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Popkultur

Disarstar: "Antifaschistischer Lifestyle ist der einzig richtige Lifestyle"

Wir haben mit dem Hamburger über sein neues Album 'Bohemien' gesprochen, für das er öfters mal zur Flasche griff und einen Song aus Sicht eines prügelnden Polizisten geschrieben hat.
Disarstar
Foto mit freundlicher Genehmigung des Künstlers

Hamburger Speicherstadt, in einem Gebäude aus rotem Backstein ist die Warner Music Group untergebracht. Unten plätschert das Wasser des Kanals gegen die Hauswand, oben schließe ich das Fenster des Interviewraums. "Entschuldige die Verspätung", sagt Disarstar, als er eintritt. Irritiert gucke ich auf die Uhr. Er ist nur zwei Minuten zu spät.

VICE: Du hast kürzlich deinen gesamten Instagram-Feed gelöscht und bist mit der Ankündigung zu "Alice im Wunderland", der ersten Single deines Albums, neu gestartet. In deinem zweiten Post stand in der Bildunterschrift "Call it a Comeback". Strebst du eine Art Neugeburt an?
Disarstar: Ich war nie weg und ich strebe keine Neugeburt an. Es ist einfach Teil meiner Corporate Identity, dass es immer vorangeht. Ich will nichts relativieren, was in der Vergangenheit war. Die Social Media Zahlen sprechen für sich: Mein Ziel war es ein neues Level an Professionalität in meinen Account bringen, welchem der alte Content nicht gerecht geworden war. Ich habe das Gefühl, als wäre alles vorher ein Testspiel gewesen.

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Bohemien ist mein eingängigstes und poppigstes Album. Wir haben damit momentan Platz sieben in den Sondertrends erreicht und die Ticketverkäufe sprechen für sich.

Am 1. März startet die Tour. Bist du sehr aufgeregt?
Aufgeregt ist untertrieben. Ganz ehrlich: Ich bin so aufgeregt, dass ich die letzten Nächte schon richtig schlecht geschlafen habe. Mein momentanes Pensum ist einfach extrem. Ich spüre einen krassen Druck.

Der Titel lautet Bohemien, was übersetzt so viel wie "unkonventionelle Künstlernatur" heißt. Das Soundbild ist poppiger als beim Vorgängeralbum, teilweise sogar rockig. Ist das Album anders entstanden?
Ja, ich bin absolut unkonventionell vorgegangen. Anstatt zu Hause zu schreiben, bin ich in Berlin ins Studio gegangen und habe von null angefangen. Wir haben vor Ort überlegt, was wir an diesem Tag vorhaben und dann einfach drauf los gearbeitet. Außerdem war ich oft betrunken während der Produktion.

Du warst während der Produktion betrunken?
Ich habe in der Vergangenheit mal vier Jahre lang keinen Alkohol getrunken. Unter Alkoholeinfluss habe ich keine Musik gemacht. Aber jetzt muss ich zugeben: Es war ganz geil. Heraus kam dann dieser heterogene Sound zwischen verletzlich und aggressiv.

Willst du damit sagen, du machst betrunken bessere Musik?
Der Alkohol hat mir auf jeden Fall die Zunge gelockert. Vor allem wenn es um verletzliche Songs geht, mache ich diese Erfahrung. Das kann schon ganz hilfreich sein. Natürlich nicht besoffen – dann fängst du bloß an zu lallen und triffst den Takt nicht mehr. Für mich ist Alkohol ein Gefühlsverstärker: Das heißt, ich trinke nicht, wenn es mir schlecht geht, dann geht es mir nur noch schlechter, aber wenn ich richtig gut drauf bin, Alkohol trinke, und mich dann einem melancholischen Song widme, habe ich das Gefühl, dass alles noch ein bisschen intensiver wird.

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Der Alkoholkonsum steht im Gegensatz du dem, was man sonst von dir kennt, zum Beispiel deinen sportliche Ambitionen.
Man kann das nicht pauschalisieren – das ist phasenabhängig. Ich habe jetzt schon seit zweieinhalb Monaten gar keinen Alkohol mehr getrunken. Ich organisiere mein Leben immer in Phasen, und das schon seit ein paar Jahren. Im Sommer in Berlin ergab es für mich Sinn, zu trinken. Hier in Hamburg mache ich viel Sport – da ergibt es einfach keinen Sinn. Ich muss jeden Tag produktiv sein, um voran zu kommen. Würde ich trinken, würde es mich nur zurückwerfen.

In der Promophase hast du wieder drei OneTakes veröffentlicht. In einem heißt es: "Wo Licht ist, hat Schatten zu sein", und "bin manischen Höhen und dramatischen Tiefen". Es geht hier um krasse Gegensätze.
Ich bin ein "Ganz-oder-gar-nicht-Typ". Ich glaube zwar, dass ich in den letzten Jahren Workaholic-Tendenzen entwickelt habe, aber es hält sich alles die Waage. Es tut mir einfach nicht gut zu chillen.

