Ist Erdogan ein Echsenmensch? – Warum wir nicht mehr von Verschwörungstheorien sprechen sollten
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Ist Erdogan ein Echsenmensch? – Warum wir nicht mehr von Verschwörungstheorien sprechen sollten

Mit dem Begriff der Verschwörungstheorie züchten wir Trolle und ebnen den Weg für Despoten.

Die Welt ist gross, dunkel und voller Verknüpfungen. Wäre Hitler an der Wiener Kunstakademie angenommen worden, wäre der Zweite Weltkrieg vielleicht nie passiert. Hätte George Bush Jr. in seinen High Days ein bisschen mehr Kokain genommen, wäre er vielleicht tot, der Nahe Osten deutlich stabiler und somit ein grosser Anteil der Flüchtlinge, die gerade im Mittelmeer ertrinken stattdessen daheim am Teeschlürfen. Es macht manchmal Angst, dass die Geschichte der Menschheit an so vielen kleinen Details zu hängen scheint. Was einem da helfen kann, ist eine Theorie, die die Zusammenhänge auf einen nachvollziehbaren Nenner bringt und etwas produziert, das vor allem in der Politik sehr beliebt ist: benennbare Schuldige.

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Folgendermassen definiert der Duden die Verschwörungstheorie:

"Eine Verschwörungstheorie ist die Vorstellung respektive Annahme, dass eine Verschwörung, eine verschwörerische Unternehmung Ausgangspunkt von etwas sei."

Im Duden steht also, was die Bedingungen sind, die ein Narrativ erfüllen muss, um als Verschwörungstheorie durchzugehen: Es muss die Annahme einer Verschwörung sein, die im Gegensatz zur offiziellen Haltung zu einem Geschehnis steht. Würde die Theorie nicht im Gegensatz zur offiziellen Version stehen, wäre sie keine Theorie, sondern allgemein akzeptierter Fakt.

Der Putsch in der Türkei war ein Augenblick lang Gegenstand von vermeintlichen Verschwörungstheorien. Was die Thesen um den Putsch in der Türkei allerdings speziell und zu einem spannenden Beispiel macht, ist: Die mittlerweile (im Gegensatz zur Verschwörunsgtheorie Erdogan habe den Putsch orchestriert) gültige Darstellung der Geschehnisse in der Türkei ist gewissermassen ebenfalls eine Verschwörungstheorie. Denn Erdogan legitimiert die seit Wochen vor den Augen der Welt ablaufende "Reinigung" des Staatsapparats mit der vielleicht begründeten, aber sicher nicht abschliessend bewiesenen These, dass eine Gruppe von Gülen-Anhängern diesen gescheiterten Putsch geplant und durchgeführt habe.

Wie wahrscheinlich die divergierenden Verschwörungstheorien in diesem Fall sind, kannst du in diesem wohlrecherchierten Artikel von Michael Bonvalot nachlesen.

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In diesem Text versuche ich nicht, die Wahrheit zu den Geschehnissen in der Türkei zu ergründen. Offensichtlich ist: Die Türkei hat Probleme und diese basieren kausal auf den verschwörerischen Plänen der einen oder anderen Gruppierung. Denn, egal von wem der Putsch geplant wurde, das Land wird gerade gesäubert, gleichgeschaltet und unter dem Jubel der Bevölkerung autokratisch umgestaltet.

Es wird aber nur eine der beiden Theorien auch als Verschwörungstheorie bezeichnet, während die andere, von Erdogans Partei AKP vertretene These, wohl zumindest in die türkischen Geschichtsbücher als Fakt eingehen wird. Der essentielle Punkt hier ist: Der Begriff der Verschwörunsgtheorie ist ein Label, mit dem alleinigen Daseinszweck, eine These als "abwegig" zu kategorisieren. Der Begriff bezeichnet also nicht mehr primär die Theorie einer Verschwörung, sondern er kategorisiert eine These zu einem politischen Prozess oder Hintergrund als "Bullshit"—bevor die These effektiv verifiziert oder falsifiziert wurde.

