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Die Flüchtlingslager bei Calais sind wuchernde Dschungel des Elends

Auf dem Weg nach Großbritannien sitzen über 6.000 Refugees in der französischen Hafenstadt Calais und deren Nachbarstadt Dunkerque fest. Sie leben unter Planen und in Zelten im sogenannten „New Jungle".
Foto: Jordi Oliver

Eines der grössten Flüchtlingslager in Europa befindet sich nahe der französischen Hafenstadt Calais. Die Flüchtlinge, die dort gestrandet sind, wollen via Ärmelkanal Grossbritannien erreichen. Im Lager herrschen menschenunwürdige Zustände, Refugees und Helfer bezeichnen die verschlammte Ansammlung von improvisierten Zelten und Baracken als „Jungle".

Wir sitzen auf Kisten um ein kleines Feuer. In der Mitte steht ein verrusster Topf mit brodelndem Wasser, aus Handylautsprechern dringt leises melodisches Rauschen, ein Mann fährt summend auf einem Kinderfahrrad vorbei und nickt uns zu.

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Dann kommt Amir, ein Afghane Anfang zwanzig, zurück. Lächelnd schwenkt er die vier ausgeliehenen Tassen, füllt sie mit Tee und setzt sich zu uns. Amir wartet. Wartet wie jeden Tag auf die Dunkelheit, in deren Schutz er hofft, in oder unter einem LKW durch den Ärmelkanal nach England zu gelangen.

Er weiss, dass bei den Versuchen, auf die Insel zu kommen, Menschen ertrinken, überfahren werden, durch Stromleitungen oder an den Folgen von Polizeigewalt sterben. „Hier im Jungle stirbst du halt einfach langsamer", sagt er. Seiner Familie hat er am Telefon berichtet, dass er in England einen Job gefunden habe, dass es ihm gut gehe und sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. „Das", er macht eine Handbewegung zu den Schlafsäcken und Zelten, welche im Dreck liegen „kann ich ihnen nicht erzählen."

Alle Bilder zur Verfügung gestellt von Jordi Oliver

Ich traf Amir letzten Frühling im Zentrum von Calais. Trotz den menschenunwürdigen Bedingungen, unter welchen er damals lebte, weigerte er sich, in das vom Staat zur Verfügung gestellte Gebiet umzuziehen.

Protestierte wenige Wochen zuvor noch ein Grossteil der Refugees dagegen, ihre Camps zu verlassen, um in der sieben Kilometer entfernten Industriezone zu leben, hatte sich der Jungle aufgrund täglicher Schikanen und Drängen der Polizei inzwischen geleert. Zurück bleibt ein Dorf aus Zelten, zusammengezimmerten Restaurants, einer Schule aus Plastikplanen, Lebensmittelläden und Treffpunkten. „Ich gehe nicht", sagt Amir überzeugt. „Ich war dort. Habt ihr gesehen, wie es dort aussieht?"

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Zäune und Helikopter

Seit meiner letzten Reise nach Calais wurden alle alten Jungles geräumt und mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht. Das neue, tolerierte Gebiet, welches der Staat als eine Geste der Grosszügigkeit präsentierte, ist offizielles Jagdgebiet, ein schlammiges Gelände direkt neben der Autobahn. Im „new Jungle" leben circa 6.000 Menschen. Es gibt keinen Schutz vor Wind oder Regen, dafür gibt es einen Zaun.

Sowieso hat Frankreich in den letzten Monaten viel Geld in Zäune und die Aufstockung der Polizeipräsenz investiert. Sanitäre Anlagen gibt es weiterhin kaum und ein angrenzendes Hilfszentrum gibt lediglich einmal täglich eine Mahlzeit aus. Die Menge an Essen reicht für einen Bruchteil der bedürftigen Menschen vor Ort.

