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Ich habe Probleme damit, nach Zürich zu ziehen

Aargauer Witze und vier Jahre Basel haben meinen Zürich-Komplex aufgeblasen. Jetzt geht es darum ihn abzubauen.

Der Umzug nach Zürich (oder auch der Umzug in Zürich) fällt vielen Menschen schwer. Gestern hat mir meine Grossmutter von ihrer ersten 2-Zimmer-Genossenschaftswohnung 1952 in Schwamendingen erzählt. Wohnungsnot habe damals geherrscht, Wohnungsnot. Als ich ihr dann entgegnete, dass es auch heute nicht ganz einfach ist, antwortete sie mir: „Dann ist da also seither Wohnungsnot."

Seit 1952 ist in Zürich einiges passiert, was meine Grossmutter erst erfahren und dann wieder vergessen hat (nicht böse gemeint, aber es ist so). Ganz ohne Unterbrechung war die Wohnungsnot doch nicht. Aber ich bin gar noch nicht so weit, dass 120-Meter-Schlangen bei Wohnungsbesichtigungen und neurotische Eventualitäts-Mitbewohner meine Hauptprobleme sind. Nein, ich habe vorerst ganz andere Probleme damit nach Zürich zu ziehen.

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Seit mehr als einem Jahr arbeite ich in Zürich. Vorher beschränkte sich mein Kontakt mit Zürich auf eine Stelle an der Garderobe vom Hallenstadion, einer Beziehung, die zu einem Anteil im niederen Prozentbereich in Starbucks-Filialen stattfand und einigen Ausflügen als Teenie/Aargauer, während denen wir eigentlich jedes Mal von der Roten Fabrik bis zum Happy Beck an der Langstrasse gelaufen sind, um dann morgens um 06 Uhr 00 in einer Niederdorf-Bar namens Double-U Girlanden zu verkleinern und üble Drinks mit noch übleren Kirschen zu trinken. Mittlerweile habe ich etwas mehr erlebt in Zürich (hier, hier und hier), aber trotzdem sind noch Vorbehalte und Vorurteile vorhanden.

1. Fakten

Zürcher nehmen oft für sich in Anspruch, in der einzigen echten Stadt der Schweiz zu leben. Das macht mich jedes Mal wütend und dann haue ich ihnen die zwei Faktoren um die Ohren, nach denen Basel urbaner ist: Die Bevölkerungsdichte und der Ausländeranteil. Die Stadt Basel hat eine Bevölkerungsdichte von 7301 Personen pro Quadratkilometer, in der Stadt (!!!) Zürich beträgt sie nur 4100 Personen pro Quadratkilometer. Klar, sind die Kreise 4 und 5 wohl die urbansten Stadtteile der Schweiz, aber was ihr Zürcher (ich liebe es dieses „ihr" noch zu verwenden) Zürich-Affoltern oder Zürich-Riesbach nennt, nennt man in Basel Münchenstein oder Lörrach. Lörrach ist sogar in einem anderen Land.

Foto von Roland zh; Wikimedia Commons; CC BY-SA 3.0

Zürich hat in seiner Geschichte immer wieder neue Gebiete eingemeindet; die Stadt Basel hatte bis 1798 sogar eine andere Zeitrechnung als die Landgemeinden und wollte nicht besonders viel von ihnen wissen. Da zwischen Basel und einem Grossteil der Restschweiz die Jura-Hügel stehen, fühlt man sich in Basel weniger in der Schweiz als überall sonst. Es gibt eine natürliche Grenze, die uns von diesem Land trennt, eine Tradition als Stadtkanton und andere politische Mehrheiten als irgendwo sonst in der Deutschschweiz.

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Natürliche Grenzen zu Frankreich und Deutschland gibt es nicht, weshalb die Behauptung „Jede Coop-Kassiererin kommt aus dem Elsass" nur knapp an der Tatsache vorbeischrammt, weshalb ein Tram nach Deutschland fährt und 68.000 Menschen jeden Tag aus Deutschland und Frankreich nach Basel zur Arbeit pendeln. Dass die ständige ausländische Wohnbevölkerung in Basel höher ist als in Zürich, belege ich jetzt nicht auch noch mit Links zu den statistischen Ämtern.