Fällt es dir schwer, dich zu entspannen?
Letzten Samstag war mein erster freier Tag seit zwei Wochen. Ich war trotzdem den ganzen Tag auf den Beinen, habe mein Auto gewaschen, meine Wohnung geputzt und war beim Sport. Aber das kostet mich keine Disziplin. Ich freue mich jetzt schon darauf, heute Abend zum Sport zu gehen. Auf der anderen Seite habe ich auch Wochen, in denen ich durchhänge und gar nichts mache. Dafür mache ich dann die Tage darauf wieder so viel, dass es sich ausgleicht. Tut man einfach mal nichts, finde ich nicht schlimm. Nur mir geht es nach einen paar Tagen Nichtstun einfach nicht mehr gut.

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Prinz Pi rappte einst "Wenn es mir scheiße geht, schreib' ich meine besten Songs". Geht es dir wie ihm?
Mir ging es den gesamten Produktionsprozess, bis auf wenige Ausnahmen, ziemlich gut. Trotzdem sind derbe depressive Songs auf der Platte. Dir muss es nicht akut schlecht gehen – es reichen Erfahrungswerte, von denen du zehrst. Wenn du mal Liebeskummer hattest, ist das ein Gefühl, das du nie mehr vergisst. Depressionen sind ein kreatives Schmiermittel, aber ich muss nicht unmittelbar in einer beschissenen Phase stecken, um einen Song darüber zu schreiben. Ich kann auch in einer großartigen Phase einen Song über eine beschissene Phase texten, in der ich mal gesteckt habe. Wäre ich immer glücklich, könnte ich keine Musik machen. Dann gäbe es keinen Anlass mehr Musik zu machen – glaube ich zumindest.

Du machst momentan dein Abitur am Abendgymnasium nach, und das obwohl du dich ganz entspannt mit Major-Deal in der Tasche zurücklehnen könntest und alles auf die Musik setzen könntest. Willst du dir selbst damit etwas beweisen?
Mich macht die Vorstellung, irgendwann anzukommen, richtig unglücklich. Ich bin gern mit Leuten zusammen, die studieren, denn zu studieren bedeutet auf dem Weg zu sein. Und genau das heißt auch Musik für mich: Immer auf dem Weg zu sein. Nach dem Abi will ich erstmal studieren. Ja, ich habe Angst vor dem Ankommen.

Im Umkehrschluss könnte man vermuten, dass das Klischee von Hund, Frau, Haus, Kind und Nine-to-five-Job für dich der Horror sein muss.
Gar nicht mein Ding! Ganz ehrlich: Lieber als Penner unter der Brücke leben, dafür auf dem Weg und auf der Reise sein, statt eines Tages an den Punkt zu kommen, wo man mit ziemlicher Gewissheit sagen kann: Jetzt passiert nicht mehr viel.

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Konntest du dir 2014, als du die Hymne "Tor zur Welt" für deinen Kiez geschrieben hast, vorstellen, dass du knapp fünf Jahre später hier sitzen wirst und dein zweites Major-Album in den Händen hältst?
Mit 17 habe ich gerappt: "Wäre es gerecht, wäre ich schon lange beim Major gesignt". Mittlerweile haben Majors gar nicht mehr den Impact, den sie mal hatten. Was ein Major kann, kann ein gutes Independent-Label auch – siehe Cro bei Chimperator. Viele veröffentlichen sich heutzutage selbstständig und haben nur einen Vertriebsdeal beim Major. Da macht natürlich nicht zuletzt das Internet viel möglich. Wer braucht noch Plakatierungen?

Anstatt über die Zukunft zu sprechen, haderst du auf deinem neuen Intro-Track "Wie im Rausch" nochmal mit deiner Vergangenheit: "Ey, ich hab geackert wie'n Tier dieses Jahr, und das nur, damit es nie mehr so wird, wie es war". Fürchtest du deine Vergangenheit?
Mir fehlt noch immer das Vertrauen in meine Kompetenzen und die momentan gute Phase. Ich habe ständig das Gefühl, alles sei bloß ein Vorschuss, den ich irgendwann zurückzahlen muss, nach dem Motto: "Gewöhn dich nicht zu sehr dran". Ich komme langsam an den Punkt, an dem ich anfange zu vergessen, wie schlecht es mir eigentlich mal ging.

Wie ging es dir mit 17?
Ich habe mir gar nichts zugetraut. Ich habe mich verloren gefühlt und hätte nicht gedacht, dass ich es hinkriege, meinem Leben eine Richtung zu geben, mit der ich zufrieden bin. Ich hätte nicht gedacht, dass ich der werden kann, der ich sein möchte.

