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Liebe, Lust und Laster auf dem Land

Wie es ist, als LGBT im Toggenburg zu leben

Für meine Ausbildung zog ich ins 5.000 Einwohner zählende Dorf Ebnat-Kappel. Dort fühlte ich mich wie einige Jahrzehnte in der Geschichte zurückversetzt.

Collage von VICE Media | Foto von Roland Zumbuehl | Wikimedia | CC BY-SA 3.0 Die Schweiz mag international relevante Kulturzentren wie Genf, Lausanne oder Zürich beherbergen und stetig enger besiedelt werden. Doch im Herzen trägt sie eine bäuerliche Tradition. Die Familie, das Dorf und die Kühe. Kaum ist man 45 Minuten aus der Stadt gefahren, sieht man diese urtümliche Schweiz auch wieder am Wegesrand grasen. Doch wie lebt, liebt und vögelt die ländliche Schweiz? Wie kommt sie mit Sexualität und Geschlechterrollen klar? In unserer Reihe "Liebe Lust und Laster auf dem Land" versuchen wir, diese Fragen zu beantworten.

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Nach meinem 18. Geburtstag haben sich in meinem Leben zwei wesentliche Dinge verändert: Ich outete mich als schwul und zog ins Toggenburg nach Ebnat-Kappel, weil ich dort eine Lehrstelle als Physiklaborant bekommen hatte. Mein neues Zuhause richtete ich mir in einer wunderschönen 2.5-Zimmer-Wohnung ein, die in einem 400 Jahre alten Häuschen und nur zwei Minuten von meinem Arbeitsplatz entfernt lag. Oder besser gesagt: von meinem ehemaligen Arbeitsplatz. Denn seitdem sind drei Jahre vergangen. Heute lebe ich im Kanton Zürich, stehe kurz vor dem Abschluss meiner Lehre an der ETH und zeige mich in der Öffentlichkeit so, wie ich mich schon lange fühle: als genderqueere Frau.

Viele Menschen im Dorf mit gut 5.000 Einwohnern, von denen fast jeder Zweite sein Kreuz bei der SVP macht, haben mich als Freak abgestempelt. Ich war sehr farbenfroh gekleidet und habe meine Homosexualität nicht versteckt. Natürlich habe ich mich nicht mit "Hallo, ich bin schwul" vorgestellt—hatte mich aber jemand nach meinen sexuellen Neigungen gefragt, machte ich kein Geheimnis daraus.

Allerdings erlebte ich dieses sichtbare Anderssein nicht als sonderlich schlimm. In unserer Gesellschaft spielt so oder so jeder eine Rolle und meine wich einfach stärker von der Norm ab. Im Grunde blieben mir aber sowieso nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich versuche, ernst genommen zu werden und ecke dabei an oder ich nehme mir eine gewisse Narrenfreiheit.

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Ich habe mich für die Narrenfreiheit entschieden—wohl auch, weil ich nicht in Ebnat-Kappel aufgewachsen bin und mir deshalb relativ egal war, was andere von mir dachten. Solange ich, überspitzt gesagt, nicht mit dem Baseball-Schläger auf dem Rücken einkaufen gehen musste, war die Situation für mich ganz passabel.

Die anderen Schwulen, die ich im Dorf kennengelernt hatte, hatten es schwieriger. Viele lebten sehr versteckt. Einer davon, der schon geoutet war, begegnete mir eher skeptisch, da ich sehr exzentrisch auftrat. Er fuhr eher die Strategie sich der heteronormativen Welt anzupassen. Andere outeten sich gar nicht erst, etwa weil sie fürchteten, in ihrem Sportverein als "Schwuchtel" abgestempelt zu werden. Dementsprechend lief vieles über das Internet, über die Apps Gay Romeo und Grindr wurden etwa Kontakte geknüpft. Ab und an traf ich über diese Apps Typen aus den umliegenden Dörfern und hatte dann auch was mit ihnen. Das übliche Date lief so ab, dass wir uns irgendwo auf einem Parkplatz trafen und mit dem Auto zu ihm oder zu mir nach Hause fuhren—ich fühlte mich wie fünf Jahrzehnte in der Geschichte zurückversetzt.

Foto zur Verfügung gestellt von Manu

Was ich am Dorfleben schlimm fand, war, dass ich nicht offen angefeindet wurde. Vieles passierte hinter meinem Rücken und war nicht wirklich greifbar. Ich hatte das Gefühl, kategorisiert und abgestempelt zu werden—was die schwule Dorfjugend bis zu einem gewissen Grad wohl überall wird. Vielfach habe ich Dinge gehört wie "Wir haben ja nichts gegen euch Schwule". Spricht man aber so verallgemeinernd über eine Menschengruppe, deutet das schon in die andere Richtung—egal ob man nun Ausländer, Linke oder Schwule meint.