Liebe Zürcher, akzeptiert also bitte, dass ihr weniger urbaner und weniger internationaler als die Basler seid. Das würde mir viel helfen.

2. Vorurteile

Zwar laufe ich nicht wie mit Tourette-Syndrom durch die Bahnhofshalle und schreie „Goldküsten-Wichser!" oder „Affoltern-Assi!", aber was habe ich Vorurteile! Ich hasse mich dafür. Kokain sehe ich schon in jedem Nasenloch, wahrscheinlich auch in der Schnauze des wunderhübschen Stadtpolizei-Stoffbären, der auf meinem Schreibtisch steht. Ich bin paranoid und will es gar nicht mehr sein. Jeder Frischtheke-Mitarbeiter in der Bahnhof Migros verhält sich für mich so, als würde er auf mich herabschauen, da er als EDM-DJ erfolgreich ist oder jede Nacht die Sprayerideale der 90er auslebt. Und ich fühle mich in meinem Wahn dann schuldig, weil ich nicht weiss, dass der Mensch an der Frischtheke Skittles heisst und ich ihn nicht darum bitte, sein Tag auf meine Quittung zu kritzeln.

Foto von Nora Osagiobare

Ich will nicht so sein. Wirklich nicht. Ich werde auch nicht so sein, liebe Zürcher. Gebt mir (auch nach diesem Artikel) noch eine Chance, dann kiffen wir mal eins am Limmatufer. Ganz unschuldig seid ihr auch nicht, denn das mit den Aargauer Witzen tat immer schon weh und dass ihr weniger in der Restschweiz unterwegs seid als wir Agglokinder, ist logisch, aber mindert halt auch den interkantonalen Austausch.

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3. Zürcher Arroganz

Die Zürcher Arroganz gibt es. Sie ist eigentlich nichts Schlimmes, sondern beschränkt sich auf das erste Kennenlernen. Es geht darum zu zeigen: Ich bin es, die Welt hat auf mich gewartet. Und ich weiss sogar noch, wie man sich kleidet—als Held, Anti-Held, Hippie oder Bahnhofstrasse-Werber. Es ist der Zentrums-Effekt, der Metropolen-Effekt. Die Pariser sind in ganz Frankreich verhasst, da man in Paris—zumindest dem Hörensagen und den Erfahrungen beim Autostoppen in der französischen Provinz nach—nichts vom Rest Frankreichs hält. Was will man denn mit dem Rest? Man ist ja selbst der Nabel der Welt.

Ob die Zürcher gleich schlimm, weniger schlimm oder gar schlimmer sind als die Berliner, Pariser oder Wiener, will und kann ich nicht beurteilen. Aber statt dass ihr mich gleich an den abgewrackten Hafenkran bindet und im See versenkt, solltet ihr euch jetzt geschmeichelt fühlen und rot werden, denn eigentlich ist selbstsicheres Auftreten ja gut und wichtig. Und immerhin habe ich euch in einer Reihe mit Parisern, Berlinern und Wienern genannt. Die zwinglianische Pflicht und Bescheidenheit haben grosse Teile dieser Stadt hinter sich gelassen und jetzt geht es um starke Auftritte. Davon kann und konnte ich was lernen. Meine Panik irgendwann nur noch aus Arroganz und Selbstdarstellung zu bestehen, ist wohl unbegründet, solange ich nicht in einer Werbeagentur an der Bahnhofstrasse arbeite. Und das wird nicht passieren.

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Dieser Text hat schon mal geholfen. Es ist sicher daneben, wenn ich schreibe „Endlich erkenne ich wieder, dass hier alles gar nicht so schlimm ist", aber es fühlt sich genau so an. Gerne würde ich euch sagen, dass ihr die Geilsten seid und am geilsten Ort der Welt lebt. Dazu müsste ich lügen. Aber ich komme ohne Zürich-Komplex hierher, trinke (weiter) mit euch, wenn es das Workaholic-Leben erlaubt (etwas von Zwingli ist schon noch da, hmm?).

Bald-Exkleinbasler Benj auf Twitter: @biofrontsau

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Titelbild von Andrew Bossi; Wikimedia Commons; CC BY-SA 2.5