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Jetzt habe ich mein Fachabi geschafft. Aber auch wenn 2018 das beste Jahr meines Leben war, bin ich noch immer nicht da, wo ich hinwill – auch nicht mit der Mucke.

Gibt es Phasen, in denen du so unzufrieden bist, wie früher?
In meinen schlechten Phasen finde ich alles und mich selbst voll scheiße. Auch das, was ich mache, kommt mir scheiße vor – als wäre es komplett für die Katz’. Auf der einen Seite steht die Angst vor dem Ankommen und auf der anderen Seite die Angst davor, von der eigenen Vergangenheit eingeholt zu werden.

Du hast ein Split-Video auf St. Pauli gedreht, das kurz vor deinem Album erschienen ist. Darin hast du die Songs "Riot" und "Robocop" vereint. Wie entsteht so ein Video und wer sind die Darsteller? Das waren ja bestimmt keine extra engagierten Schauspielerinnen und Schauspieler …
Ich habe einen Kollegen angerufen und gesagt, dass ich ein Video drehen will, und er meinte: Klar, machen wir. Dann habe ich noch einen anderen Kollegen angerufen und dann waren es schnell so viele Leute.

So unkompliziert?
Es sind Leute aus Magdeburg und Bremen angereist. Der Großteil kam natürlich aus Hamburg. Ich glaube viele unterschätzen meinen Impact und meine Bedeutung für diese Leute. Wenn ich sage, ich möchte ein Video drehen, kommt vorbei, helft mir, unterstützt mich – dann kommen die auch. Am Ende mussten wir das sogar runterpushen. Wenn ich gewollt hätte, hätten es auch 500 Menschen werden können.

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Du sprichst jetzt selbst von "diesen Leuten". Du wirst oft mit der Antifa in Verbindung gebracht. Was bedeutet Antifa für dich?
Antifaschistischer Lifestyle ist der einzig richtige Lifestyle. Was ja nie reflektiert wird, ist, dass schon der Kern des Begriffs "Antifaschismus" bedeutet, gegen Faschismus zu sein. Für mich ist das Gegenteil davon, gegen Faschismus zu sein, für Faschismus zu sein. Heißt: Jeder Mensch mit einem gesunden Menschenverstand ist automatisch antifaschistisch, und zählt somit auch zur Antifa.

Du hast im Video zu "Robocop" die Rolle eines Polizisten eingenommen, obwohl du sagst, du hättest schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht. War das schwierig für dich?
Ich habe extrem negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Aber mir fiel das überhaupt nicht schwer, mich in die Rolle eines Polizisten zu versetzen. Natürlich habe ich überlegt, ob ich eine andere Perspektive hätte wählen sollten, aber aus dem Inneren eines Polizisten heraus war es für mich am einfachsten. Ich wollte es ja auch ein wenig ironisch darstellen.

Man sieht in dem Video unter anderem antifaschistische Flaggen, vermummte Köpfe und in der ersten Sequenz eine Jacke mit der Aufschrift "Nazi Hunter". Hattest du Befürchtungen vor Ärger mit Rechten?
Ja, aber da halte ich ja schon Ewigkeiten den Kopf hin. Ich bin wirklich überrascht, dass das so hingenommen wurde. Ich hätte den Song nicht gemacht, wäre ich nicht der Meinung, recht zu haben. Und es hat mich noch niemand vom Gegenteil überzeugt. Also wenn irgendwann mal der Moment kommt, dass ich irgendwo in einem Interview sitze und jemand will mit mir eine Debatte über Politik führen – was sich die wenigstens trauen – freue ich mich. So lange bin ich aber überzeugt, recht zu haben.

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Im Vorfeld hast du befürchtet, das Video würde Ärger von Rechten provozieren. Im Nachhinein konntest du dich auf Social Media für die positive Resonanz bedanken. Was war da los?
Ich wusste, dass Bedrohungen kommen werden, und die kamen auch. Aber das war absehbar. Die kamen vorher ja auch schon immer, nur jetzt eben intensiver. Ich habe so langsam das Gefühl, machen zu können, was ich will, ohne dass es irgendjemandem so richtig gegen den Strich geht.

Noch eine ganz andere Frage zum Schluss: Auf deinem Instagram-Account gibst du Lesetipps. Welches Buch empfiehlst du uns?
Ich will jetzt eigentlich nichts Politisches sagen. Was soll ich denn jetzt sagen? Ein Sachbuch? Oder doch was Politisches?

Welches Buch hat dich geprägt?
Da gibt’s echt einige. Aber ein Buch, nur ein einziges … Ich kann ja auch was ganz Banales sagen.

Dann los, was ganz Banales!
Herr der Ringe.

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