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Für viele ist es nach dem Outing so, dass das Schwulsein durch andere zu einem Teil ihrer Persönlichkeit gemacht wird. Der Mensch wird in einen grossen Topf geschmissen. Mein damaliger Ausbildner in der Lehre hat es etwa nicht einmal geschafft, mich persönlich zu fragen, ob ich schwul sei. Er hat die Frage an meinen Oberstift weitergeleitet, der sie mir stellte. Ich antwortete nur: "Hat der nicht eine Freundin? Der ist doch schon vergeben?" Schliesslich geht es meinen Ausbildner nichts an, wie ich mich sexuell orientiere. Ich bin dort, um zu arbeiten.

Es gab aber auch ein paar Leute im Dorf, zu denen ich eine gute Beziehung pflegte. Etwa zur Jugendarbeiterin oder zu den Leuten vom Jugendchor, in dem ich sang und Kassier war. Weil ich älter war als die anderen, hatte ich als einziger eine tiefe Stimme und sie freuten sich über diese stimmliche Ergänzung. Durch mein stimmliches Talent bekam ich dort ein gewisses Ansehen und wurde als das akzeptiert, was ich bin. Wenn du eine besondere Leistung erbringst, wird anderes zur Nebensache. Die Menschen im Chor interessierten sich mehr für meine Stimme als für meine Sexualität.

Mit 20 Jahren habe ich bemerkt, dass ich mich mit dem Label "schwul" zwar wohler fühle als mit dem Label "hetero", dass es für mich aber doch nicht zu 100 Prozent stimmt. Der Stolz auf die Männlichkeit etwa ist überhaupt nicht meines. Mir fiel auf, dass ich mich in meiner Haut wohler fühlte, wenn ich mich als Frau gab. Natürlich erhöhte sich auch der gesellschaftliche Druck, als ich mit meinem männlichen Körper in Frauenkleidung herumlief. Fremde Menschen sahen mich öfters irritiert an und es wurde viel eher beachtet, wie ich mich verhalte. Aber der Leidensdruck, nicht ich sein zu können, war grösser als die Angst vor dem, was um mich herum passierte.

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Foto zur Verfügung gestellt von Manu

Meinen Weg, mich als Frau zu akzeptieren, bekam das Dorf nicht mit. Da vielfach bereits das Verständnis fürs Schwulsein fehlte, wollte ich mir gar nicht ausmalen, wie die Leute darauf reagiert hätten, wenn ich sie mit etwas konfrontiert hätte, das sie noch viel weniger kennen, verstehen und einordnen können. Damals wusste ich auch schon, dass ich nach der Lehre das Dorf wieder verlassen würde.

Wenn ich am Abend geschminkt und in Frauenkleidung weggehen wollte, zog ich mich erst in der Toilette im Zug nach Zürich um. Wäre ich im Dorf als Frau aufgetreten, wäre das wohl als Provokation und nicht als meine gelebte Identität verstanden worden. Um mich selbst zu schützen, spielte ich weiter die männliche Rolle. Ich fühlte mich zwar eingeschränkt, aber ich hätte durch das Tragen von Frauenkleidern keine wesentlichen Vorteile daraus gezogen, nicht in diese Rolle zu schlüpfen.

Bei meinen engeren Freunden aus dem Dorf hingegen stellte ich mich neu als "die" Manu vor. Dort kam es zwar zu Diskussionen, aber die drehten sich glücklicherweise nicht um oberflächliche Fragen nach allfälligen Geschlechtsoperationen, sondern eher darum, was es für mich bedeutet, als Frau wahrgenommen zu werden und welche Erkenntnisse zu meinem Weg führten.


Trans-Männer:


Vor einem Jahr zog ich von Ebnat-Kappel nach Adliswil im Kanton Zürich. Im Sommer schliesse ich meine Lehre an der ETH ab. Dort begegnen mir meine Kollegen und Vorgesetzten bedeutend verständnisvoller. Für mein Lehrabschlusszeugnis etwa beantragte ich eine Namensänderung von meinem alten Namen zu Manu. Meine Vorgesetzten sicherten mir ihre Unterstützung zu. Für sie war es eine neue Situation, in die deren Bewältigung sie mich stark eingebunden hatten. Es war ihnen wichtig, dass ich mich ernst genommen fühlte und sie nicht über mich bestimmten. Ich wurde nicht infrage gestellt, mein geschlechtliches und sexuelles Selbstverständnis wurde gar nicht erst thematisiert. Wie Erfahrungen von Freunden und Bekannten zeigen, läuft es bei vielen Transmenschen oft komplizierter ab.

Das Leben in Zürich bekommt mir gut. Ich geniesse hier viel mehr Anonymität als auf dem Land. In Ebnat-Kappel schaute man mich schräg an, wenn ich in den Bus oder Zug einstieg. Hier interessiert es kaum jemanden, wie ich mich gegen aussen gebe und mir wird toleranter begegnet. Vielleicht liegt das daran, dass sich die Menschen in der Stadt die Vielfalt gewohnter sind. Auf dem Land sind Sexualitäten abseits von "hetero" und Geschlechtsidentitäten abseits von "cis"—der Übereinstimmung des bei der Geburt zugewiesenen Geschlechts mit der Geschlechtsidentität—wohl weniger bekannt. Dadurch herrschen oftmals stärkere Vorurteile darüber, was es bedeutet, schwul oder trans zu sein.

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