So haben die Bedingungen im neuen Jungle—tausende Menschen auf engem Raum, schlammiger Boden, der lange Fussmarsch ins Stadtzentrum, stetig patrouillierende Polizisten und täglich kreisende Helikoper—einige Flüchtlinge in die Umgebung vertrieben. Zum Beispiel nach Dunkerque, der nördlichsten Stadt Frankreichs.


So sollten wir mit Flüchtlingen umgehen:

Waren es vor wenigen Monaten noch circa 300, welche in Calais Nachbarstadt unter freiem Himmel lebten, zählt Dunkerques Jungle heute schon über 3.000 Refugees, darunter 300 Kinder. Verglichen mit anderen Refugeecamps in Europa herrschen in Dunkerques Jungle mit die schlechtesten Lebensbedingungen. Dazu kommen immer wieder neue Hindernisse, welche den freiwilligen Helfern vor Ort ihre tägliche Arbeit erschweren.

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Beispielsweise gibt es seit Ende Dezember ein Gesetz, welches verbietet, Zelte und Baumaterial in den polizeiüberwachten Jungle zu bringen. Die Refugees leben oft nur in dünnen Nylonzelten und die sinkenden Temperaturen sowie die fehlende Hygiene lassen viele Menschen erkranken.

Anfang Januar 2016 wurde bei 97 von 100 Menschen Krätze diagnostiziert. Genauso mangelt es an Essen. Seit Dezember steht zwischen den Zelten und Blachen eine mobile Küche, betrieben vom Schweizer Projekt Rastplatz. Täglich werden dort über 100 Kilo Reis und hunderte Liter Sauce zubereitet, um zumindest 200 bis 300 Menschen Zugang zu einer warmen Mahlzeit zu verschaffen. Mit Simon Krieger, einem der sieben Kochenden von Rastplatz, habe ich über die momentane Situation in Dunkerque geredet:

VICE: Dunkerque hat bisher kaum Medienpräsenz erhalten, wie habt ihr von dem Jungle dort erfahren?
Simon: Wir sind zuerst nach Calais gefahren, wo uns gesagt wurde, dass hier noch grösserer Bedarf an warmer Küche besteht. Eigentlich grösserer Bedarf an allem: Es gibt momentan eine kalte Dusche für 3.000 Menschen und 20 funktionierende Toiletten.

Wie ist die Atmosphäre hier im Vergleich zum neuen Jungle in Calais?
Hier ist es zwar noch dreckiger und unorganisierter aber auch ein Stück weit sicherer als im Camp in Calais. Es gibt weniger Konflikte innerhalb des Jungles. Deshalb kommen auch immer mehr Familien von Calais hierher. Es gibt noch nicht so viele freiwillige Helfer und weniger Unterstützung von Organisationen als im bekannteren Jungle in Calais.

Zuletzt wart ihr einen Monat im Balkan unterwegs. Finanziert durch Crowdfounding konntet ihr an verschiedenen Grenzen kurzfristig eure Küche aufbauen und für die Menschen auf der Flucht kochen. Wie geht ihr hier vor?
Auch dieses Projekt läuft mit Crowdfounding. Wir brauchen hier weniger Geld für Nahrung, im Balkan haben wir beispielsweise jeden Tag 250 Kilo Bananen gekauft. Hier erhalten wir Essen und viele Spenden aus England und Belgien. Da wir aber länger in Dunkerque bleiben wollen, müssen wir mehr in die Infrastruktur investieren. Im Moment basteln wir gerade ein Abwassersystem. Aber natürlich sind auch die kleinen Sachen wichtig. Jeden Tag genug Teller und Becher zu haben, ist ebenfalls eine Herausforderung.

Rastplatz bleibt noch bis mindestens Februar in Dunkerque, um dort für Refugees zu kochen.

In Calais hatte eine Klage von Menschenrechtsgruppen zur Folge, dass ab Januar 2016 Container mit Platz für 1.500 Refugees im Jungle stehen müssen. Welche Bedingungen die Menschen zu erfüllen haben, um die Container zu beziehen und was mit den restlichen 4.500 Flüchtlingen passiert, bleibt unklar.

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