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HORROR

Schlafwandler verschaffen uns Einblicke in eine gruselige Welt des Mensch-Seins

Sie gehen spazieren, fahren Motorrad und begehen Morde.
Ausschnitt aus dem Film Das Cabinet des Dr. Caligari | Bild: imago | United Archives

Wir schreiben das Jahr 1987, als der Kanadier Kenneth Parks gut 22 Kilometer zu seinen Schwiegereltern fährt. Er verschafft sich Zutritt zu ihrem Haus, geht nach oben und fängt an, seinen Schwiegervater zu würgen. Anschließend schlägt er mit einem Reifenmontierhebel auf die Schwiegermutter ein und tötet sie durch sechs Messerstiche. Nach der Attacke steigt Parks wieder in sein Auto, fährt zur nächsten Polizeiwache und gibt an, wohl einen Mord begangen zu haben.

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Was wie ein eindeutiger Fall erscheint, ist nicht ganz so einfach. Kenneth Parks verlässt die Gerichtsverhandlung als freier Mann. Er hat kein Motiv. Seine Aussage ist schlüssig und die Ergebnisse einer EEG-Messung sind eindeutig: Alle Indizien weisen darauf hin, dass Parks während der Tat schlafwandelte. Der Schwiegermutter-Mord ist bis heute einer der meistdiskutierten Fälle, bei denen das Schlafwandeln fatale Folgen hatte.

Ein häufig auftretendes, aber kaum verstandenes Phänomen

Schlafwandeln – auch als Somnambulismus bekannt – ist ein Phänomen, das während des Non-REM-Schlafs auftritt. 2012 veröffentlichte die amerikanische Fachzeitschrift Neurology eine bahnbrechende Studie: Fast 30 Prozent der Probanden haben in ihrem Leben schon einmal schlafgewandelt.

Diese Zahl ist viel höher als bis dahin angenommen. Und sie legt nahe, dass fast ein Drittel von uns von dem Phänomen betroffen sind. Dabei sind die genauen Ursachen nicht bekannt. Als Auslöser gelten Stress, Angst und Alkohol. Befinden wir uns beim Schlafwandeln in einer Art Autopilot-Modus? Wollen wir so unsere Fantasien ausleben? Oder steckt etwas viel Merkwürdigeres dahinter?

Wissenschaftler haben solche Fragen rund ums Schlafwandeln bis jetzt noch nicht zufriedenstellend beantwortet. Deswegen sind im Laufe der Geschichte viele Mythen und Theorien zum Thema Somnambulismus aufgekommen – auch aus den spirituellen, pseudowissenschaftlichen und folkloristischen Lagern.

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Schlafwandeln in der Kunst

Die Somnambulismus-Szene in Shakespeares Tragödie Macbeth ist genauso berühmt wie verstörend: Während Lady Macbeth schlafwandelt, outet sie sich als Mörderin von Lady Macduff, Banquo und König Duncan. Sie scheint von einer mysteriösen Energie besessen und reibt sich die Hände, um unsichtbares Blut von ihren Händen zu waschen: "Noch immer riecht es hier nach Blut; alle Wohlgerüche Arabiens würden diese kleine Hand nicht wohlriechend machen. Oh, oh, oh!"

In seinem Buch Wild Nights: How Taming Sleep Created Our Restless World erzählt Benjamin Reiss die Geschichte von Rachel Baker, einer presbyterianischen Christin im New York des frühen 19. Jahrhunderts. Sie predigte, betete und fluchte im Schlaf. So wurde sie als die "schlafende Predigerin" berühmt. Jeden Abend versammelten sich Schaulustige und Anhänger um ihr Bett, um ihren nächtlichen Ausbrüchen zu lauschen. An manchen Abenden kamen bis zu 300 Menschen zusammen.

Während dieser fast wahnsinnigen Trance-Predigten warnte Baker vor dem Schrecken der ewigen Verdammnis. Dazu knirschte sie mit den Zähnen, stöhnte und atmete nur unregelmäßig. Sie sah die Schaulustigen mit einem wilden, unbeständigen Blick an. Ihre Pupillen waren ungewöhnlich, fast schon kränklich erweitert. Und waren die nächtlichen Schübe vorbei, zitterte Baker noch einmal wie verrückt und brach dann zusammen.

1915 entwickelte auch der Vater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, eine Faszination fürs Schlafwandeln. Was kaum überrascht: Er verband Somnambulismus mit der Erfüllung von sexuellen Wünschen, die man unterdrückt. Zudem stellte er die Theorie auf, dass Schlafwandler dorthin zurückkehren wollen, wo sie als Kind geschlafen haben.

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Fünf Jahre später wurde das Thema Schlafwandeln zum ersten Mal im großen Stil auf eine Kinoleinwand gebracht. In dem deutschen Horror-Stummfilm Das Cabinet des Dr. Caligari geht es um einen bösartigen Arzt, der einen Schlafwandler Morde begehen lässt. Das expressionistische Meisterwerk schafft es, den mysteriösen Charakter von Somnambulismus einzufangen, und stellt gleichzeitig infrage, was wir als gesunden Verstand und Bewusstsein verstehen.

Unser Gehirn ist gleichzeitig wach und eingeschlafen

Bis heute ist Schlafwandeln ein hochkomplexes Thema, das vielen Wissenschaftlern Kopfzerbrechen bereitet. Der Neurologe Guy Leschziner leitet eines der größten Schlaflabore in Großbritannien. Dort werden Schlafwandler, Insomniker und andere Menschen behandelt, die unter Schlafstörungen leiden. Leschziners Patienten sind schon Motorrad und Auto gefahren oder haben Verbrechen begangen, obwohl sie eigentlich schliefen.

Der Neurologe schreibt, dass wir Schlaf und Wachphase als binäre Zustände sähen – man also entweder schlafe oder wach sei. Somnambulismus sei allerdings ein Indiz dafür, dass dem nicht so ist: "Schlaf und Wachzustand sind die entgegengesetzten Enden eines Spektrums der Hirnaktivität. Wo sich unser Hirn gerade auf diesem Spektrum befindet, wirkt sich auf unser Verhalten, unsere Erinnerung und unsere Fähigkeiten aus."

Anders gesagt: Wir sind nie komplett wach oder komplett eingeschlafen, sondern immer ein gewisses Maß von beidem. Das erklärt, warum eine von Leschziners Patienten während des Schlafwandelns auf ihr Motorrad steigt und durch die Nacht braust. Die kognitiven Bereiche ihres Gehirns, die für ihre Fahrkünste und ihre Balance verantwortlich sind, befinden sich im Wachzustand. Der Rest ihres Gehirns im Schlafzustand. Warum und wohin sie schlafwandelt, diese Fragen lassen sich nicht beantworten.

Die Schätzung, dass 30 Prozent von uns irgendwann in unserem Leben mal schlafwandeln, erscheint hoch. Dabei könnte die tatsächliche Zahl noch viel höher sein. Eindeutige Statistiken sind nur schwer zu erstellen, weil eine richtige Messung so schwierig ist.

Menschen, die alleine leben, schlafwandeln vielleicht, ohne es jemals mitzubekommen. Leschziners Patientin erfuhr nur von ihren nächtlichen Motorradausflügen, weil Nachbarn sie darauf aufmerksam machten.

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