Kokain auf Rädern
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Drogen

Die umsatzstärkste Nacht des Jahres: Ein Koks-Taxi-Fahrer erzählt von seinem Silvester

Und warum er seinen Kunden rät, schon Tage vorher zu bestellen.

Silvesterabend. 23.59 Uhr. Deutschland zählt den Countdown zum neuen Jahr herunter. Die Straßen sind leer. Nur einige Rettungswagen, Polizeiwannen und Taxen sind in Berlin unterwegs. Und Sammy in seinem Koks-Taxi.

Das Prinzip ist einfach: Die Kunden rufen ihn an, er liefert das Kokain direkt vor die Wohnungs- oder Clubtür – zwischen Wedding im Norden und Mariendorf im Süden, meist schneller als jeder Pizzabote.

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Als wir uns an diesem Tag treffen, sitzt Sammy in einer Neuköllner Eckkneipe. Neben den blonden und kahlköpfigen Typen mit Hemden von Camp David und Schals von Hertha BSC fällt er mit seinem dunklen Teint auf, obwohl man bei ihm auch das "Icke" heraushört.

Sammy hatte Bedingungen für dieses Gespräch gestellt: Er verrät seinen echten Namen nicht und ich darf weder Aufnahmegerät noch Kamera mitbringen. Ich darf alles fragen, aber er entscheidet, ob er antwortet.

Die Nacht, die nun unmittelbar bevorsteht, nennt Sammy "den besten Tag im Jahr". "Wir verkaufen über 50 Prozent mehr als an einem normalen Tag", sagt er. Sammy alleine bringt an Silvester mindestens 40 Päckchen zu seinen Kunden – für 50 Euro das Stück. 2.000 Euro Umsatz wären das für nur einen Fahrer in einer Nacht. "Eher mehr", sagt er und schaut dabei hastig über die Schulter, um zu erhaschen, ob ihm noch jemand zuhören könnte. Das Kokain hat er in Plastikpapier zu kleinen Kugeln zusammengeklebt. Ein Dutzend dieser bunten Murmeln zeigt er mir in einem kleinen Beutel unterm Tisch. Die 0,55 Gramm pro Kugel packt er mit seinen Geschäftspartnern in einer Wohnung selbst ab. Wie viel Gewinn er mit einem Päckchen macht, will er nicht sagen: "Aber keine 100 Prozent."

Verlässliche Zahlen darüber, wie viele Menschen Kokain konsumieren, gibt es nicht. Sicher sind sich Experten aber, dass der Kokainkonsum drastisch zunimmt. Die Zahl der Erstkonsumenten von Kokain sei im Jahr 2015 um 6,5 Prozent gestiegen, so der Drogen- und Suchtbericht 2016. Ein Jahr später zählt der diesjährige Bericht deutschlandweit 71 Todesfälle im Zusammenhang mit Kokain – eine Steigerung um 78 Prozent.

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Sammy ernährt mit dem Kokain drei Kinder und seine Frau. Wie viel er verdient, möchte er nicht sagen, aber er könne davon besser leben als von seinem früheren Gastronomie-Job. Der hatte ihm 1.800 Euro netto im Monat eingebracht. "Das protzige Leben eines Kokain-Dealers lebe ich aber nicht", sagt Sammy. Um seinen Lebensunterhalt zu sichern, sei Silvester ein wichtiger Tag. "Jeder will an dem Abend ballern, besonders in Berlin."

24.000 Lines des weißen Pulvers zieht sich Berlin täglich rein. Das berechnete das Schweizer Institut Eawag im vergangenen Jahr, nachdem es das Berliner Abwasser untersucht hatte. Am Sonntag wollen zudem noch etwa zwei Millionen Touristen in der Bundeshauptstadt ins neue Jahr feiern. Damit ihre Lust nach Koks gestillt werden kann, hat sich in Berlin eine eigene Kokain-Logistik entwickelt. Wieviel Koks-Taxis es in Berlin gibt, weiß niemand. Die Welt schätzte 2014, dass es 150 seien, Sammy geht von mehreren Hundert aus. Taxi-Nummern werden per Mundpropaganda weitergegeben. Sammy sagt, bei ihm rufen Studenten, Start-up-Entrepreneure, Schönheitschirurgen und sogar Polizisten an.


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An Silvester klingelt sein Handy alle fünf Minuten. Es kommen SMS mit Fragen wie "Fährst du noch?" oder "Wie lange brauchst du?" Sammy plant die ganze Nacht zu fahren: "Viele Taxis machen früh Schluss, deswegen kann ich nach drei Uhr ein gutes Geschäft machen", sagt er. Der Konkurrenzkampf sei in diesem Jahr so hoch wie noch nie. "Mittlerweile tickt jedes Kind mit Drogen, das ist echt explodiert." Das liege auch an den Konsumenten, die Kokain in Berlin wie Fast-Food konsumieren würden. "Die Qualität ist vielen egal, dafür erwarten sie es innerhalb von einer Viertelstunden geliefert zu bekommen. Meist haben die Kunden mehrere Nummern und es gewinnt der Schnellere." Wie Deliveroo gegen Foodora – nur eben im Kokain-Business.

