Die Geschichten hinter dem Ramsch am Kanzleiflohmarkt
Alle Fotos von Mina Monsef

FYI.

This story is over 5 years old.

Langstrassenwoche

Die Geschichten hinter dem Ramsch am Kanzleiflohmarkt

Sogar eine Klobürste hat eine Geschichte zu erzählen.

In der 'Langstrassenwoche' widmen wir uns einzig und allein der schillerndsten Strasse der Schweiz. Alle bisherigen Beiträge findest du hier.

Der Flohmarkt auf dem Kanzleiareal gehört zur Langstrasse wie die Luxusboutiquen zur Bahnhofstrasse. Jeden Samstag kollidieren hier Welten: Rentner, die sich mit ihren Ständen die Pension aufbessern, Studentinnen, die ihren Kleiderschrank entschlackt haben und Paare, die ihre Habseligkeiten verkaufen, um ohne vollbeladenen Schiffscontainer aus der Schweiz auswandern zu können.

Anzeige

Die Händler haben ganz unterschiedliche Beziehungen zu ihren Waren. Manche sind von sentimentalem Wert für sie, andere haben die Verkäufer nur aus dem Müll gefischt oder von Unbekannten geschenkt bekommen. Die Gegenstände erzählen dabei immer die Geschichten von Menschen. Einige sind traurig, andere witzig oder überraschend.

Grund genug, die Verkäufer auf dem Kies zu fragen, warum sie hier sind und was sich für besondere Geschichten hinter ihren Waren verbergen.

Hassan, 59

"Ich habe meinen Stand seit 21 Jahren und verkaufe Dinge, die ich bei Räumungen gratis mitnehmen kann. Die Lampe auf dem Foto habe ich von einer Frau aus Luzern bekommen, die ins Altersheim musste. Es ist immer traurig, wenn du so etwas mit ansehen musst.

Die alten Leute müssen ihr ganzes Leben zurücklassen. Alles, was die Frau ins Heim mitnehmen konnte, waren zwei vollgestopfte Einkaufstaschen. Über die Lampe weiss ich nur, dass sie in Italien angefertigt wurde und mindestens 50 Jahre alt ist."

Evita, 29

"Vor etwa drei Jahren bin ich nach dem Ausgang am Paradeplatz vorbeigetorkelt. Da standen plötzlich überall diese Plastikschlümpfe herum. Betrunken und fröhlich wie ich war habe ich mir gleich ein paar geschnappt.

Eine Frau hat mir noch nachgerufen, dass man die Schlümpfe nicht mitnehmen darf. Ich habe gelacht und bin davongerannt. Seither waren sie in meinem WG-Zimmer die Kleiderschrank-Deko. Jetzt will ich sie aber loswerden, weil ich für mein Masterstudium nach Amsterdam ziehe."

Anzeige

Marisa, 56

"Ich verkaufe hier seit etwa 20 Jahren fast jeden Samstag Dinge von meiner Familie und Freunden. Die Bilder haben meiner Mutter gehört. Sie ist vor ein paar Tagen gestorben. 90 Jahre, das muss man erst mal schaffen! Die Bilder müssen Jahrzehnte alt sein, sie hingen schon seit ich denken kann im Flur meiner Eltern.

Ich bin ziemlich sicher, dass die Originale ein italienischer Künstler gemalt hat, meine Familie stammt aus Venedig. Es ist nicht leicht, die Bilder zu verkaufen, aber meine Mutter hat uns so viele Sachen hinterlassen, wir können nicht alle behalten. Ich weiss, dass sie sich im Himmel darüber freuen wird, wenn sie jemand kauft, der Freude an ihnen hat."

Ursula, 50

"Ich besitze acht Brautkleider. Ich habe mir so viele gekauft, weil ich nach arabischer Tradition geheiratet habe: Mein Hochzeitsfest in Tunesien dauerte sechs Tage, also hatte ich sechs verschiedene Kleider an. Die zwei hier habe ich nicht getragen, darum fällt es mir jetzt auch nicht schwer, sie wegzugeben.

Bezahlt hat das alles mein Mann, aber die Kleider wurden in Nordafrika genäht, sie waren also nicht so teuer. Die Verkäufe vom Flohmarkt sind meine einzige Einnahmequelle."

Rodrigo, 25

"Die Klobürste war ein Geschenk meiner Schwiegermutter an meine Frau Priscilla und mich. Und ja, die Bürste wurde gebraucht und gut gereinigt. Priscilla und ich haben lange hin und her überlegt, ob wir sie wirklich an unseren Flohmarktstand mitbringen sollen. Das ist ja schon ein intimer Gegenstand, vielleicht sogar noch intimer als eine Zahnbürste?

Anzeige

Die Klobürste ist jetzt dabei, weil wir hoffen, dass sie uns Glück bringt. Das brauchen wir nämlich, wir verkaufen all unseren Krempel, weil wir bald zurück nach Italien ziehen, unser Heimatland. In Zürich zu leben, war schön, aber hier können wir es uns nicht leisten ein Haus zu kaufen und eine Familie zu gründen."

Marcel, 41

"Ich bin immer mal wieder am Flohmarkt und verkaufe Dinge, die mir Leute vorbeibringen, wenn sie umziehen. Bei diesem orangen Besteckset war ich zuerst unsicher, ob ich es überhaupt annehmen soll. Es ist an Hässlichkeit schwer zu überbieten. Aber das hat eben auch seinen Reiz. Es ist auf jeden Fall ein Eye Catcher für den Stand und wenn es niemand kauft, dann werfe ich es halt weg."

Cati, 49, und ihre Tochter Jenni, 27

"Die Geschichte hinter den Kristallgläsern ist ein bisschen tragisch. Meine Eltern haben mich dazu gedrängt sie zu kaufen, als ich 18 war und heiraten wollte. Damals habe ich mich nicht getraut, ihnen zu widersprechen. Sie stammen aus Griechenland und Italien und wollten sicher gehen, dass ich eine ordentliche Mitgift in meine Ehe mitbringe. Sie haben extra einen Vertreter zu uns nach Hause bestellt.

Ich habe 6.500 Franken für das Geschirrset inklusive der Kristallgläser bezahlt. Jetzt verkaufe ich die Gläser für 20 Franken das Stück, denn meine Tochter Jenni möchte sie nicht mal geschenkt. Das ist ein bisschen schade, aber sie verstauben seit über 30 Jahren in meiner Vitrine. Ich hoffe einfach, dass meine Eltern nicht herausfinden, dass ich sie verkauft habe."

Anzeige

Sabrina, 37

"Das Brettspiel war ein Geschenk eines befreundeten schwulen Paars. Die Jungs wollten es mir und meinem damaligen Freund zu einem Abendessen mitbringen. Mein Ex musste an dem Abend aber kurzfristig absagen. Das war wohl kein gutes Omen: Wir haben das Spiel nie gespielt und unsere Beziehung ging bald in die Brüche.

Wie du siehst, habe ich strategisch geschickt alle Gegenstände, die etwas mit Sex zu tun haben, in der ersten Reihe platziert – hier haben wir zum Beispiel das Buch Feuchtgebiete. Einen Gegenstand habe ich aber wieder versteckt, ein ultra nuttiges Netznegligé, von dem ich keine Ahnung habe, wie es in meinem Kleiderschrank gelandet ist. Aber vielleicht hole ich es wieder nach vorne, ich meine, hier an der Langstrasse geht es wahrscheinlich eher weg als am Bürkliplatz."

VICE auf Facebook und Instagram.