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Verbrechen

Diese 20-Jährige soll ihren Freund per SMS in den Suizid getrieben haben

Michelle C. drohen bis zu 20 Jahre Gefängnis, weil sich ihr Freund umgebracht hat. Vor Gericht wird auch ihre Persönlichkeit verhandelt.
Michelle C. vor Gericht | Foto: Pat Greenhouse/The Boston Globe via AP, bearbeitet von Lia Kantrowitz

Michelle C. rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, als ein Foto ihres leblosen Ex-Freundes an die Wand des Gerichtssaals projiziert wird. Conrad R.s zusammengesackte Leiche sitzt in einem Pick-up-Truck, der vor einem Supermarkt geparkt steht. Dort soll der junge Mann laut der Staatsanwaltschaft die Fenster hochgekurbelt, den Motor gestartet und dann auf den Tod durch eine Kohlenmonoxid-Vergiftung gewartet haben.

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Beim Anblick des Fotos bricht R.s Familie in Tränen aus, C.s Vater starrt aus dem Fenster. C. selbst richtet ihre Augen starr auf die Unterlagen vor ihr auf dem Tisch.

Vergangenen Dienstag begann im US-Bundesstaat Massachusetts das Verfahren gegen eine junge Frau, die ihren Freund in den Suizid getrieben haben soll.

Die 20-jährige C. steht wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Als sie ihren Freund per Textnachrichten und Telefonaten zum Suizid aufforderte, war sie 17 und er 18. Wie die Staatsanwaltschaft darlegt, hat sie ihn angewiesen, "es durchzuziehen", als er sie in der Nacht seines Tods anrief und sich der Sache nicht mehr sicher war.

Bloßes Geplänkel zwischen Teenagern – oder eine Aufforderung zum Suizid?

Bürgerrechtler sind außer sich, weil ihrer Meinung nach hier gedankenlose Äußerungen zwischen Jugendlichen kriminalisiert würden. Die Nichtregierungsorganisation American Civil Liberties Union hat beim Obersten Gerichtshof von Massachusetts auch schon die Einstellung des Verfahrens gefordert. Da C. ihren Freund laut der Staatsanwaltschaft jedoch zurück ins Auto gedrängt und dann 20 Minuten lang seinen letzten Atemzügen gelauscht haben soll, entschied der Massachusetts Supreme Judicial Court, dass ihre Worte als "kriminelles oder rücksichtsloses Verhalten" eingestuft werden können. Und das reicht in dem US-Bundesstaat für eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung. In Bezug auf Beihilfe zum Suizid gibt es dort kein Gesetz.


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Bezüglich der Anklage gibt es einige Präzedenzfälle. Am meisten Aufsehen erregte dabei der Fall eines Mannes, der seiner betrunkenen Frau ein geladenes Gewehr reichte und sie aufforderte, den Abzug mir ihren Füßen zu betätigen. Was bei C.s Fall jedoch so ungewöhnlich ist: Ihre Anrufe und Nachrichten werden von der Staatsanwaltschaft im Grunde als Waffen angesehen – das "Äquivalent zu einer Feuerwaffe oder einem Messer", wie es der erfahrene Strafverteidiger Martin G. Weinberg ausdrückt.

Was ebenfalls sofort auffällt, ist die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft vor allem bei C.s Persönlichkeit den juristischen Hebel ansetzt.

C. habe Aufmerksamkeit und Mitleid gewollt, sagt die Staatanwaltschaft

Man scheint die junge Frau um jeden Preis als "Social-Media-Opfer" darstellen zu wollen – eine mordlustige Zicke, die R. erst verführt und von sich abhängig gemacht und dann in den Tod getrieben hat. Und das alles nur, um anschließend die trauernde Freundin zu spielen und so die begehrte Aufmerksamkeit der beliebten Leute aus ihrem Umfeld zu erhaschen. So stellte es die Staatsanwältin MaryClare Flynn in ihrem Eröffnungsplädoyer dar.

"Ich kann nicht einschlafen, bis du im Auto sitzt und der Generator läuft", zitiert Flynn eine der vielen schrecklichen Nachrichten, die C. an R. geschickt hat. Dazu zeigt die Staatsanwältin immer wieder Bilder der Leiche, die beim Eintreffen der Polizei durch die Hitze im Auto noch warm war, aber schon erste Anzeichen von Leichenstarre zeigte.

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Der Dramatik wegen vergleicht die Staatsanwaltschaft die Nachrichten von C. an R. außerdem noch mit den Nachrichten, die die Angeklagte im gleichen Zeitraum an eine Freundin schickte. Darin schreibt sie darüber, keinen BH zu tragen.

