Ein Flüchtlingslager in Calais, Frankreich
Die beiden Geflüchteten Ahmad und Jafar in einem Flüchtlingslager in Calais |  Alle Fotos: Timothée Vinchon und Sophie Bourlet

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Flüchtlingskrise

Immer mehr Geflüchtete fahren in gestohlenen Fischerbooten über den Ärmelkanal

Schmuggler knacken die Boote im Hafen. Angetrieben werden die Menschen wohlmöglich vom Brexit – und der französischen Polizei.

Pascal Deborghers Fischerboot hat seinen Heimathafen eigentlich in der nordfranzösischen Stadt Boulogne-sur-Mer. Am 17. November 2018 bekam er jedoch einen seltsamen Anruf. "Hallo, Sir, was macht ihr Boot in Dover? Sie blockieren die Fährenroute." Deborghers Boot, L'Épervier, "Der Sperber", war gestohlen worden und über den Ärmelkanal nach England gelangt. Die britischen Grenzbehörden enterten das Boot schließlich und fanden 17 Geflüchtete an Bord.

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Natürlich freut sich Kapitän Deborgher nicht, dass sein Boot gestohlen wurde. Den Menschen, die damit nach Großbritannien geflüchtet sind, macht er aber keine Vorwürfe. "Wir sind nicht sauer auf sie", sagt er, als VICE ihn im Hafen trifft. "Eher auf die Politiker. Etwas läuft hier schief. Wenn es bei uns um Leben und Tod ginge, würden wir ja nicht anders handeln."


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Auch Stéphane Pinto, der Vizepräsident des Fischereirats von Boulogne-sur-Mer, ist schon zum Ziel der Menschen-schmuggelnden Bootsdiebe geworden. Vergangenen Oktober fand er die Tür seines Boots aufgebrochen vor, die Abdeckung der Steuerkonsole war abgerissen: "Es sah aus wie im Film – sie holen die Kabel raus und versuchen, die Boote kurzzuschließen." Pinto hatte bis dahin häufig seine Schlüssel im Boot gelassen. Inzwischen hat er ein ausgefeiltes Sicherheitssystem mit Alarm und Videoüberwachung installiert, außerdem beschäftigt er einen Sicherheitsdienst.

Für die Fischer der 40.000-Einwohner-Stadt muss es surreal wirken, im Zentrum einer globalen Krise zu wohnen. Doch seit Jahren sind Calais und die Côte d'Opale, der französische Küstenstreifen am Ärmelkanal, die wichtigste Anlaufstelle für Geflüchtete, die nach Großbritannien gelangen wollen. Allein 2018 verzeichneten die britischen Behörden von dort aus 15.000 illegale Einreisen per LKW, Auto und Container.

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Diebe haben sich an Stéphane Pintos Boot versucht, seither setzt er ein Sicherheitssystem und Wachleute ein

Die Zahl der Fluchtversuche per Boot hat seit Ende 2018 extrem zugenommen: Im gesamten letzten Jahr wurden 71 versuchte Kanal-Überquerungen mit Booten festgestellt, 57 davon im November und Dezember. Laut britischen Behördenangaben versuchten 2018 mindestens 539 Migranten und Migrantinnen, mit Booten aus Frankreich über den Ärmelkanal zu gelangen. Zum Vergleich: 2016 waren es insgesamt nur 23 Bootsfahrten zum Menschenschmuggel.

Dass es inzwischen so viele Menschen auf diesem Weg versuchen, erklären sich einige örtliche Fischer mit dem Brexit. Möglicherweise setzt Torschlusspanik ein, die Geflüchteten wollen unbedingt britischen Boden erreichen, bevor die Insel endgültig kein EU-Gebiet mehr ist. Andere vermuten, es habe damit zu tun, dass der Winter diesmal außergewöhnlich warm war. Die Menschenschmuggler verlangen zwischen 1.100 und 6.800 Euro pro versuchter Überfahrt – der genaue Preis hängt vom Risiko und von der Nachfrage ab.

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Kapitän Pascal Deborgher wurde das Fischerboot gestohlen, Menschenschmuggler gelangten damit bis nach Dover, England

Ahmad versuchte es Ende 2018. "Ich sagte dem Schmuggler, wir bräuchten doch Rettungswesten, aber er lachte mich nur aus", erzählt er. Ahmads Sorge war berechtigt: Nach etwa einem Kilometer kam die erste große Welle, das kleine Boot kenterte, alle Passagiere landeten im kalten Ärmelkanal. Der Schmuggler bestand darauf, die Fahrt fortzusetzen, doch die Schiffbrüchigen retteten sich stattdessen an den nächsten Strand und riefen die französischen Behörden zur Hilfe. Ahmads Frau und Sohn wurden gerettet; als VICE Ende Januar mit Ahmad spricht, liegen sie allerdings noch im Krankenhaus. Erst wenn die beiden sich erholt haben, wolle Ahmad entscheiden, wie es weitergeht. "Es gibt immer Mafias, die einem einen Ausweg anbieten", sagt er. "Wenn man 3.000 Euro für sie hat."