Verschwörungstheorien gibt es unendlich viele und sehr unterschiedlich glaubhafte: Von Echsenmenschen im Capitol, Pharaonen im Reduit und Chemtrails bis zu der Operation Gladio, dem militärischen Drogen-Experiment MK Ultra und der schwulisierenden Hormonbombe variieren sie im Ausmass der menschlichen Vorstellungskraft.

Ein Grossteil davon ist vermutlich frei erdacht. Ein Teil aber eben auch nicht: Drei von diesen sechs eben angeführten Verschwörungstheorien haben sich zwischenzeitlich als wahr herausgestellt. Aber bis zum Zeitpunkt der Verifizierung haben alle sechs Thesen dasselbe Label, das der "Verschwörungstheorie", getragen. So wurden berechtigte Fragen wie die nach der amerikanischen Strategie im Nahen Osten, nach Nato-Guerilla-Einheiten oder die nach LSD-Experimenten der US-Armee in dieselbe Schublade geschmissen wie die Idee, dass wir von ausserirdischen Amphibien regiert werden.

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Dazu kann der als Verschwörungstheoretiker gehandelte Historiker Dr. Daniele Ganser ein Liedchen trällern. Er befindet sich gewissermassen in einem Raum, in dem er vereinzelt noch als Wissenschaftler respektiert wird und auch durchaus an renommierten Schulen wie der Universität St. Gallen unterrichtet, in dem gleichzeitig aber gewisse seiner Thesen (etwa, dass der Anschlag auf Charlie Hebdo ein False Flag-Angriff gewesen sei) sehr ungern gesehen sind. Er geriet deshalb mehrfach in den Clinch mit den Universitäten, für die er arbeitete. Im Interview mit Watson äusserte er sich, quasi als Betroffener, aus seiner Perspektive zu den Erlebnissen mit dem Begriff der Verschwörungstheorie:

"Seit 9/11 wird der Begriff dafür verwendet, Menschen mit einer anderen Analyse mit Spinnern, Pädophilen, Antisemiten und Holocaust-Leugnern in eine Ecke zu stellen."

Obwohl Ganser in vielen Bereichen klar als Verschwörungstheoretiker mit gefährlichen Argumentationen eingeordnet werden muss, trifft er mit dieser Aussage einen wunden Punkt der Begriffsverwendung: Es gibt vermutlich Leute, die relativ viel über ein Thema wissen, vielleicht guten Grund haben, eine offizielle Version von Geschehnissen anzuzweifeln und es gibt Menschen, die jeden Scheiss glauben, weil er ihnen die Welt auf eine für sie annehmbare Art und Weise erklärt.

Da kann auch die Uni nicht allzuviel dagegen machen, wie mir Prof. em. Dr. Dieter Ruloff erklärt. Gemäss dem emeritierten Professor für Internationale Beziehungen gibt es sehr wohl Akademiker, die sich kritisch mit Verschwörungstheorien auseinandersetzen (wie beispielsweise Nick Redfern in seinem Buch Secret History: Conspiracies from Ancient Aliens to the New World Order). Allerdings sei es eine nicht zu bewältigende und sinnlose Aufgabe, sich an eine systematische Analyse jeglicher Verschwörungstheorien zu machen, weil es einfach zu viele gibt und sie andauernd und praktisch ohne Qualitätshürden produziert und in die Welt gelassen werden können. Er führt als Beispiel den aktuellen amerikanischen Wahlkampf an:

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"Wir wissen, dass Menschen bereit sind, an die wildesten Dinge jenseits aller Fakten zu glauben, es braucht bloss jemand diese Dinge zu behaupten und damit etwas Publizität zu gewinnen; die Multiplikatoren des Medienbetriebes sorgen dann für die Verbreitung. Wir erleben gerade in den USA die eigentlich phantastische Sache, dass man einem Präsidentschaftskandidaten die absurdesten Dinge glaubt und dass sich selbst seriöse Medien damit befassen (und damit diese Dinge auf eine Ebene der Seriosität heben, die ihnen nicht zusteht). Lächerlich, dagegen mit einem Fact Checker angehen zu wollen, man hat von Beginn an verloren."