Ein solches Spiel auf der emotionalen Klaviatur hätte vor einem Geschworenengericht die Jury wahrscheinlich schnell gegen die Angeklagte aufgebracht. Die Anwälte konnten ein derartiges Verfahren jedoch abwenden und jetzt liegt das Schicksal der 20-Jährigen in den Händen von Richter Lawrence Moniz.

Eine Verurteilung durch Geschworene hatte C. im letzten Moment abwenden können

Michelle C. hatte ihr Ersuchen, diesen in den USA unüblichen Rechtsweg einzuschlagen, am Montag überraschend unter Tränen bekanntgegeben, nachdem potentielle Geschworene bereits zum Gericht gerufen worden waren. Da die Eröffnungsplädoyers für den nächsten Tag angesetzt waren, hatten die Staatsanwälte wenig Zeit, ihre Strategie entsprechend anzupassen. Schließlich seien Richter weniger von emotionalen Argumenten zu überzeugen und würden sich mehr an tatsächlichen Beweisen orientieren, wie Verteidiger Weinberg es ausdrückte.

Die Beschuldigte und das Opfer hatten sich während eines Urlaubs in Florida etwa drei Jahre vor R.s Tod kennengelernt. Obwohl sie nur eine Stunde voneinander entfernt in Massachusetts lebten, hatten sie sich nur dreimal persönlich getroffen. Der Großteil ihrer Beziehung spielte sich in Textnachrichten und Anrufen ab. Dieser Umstand beschert der Staatsanwaltschaft Zugang zu einer ungewöhnlich ausführlichen Korrespondenz des Paares.

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In vielen Nachrichten drängte C. ihren Freund dazu, sich das Leben zu nehmen.

"Dich umbringen?", fragte sie in einem Auszug, den Staatsanwältin Flynn vor Gericht verliest. "Findest du, ich soll?", antwortete R.

Und dann ist da noch diese Spendensammelaktion gegen Suizid, die C. im Rahmen eines Baseballspiels nach R.s Tod veranstaltete. Die Staatsanwaltschaft sieht darin vor allem ein Mittel, um Aufmerksamkeit zu bekommen, und darin auch das Hauptmotiv der Beschuldigten.

Nach R.s Tod schreibt C. seiner Mutter rührende Nachrichten

Am ersten Verhandlungstag wurde dem Gericht eine ganze Reihe sentimentaler Textnachrichten präsentiert, die die 20-Jährige an R.s Mutter nach dem Tod ihres Sohnes geschickt hatte.

"Du hast ihn nicht im Stich gelassen ", schrieb sie. "Anstatt zu weinen, wenn du an ihn denkst … lächle", schlug sie vor.

C.s Verteidiger Joseph Cataldo argumentiert, dass Conrads Tod "ein Suizid, ein tragischer Suizid, aber kein Mord" sei. Er führt aus, dass seine Mandantin ihre eigene Probleme habe und seit dem frühen Grundschulalter mit einer Essstörung kämpfe. Cataldo fügt hinzu, dass R. auch vorher schon mit psychischen Problemen zu kämpfen gehabt und unter den Gewaltausbrüchen seines Vaters gelitten habe – 2014 musste der Teenager mit einem Schädel-Hirn-Trauma ins Krankenhaus eingeliefert werden.

Beim ersten Suizidversuch von R. bietet C. zunächst Hilfe an

Die Verteidigung argumentiert außerdem, dass die Korrespondenz des Paares nach R.s erstem Suizidversuch begann, ernst zu werden. Zuerst habe die Mandantin versucht, ihrem Freund dabei zu helfen, sich Hilfe zu holen, bevor sie vorschlug, dass sie sich als Paar einweisen lassen könnten. "Wir könnten unsere Probleme gemeinsam durcharbeiten", heißt es in einer Nachricht, die C. an R. gesendet hatte.

Aber sie habe gemerkt, so der Anwalt weiter, dass sich R. gegen eine Therapie gewehrt habe. Stattdessen habe er vorgeschlagen, dass sich beide wie Romeo und Julia gemeinsam umbringen sollten. Erst dann habe die Angeklagte den 18-Jährigen stattdessen ermutigt, es alleine durchzuziehen und sie aus der ganzen Sache rauszulassen.

Der Verteidiger Cataldo plädiert zu Beginn der Verhandlung an Richter Moniz, mit Vernunft an die Sache heranzugehen und die Beweisstücke "methodisch" zu begutachten. Der Prozess soll voraussichtlich zwei Wochen dauern.

Notrufnummern für Suizidgefährdete bieten Hilfe für Personen, die an Selbstmord denken – oder sich Sorgen um einen nahestehenden Menschen machen. Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist: 0800 111 0 111. Hier gibt es auch einen Chat.

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