Viele Dealer würden ihr Kokain an Silvester nochmals bewusst strecken, sagt Sammy, während er in der Kneipe immer wieder unsere Tischnachbarn beäugt, sich zu mir beugt und seine Stimme senkt. Doch die Nachbartische ignorieren uns. "Die Dealer", fährt Sammy fort, "denken sich, dass ihre Kunden sowieso total druff sind und es nicht merken, was sie bekommen."

Beliebte Streckmittel sind Milchpulver oder das Betäubungsmittel Lidocain, das den Konsumenten durch die anschließende Taubheit in der Nase und Mundraum einen gewissen Effekt vorgaukelt. Sammy selbst behauptet, seine Ware nicht zu strecken. Um seine Glaubwürdigkeit zu betonen, sagt er: "Ich ziehe das Zeug ja leider selber seit drei Jahren." Dennoch sei ihm bewusst, dass auch sein Kokain einige Male verschnitten wurde, ehe es von Südamerika zu ihm gelangt war. "Wir sind ja auch keine großen Fische in der Nahrungskette, das ist eine Art Familienunternehmen mit einigen Freunden." Zwar teste er sein Zeug häufig, doch die Qualität schwanke auch bei ihm. Um die Gefahr zu verringern, verschnittenes Koks zu bekommen, empfiehlt er, einige Tage vor Silvester bestellen.

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Ein Grund für die miese Qualität seien die "Krisen", wie Sammy die Phasen nennt, wenn mal wieder eine Großbestellung hochgenommen wurde. Diese "Krisen" gab es im letzten Jahr häufig. Zoll und Polizei haben 2017 in ganz Deutschland knapp sieben Tonnen Kokain sichergestellt – dreimal mehr als im Vorjahr. Nach wie vor kommt der Stoff aus Süd- und Mittelamerika meist über den Seeweg nach Europa. Allein im Hamburger Hafen haben die Fahnder des Zolls bis zum Sommer dieses Jahres über 3,8 Tonnen Kokain gefunden. Woher Sammy sein Kokain hat, will er nicht sagen. Ihm sei nur aufgefallen, dass immer häufiger auch Koks über die kleineren Häfen wie etwa Bremerhaven nach Deutschland gelange. Trotz der Rekordzahlen gab der Zoll jedoch auch an, dass die Sicherstellungen kaum Auswirkungen auf das deutsche Geschäft gehabt hätten. Die Preise blieben 2017 stabil. "Wenn Krise ist, wollen die Großdealer weiter ihren Gewinn einstreichen, also strecken sie das Koks einfach", sagt Sammy.

Das hohe Angebot in Berlin macht Kunden wählerisch. "Oft beschweren sich welche, dass sie woanders die gleiche Menge für 40 Euro bekommen", sagt er. Das sei dann einfach schlechterer Stoff. Gewalttätig sei noch kein unzufriedener Kunde geworden. Eine Waffe trägt Sammy selbst auch nicht mehr seitdem die Polizei ihn mal mit einem Schlagring erwischt habe. Sein schlimmstes Erlebnis sei ein Kunde gewesen, der ihn mit zwei 500-Euro-Scheinen Falschgeld abgezogen habe. Und Krieg mit der Konkurrenz? "Ich gehe anderen Dealern aus dem Weg", sagt er. "Ein Kumpel von mir hat mal einen mit einer Pistole angeschossen, nachdem einer von einer Großfamilie uns beleidigt hatte, aber eigentlich muss man sich eher vor den Bullen in Acht nehmen."

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Im vergangenen Jahr geriet Sammy in eine Routinekontrolle, die Beamten fanden zwei Kugeln bei ihm und er musste 1.000 Euro zahlen. Verdacht auf den gemeinschaftlichen Verkauf von Rauschmitteln. Seitdem ist er noch vorsichtiger: Er hat nur noch Ware im Wert von einigen Hundert Euro dabei und tauscht regelmäßiger sein Handy.

"Vor einigen Jahren kannten wir noch die Nummernschilder von den Zivilbullen, aber seitdem die so viele mit Migrationshintergrund ausgebildet haben, ist es schwerer geworden", sagt er. Andererseits kenne er auch einige korrupte Polizisten. "Über einige Ecken, weiß man schon, dass da Polizisten mal für 100 Euro die Hand aufmachen."

Als er das 15-Euro-Handy zückt, um es mir zu zeigen, blinkt es auf. "Wo bleibst du?", fragt jemand per SMS. "15 Minuten", antwortet Sammy und verabschiedet sich.

Nimmst du Drogen und hast das Gefühl, dass du deinen Konsum nicht mehr kontrollieren kannst? Bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung findest du Suchtberatungsstellen in deiner Nähe und eine anonyme Sucht-und-Drogen-Hotline .

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