Wir sehen uns also einem Begriff mit vielen Wirkungen gegenüber. Erstens ist die Verschwörungstheorie eine Kategorie, die mitunter zu Unrecht Thesen vor ihrer akademischen Prüfung in die Kategorie "Humbug" verdammt und zweitens sammelt sich unter dem Begriff ein Korpus oder Genre zusammen, das eine wachsende Anhängerschaft verzeichnet.

Der letzten Monat verstorbene deutsche Soziologe H.J. Krysmanski beschreibt das Auftreten von Verschwörunsgtheorien in Intervallen: Seit dem 11. September 2001 befinden wir uns, gemäss Krysmanski, nach dem Faschismus in Italien und Deutschland, der Mc Carthy-Ära und den Theorien um John F. Kennedy und Martin Luther King, wieder in einer Phase der Hochkonjunktur für Verschwörungstheorien.

Was gegenüber den letzten "Hype"-Phasen der Verschwörungstheorien neu ist, ist das Internet. Und damit die unbezifferbare Masse an Theorien, die niederschwellig an eine Öffentlichkeit getragen werden können. Früher musste man sich noch indizierte Bücher wie Jan van Helsings Geheimgesellschaften und ihre Macht im 20. Jahrhundert reinziehen, um an seinen Fix Weltverschwörung zu kommen, heute ist alles auf YouTube zu finden.

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Der Begriff erfüllt im Angesicht der unüberschaubaren Masse eine gefährliche Funktion der Kategorisierung im Positiven und zwar bedient er Menschen, die nicht-verifizierten Quatsch glauben wollen mit mehr und je nachdem immer extremerem Quatsch. Diese Menschen finden und organisieren sich und beginnen, Politiker zu wählen, die sie mit relativ frei erfundenen aber sinnspendenden Geschichten füttern, da die Verifizierung von Behauptungen für immer mehr Menschen keine Rolle mehr spielt. Wieso sonst kann ein Mensch wie Trump, der in 60 Minuten 71 mal "Fakten" erfindet oder zumindest verdreht, ernsthafte Chancen auf die Präsidentschaft der USA haben?

Die USA befinden sich in einem Wahlkampf, in dem es nicht nur um verschiedene Kandidaten mit unterschiedlichen politischen Vorstellungen geht, sondern um vollständige, konkurrierende Realitäten, für die Trump und Clinton stehen. In Deutschland entstehen mit demselben Mechanismus Bewegungen unter den Bannern der Pegida und der AfD, deren Misstrauen in die gesellschaftlichen Institutionen wie Staat und Medien sich teilweise in blanken Hass gesteigert hat. Und auch in der Schweiz können wir diesen sehr bedenklichen Prozess beobachten.

Auf der Facebook-Seite von Nationalrat Andreas Glarner findet sich beispielsweise diese kleine Verschwörungstheorie:

Diese Theorie zur gezielten Verschwörung der bösen Gutmenschen, Glarners Interneterlebnis kaputt zu machen, wird von seiner Fangemeinde mit nichts weniger als dem absoluten Klassiker unter den Verschwörungstheorien kommentiert:

Wir sollten also zu unserer eigenen Sicherheit aufhören, von Verschwörungstheorien zu sprechen und politische Thesen wieder in die Kategorien "Bullshit" oder "prüfenswert" aufteilen. Wir würden so vielleicht wenigstens das Gefühl einer transparenten und offenen politischen Diskussion wecken können. Das würde gewählte Volksvertreter indirekt dazu zwingen, weniger totalen Mist von sich zu geben gegenüber einem Publikum, das diesen mit regem Appetit in sich aufnimmt und später auf die Stimmzettel ausscheidet.

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