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Die gescheiterte Überfahrt hätte tödlich enden können. "Es ist sehr schwierig, in diese Art Boot zurückzuklettern", sagt Gérard Barreau, Präsident der Niederlassung der französischen Seerettungsgesellschaft (SNSM) in Boulogne-sur-Mer. "Wer im Winter in die See fällt, hat etwa sieben oder acht Minuten, bevor Unterkühlung einsetzt. Nach 15 ist man tot." Ahmads Geschichte überrascht Barreau nicht. Allein zwischen Oktober 2018 und Ende Januar 2019 habe die SNSM 21 Personen aus dem kalten Wasser gerettet, davon hätten mehrere aufgrund von Unterkühlung in Lebensgefahr geschwebt.

"Das hier ist die Hölle", sagt Ahmad. "Es ist der Dschungel. Tiere könnten hier leben, aber nicht Menschen, und erst recht keine Kinder. Wir müssen hier weg!"

"Der Ärmelkanal birgt auch für erfahrene Seeleute viele Gefahren, für Laien ist er also umso gefährlicher", fügt Barreau hinzu. Er zeigt sich schockiert, wie amateurhaft die Schmuggler vorgehen. "Sie können mit dem Kanal nicht umgehen. Wir haben schon vier Meter lange Luftboote mit winzigen Motoren gefunden – manche hatten sogar Paddel! Es ist lächerlich." Im Ärmelkanal gebe es Untiefen, die extrem starke Strömungen verursachen, dazu komme ein reger Bootsverkehr mit 400 bis 600 Wasserfahrzeugen, die täglich in Boulogne ein- und ausfahren. "Und das Wasser hat im Winter nur etwa fünf Grad Celsius – das ist Suizid."

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Das Flüchtlingslager in der Rue du Pont Trouille in Calais

Das Flüchtlingslager im 35 Kilometer entfernten Calais teilt sich Ahmad unter anderem mit Sina, einem 32-jährigen Ingenieur für Hydraulik. Sina floh aus dem Iran, als die Regierung ihn in den Militärdienst zwingen wollte. Er verließ seine Frau und seine Familie und reiste in einem LKW versteckt nach Europa. Auf die Frage, wie es für ihn weitergehe, lacht Sina trocken: "Meine Frau würde mir nie erlauben, ein Boot zu nehmen. Zu riskant." Doch nach etwa 30 gescheiterten Versuchen, in einem LKW durch den Eurotunnel nach Großbritannien zu gelangen, kann Sina nachvollziehen, warum einige sich verzweifelt auf die Bootsfahrten begeben.

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Jafar ist es das Risiko wert. Er ist entschlossen, England auf dem Seeweg zu erreichen. Als VICE Ende Januar mit ihm spricht, ist der 28-Jährige seit wenigen Wochen in Calais. In dieser Zeit hat er unzählige Male gesehen, wie seine Freunde an der Fahrt durch den Eurotunnel gescheitert sind. "Im Iran haben wir ein Sprichwort: 'Keine Farbe ist dunkler als Schwarz'", sagt Jafar. "Die Kanal-Überquerung ist nicht so schwarz wie das, was wir in Iran erlebt haben." Natürlich seien die Bedingungen in Calais auch nicht einfach, vor allem im Winter. "Und dann kommt auch noch ständig die Polizei und nimmt uns die Zelte weg. Sie wollen uns verscheuchen, selbst wenn es schneit und windig ist."

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Geflüchtete wärmen sich an einem Lagerfeuer im sogenannten Dschungel von Calais

François Guennoc ist Vizepräsident von L'Auberge des Migrants, der Migrantenherberge in Calais. Die Organisation versorgt Geflüchtete vor Ort mit Zelten, warmen Mahlzeiten und psychologischer Betreuung. "Dem Lager hier sind rund 500 Polizeibeamte zugeteilt", sagt er. "Das ist etwa einer pro geflüchteter Person. Dazu kommen dann noch die ganzen anderen Sicherheitsleute hier in der Gegend."

Guennoc zufolge haben die Polizeieinsätze gegen das Flüchtlingscamp von Calais seit September 2018 zugenommen. Aktuell komme es etwa alle 48 Stunden zu einem Zugriff. Der Menschenrechtsanwalt Jacques Toubon sagt VICE im Dezember, die psychische Belastung sei für die Migranten in Calais extrem, da sie nicht einmal einen halbwegs permanenten Lagerplatz hätten. Erklärt das die vielen verzweifelten Versuche, mit dem Boot nach England zu fahren? Ahmad ist davon überzeugt: "Das hier ist die Hölle", sagt er. "Es ist der Dschungel. Tiere könnten hier leben, aber nicht Menschen, und erst recht keine Kinder. Wir müssen hier weg!"

Der französische Innenminister Christophe Castaner kündigte Ende Dezember 2018 eine Partnerschaft mit der britischen Regierung an: Man werde einen "behördlichen Plan" ausarbeiten, der vor allem darauf abzielt, Strände und Häfen besser zu überwachen, um Kanal-Überfahrten zu verhindern. François Guennoc von der Migrantenherberge hält das für eine schlechte Idee. "Sie gehen das Problem vom falschen Ende an", sagt er. "An der italienischen Grenze versucht die Polizei, Menschen an der Einreise zu hindern. Und hier versuchen die Beamten, Menschen von der Ausreise abzuhalten."

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