Manspreading hat seine Daseinsberechtigung
Symbolbild | Foto: Anne Worner | Flickr | CC BY-SA 2.0

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Anatomie

Manspreading hat seine Daseinsberechtigung

Es gibt einen anatomischen Grund, warum viele Männer beim Sitzen so viel Platz einnehmen.

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Kaum habe ich mich auf die Couch gesetzt, erkennt Stu McGill mein Problem. Eigentlich soll ich den Professor für Wirbelsäulenbiomechanik nur für einen Artikel interviewen, aber ich habe auch ein persönliches Anliegen: Warum schmerzt mein Rücken nach jahrzehntelangem Training plötzlich bei grundlegenden Übungen wie Kniebeugen oder Kreuzheben?

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Er beobachtet mich, wie ich mich in der klassischen Manspreading-Position – also extrem breitbeinig – niederlasse. Kurz darauf lerne ich, dass diese Position durch die Form und Beweglichkeit meiner Hüftgelenke bestimmt ist.

McGill gehört zu den gefragtesten Rückenspezialisten der Welt. Auf seiner Patientenliste stehen MMA-Champions, rekordbrechende Kampfsportler und selbst andere Rückenärzte. Mein Fall ist aber überhaupt nicht kompliziert. Da meine Haltung bei den Kniebeugen nicht zur einzigartigen Struktur meiner Hüften passt, waren die Schmerzen nur eine Frage der Zeit.


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Seitdem fallen mir immer wieder subtile Unterschiede in der Sitzhaltung von Männern auf – egal ob nun der Abstand zwischen ihren Beinen, die Rückenposition oder die asymmetrische Fußstellung. All diese Faktoren sind Anzeichen der unzähligen Beckenstruktur-Variationen und sie erklären, wieso es den Manspreader überhaupt gibt.

In Artikeln zum Thema Manspreading geht es vorrangig darum, was das Ganze über unsere patriarchale Gesellschaft aussagt. Die Unterschiede zwischen den Sitzhaltungen von Männern und Frauen werden nicht der Anatomie, sondern Machtverhältnissen zugeschrieben: "Manspreader fühlen sich nicht nur privilegierter, sie neigen auch noch mehr dazu, zu klauen, fremdzugehen und die Verkehrsvorschriften zu missachten", heißt es da zum Beispiel.

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Vor unserem Gespräch hat der Wirbelsäulenbiomechaniker McGill noch nie vom Manspreading gehört. Er erklärt sich das Ganze aber schnell mithilfe seiner Arbeit mit Kraftathleten. Hier sehen wir zum Beispiel den legendären russischen Gewichtheber Wassili Alexejew in seiner Freizeit und bei einem Wettbewerb.

Seine Beine befinden sich auf beiden Fotos im ungefähr gleichen Winkel zueinander. Das Gleiche trifft auch auf mich zu, obwohl ich nur halb so viel wiege wie der 160 Kilo schwere Alexejew. Zu diesem Urteil kommt McGill nach zwei Tests zur Bestimmung meiner idealen Squat-Form. "Die meisten Männer sitzen am entspanntesten da, wenn ihre Knie auseinander sind", erklärt er.

Folgendes passiert, wenn jemand wie ich mit geschlossenen Beinen dasitzt: Das runde Ende des Oberschenkelknochens drückt gegen die äußere Kante der Hüftgelenkpfanne. Das wiederum belastet das Labrum acetabuli, also die Knorpellippe der Hüftgelenkspfanne. Um diese Sitzhaltung einzunehmen, brauche ich die Adduktoren in den Innenseiten meiner Oberschenkel. So spannen sich die Adduktoren in den Außenseiten meiner Oberschenkel automatisch an – und diese Anspannung kann sich bis in die unter Hälfte meines Rückens hochziehen. Sobald ich mich wieder entspanne, gehen meine Oberschenkel automatisch auseinander und zwischen meinen Knien entsteht eine Lücke von knapp 40 Zentimetern. Also fast ein richtiger Manspread.

Frauen hingegen besitzen breitere Becken sowie Oberschenkelknochen, die von vornherein eher zur Körpermitte hin gerichtet sind. Mit geschlossenen Knien dazusitzen, ist für sie dementsprechend nicht mit Anspannung verbunden. Nur während der Schwangerschaft ist das anders, denn da drückt das Gewicht des Bauchs die Knie nach außen.

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Nichts von all dem rechtfertigt in irgendeiner Weise, dass sich Männer in den öffentlichen Verkehrsmitteln wie Arschlöcher verhalten.

Die Unterschiede in der Hüft-Anatomie sind aber nicht nur vom Geschlecht abhängig, sondern auch von der Herkunft. Eine Folge dieser Unterschiede ist laut McGill der Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von orthopädischen Krankheiten und athletischen Fähigkeiten. Polen ist zum Beispiel ein Hüftdysplasie-Hotspot. Da flache Hüftgelenkpfannen jedoch tiefe Kniebeugen erleichtern, kommen auch eine Menge erfolgreiche Gewichtheber aus dem mitteleuropäischen Land.

Menschen mit einer keltischen Herkunft leiden hingegen viel häufiger an einer Hüftverengung. In anderen Worten: Aufgrund ihrer tiefen Hüftgelenkpfannen besitzen sie nur einen begrenzten Bewegungsradius. Damit haben sie im unteren Bereich der Kniebeuge Probleme, können in aufrechterer Position jedoch viel mehr Kraft erzeugen. Dieser Umstand erklärt, warum die Schotten Golf und Baumstammwerfen erfunden haben und die Briten dem Bare-Knuckle-Boxen verfallen sind.

Auf der anderen Seite des Globus machen sich Asiaten ihren tiefer liegenden Körperschwerpunkt und ihre extreme Hüftbeweglichkeit beim Kampfsport zu Nutze, um die Größe und Kraft des Gegners gegen ihn einzusetzen.

Und selbst in diversen Volkstraditionen ist das ganze Phänomen zu beobachten: Der ukrainische Kosakentanz wird durch die vergleichsweise kurzen Oberschenkelknochen begünstigt, während der irische Stepptanz niemals in Bevölkerungsgruppen aufgekommen wäre, die ohne Probleme einen Spagat hinkriegen.

Eine Sache muss ich aber klarstellen: Nichts von all dem rechtfertigt in irgendeiner Weise, dass sich Männer in den öffentlichen Verkehrsmitteln wie Arschlöcher verhalten. Dort ist es halt manchmal eng und unbequem. Deal with it. Das Penis-Argument ist übrigens auch Quatsch: Nein, ohne Manspreading wird nicht plötzlich das männliche Geschlechtsteil beim Sitzen von den kräftigen Oberschenkelmuskeln zerquetscht.

Von daher richte ich folgenden Aufruf an alle anderen Männer: Wir müssen uns nicht rechtfertigen, wenn wir uns etwas breiter hinsetzen und damit den vorhandenen Platz ausfüllen. Wenn dieser Platz aber nicht da ist, dann müssen wir auch mal in den sauren Apfel beißen und unsere Beine zusammenziehen.

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