie. An Timothey fällt mir nichts dergleichen auf. Ich sehe kein Glaubenskonstrukt, das für seine Umwelt gefährlich werden könnte. Viel eher für ihn selbst.

Ob er keine Angst habe, keinen Job mehr zu finden, wenn er sich hier so als Flat-Earther outet? "Doch das wird bestimmt schwieriger. Ich würde es nicht mehr, wie zu Beginn, durch die Gegend posaunen, dass ich glaube, dass die Erde flach ist. Aber ich oute mich vor jeder Person auf dieser Erde." Die Reaktionen auf sein Outing seien aber fast durchwegs negativ.

Jetzt auf der anderen Seite der Beleidigungen zu stehen, sei für ihn frustrierend. "Aber man sieht schnell, worauf die Leute ihre Meinung bauen." Wut löse in ihm nur eines aus: "Wie lange ich verarscht wurde ist das, was am meisten Wut auslöst. Allgemein, wie krass man verarscht werden kann, weil etwas breit gestreut und oft genug wiederholt wurde."

Vielleicht, weil es die Wahrheit ist. Vielleicht, weil die meisten Menschen nicht über Dinge diskutieren, die feststehen. Der Himmel ist blau. Steine sind hart. Und die Erde ist ein Planet. Die Erde ist rund.

Folge Johanna auf Instagram und VICE auf Facebook, Twitter und Instagram Update vom 23.07.2019, 15.35 Uhr: In einer früheren Version dieses Artikels, haben wir die Erde als Ellipse beschrieben. Das ist falsch, denn eine Ellipse ist zweidimensional. Wir haben den Artikel entsprechend angepasst.