Wie es ist, deinen Uni-Abschluss im Gefängnis zu machen
Alle Fotos: Marie Hyld

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Wie es ist, deinen Uni-Abschluss im Gefängnis zu machen

Ja, du kannst im Knast studieren. Nein, es ist nicht so entspannt, wie du vielleicht denkst.

Arne Jensen sagt, er hätte nie gedacht, dass er mal ein gebildeter Mann werden würde, schließlich, "liebe ich es, Verbrecher zu sein". Dann strahlt er, als würde er über seine neu entdeckte Leidenschaft fürs Gärtnern sprechen.

Der 38-jährige Däne hat ein Drittel seines Erwachsenenlebens hinter Gittern verbracht. Zehn verschiedene Vollzugsanstalten hat er schon von Innen gesehen. Sein Strafregister reicht von Körperverletzung über Brandstiftung, Einbruch bis hin zum Besitz von Marihuana, das er verkaufen wollte. Aktuell sitzt er eine zwölfjährige Haftstrafe ab.

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Die Polizei erwischte ihn im März 2014 in Kopenhagens Freistadt Christiania. Die Beamten fanden sechs Kilo Haschisch und umgerechnet gut 20.000 Euro in bar. Die Aktion war Teil der "Operation Nordlicht", bei der 80 Menschen verhaftet wurden.

"Aber als Verbrecher habe ich keine Zukunft mehr. Wenn es irgendwo in meiner Nähe einen Einbruch gäbe, käme die Polizei als erstes zu mir", erklärt Arne. Den Bildungsweg hat er also auch aus Not eingeschlagen. "Ich musste mich nach anderen Möglichkeiten umschauen."

Ein Mann steht in einem kargen Flur mit mehren Türen

Vor drei Jahren sagte ihm sein Haftbetreuer etwas, das ihm noch niemand zuvor gesagt hatte: Wenn er wolle, könne er sein Abitur nachholen und studieren. Es sei die Mühe definitiv wert. Nach dieser Unterhaltung begann Arne, an eine andere Zukunft zu denken, die jenseits des Stacheldrahts der Hoserød-Haftanstalt lag. Er entschloss sich, die Hochschulreife erreichen zu wollen.

"Ich will ein langweiliges Leben mit einem Volvo, einem Häuschen in der Vorstadt, einem Hund und dem ganzen Rest", sagt Arne heute.

Die dänische Vollzugs- und Bewährungsbehörde hat keine Zahlen dazu, wie viele Insassen des Bildungsprogramme begonnen oder abgeschlossen haben. Laut Tina Engelbrecht Issing, der Leiterin des Rehabilitationsprogramms, dürfte der Anteil der in Bildungsprogrammen gemeldeten Insassen aber bei zehn bis zwanzig Prozent liegen.

Die Frage, ob Häftlinge einen Anspruch auf Bildung haben, ist in Dänemark heftig umstritten. Dahinter steht eine philosophische und ethische Frage, die Politiker, Forscherinnen und Interessengruppen immer wieder diskutieren: Warum bestrafen wir als Gesellschaft Menschen überhaupt? Sperren wir Kriminelle nur weg, um sie für ihre Taten zu bestrafen und die Gesellschaft vor ihnen zu schützen? Oder sperren wir sie weg, weil wir glauben, dass eine Haftstrafe ihnen die Möglichkeit gibt, sich zu resozialisieren und ein neues Leben zu beginnen?

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Ob zusätzliche Bildung die Täterinnen und Täter davon abhält, nach ihrer Entlassung wieder kriminell zu werden, war bereits Bestandteil zahlreicher wissenschaftlicher Studien. Eine Vergleichsstudie, die im Mai 2018 im Journal of Experimental Criminology erschien, nahm 57 Studien unter die Lupe, die in den vergangenen 37 Jahren in den USA durchgeführt worden waren. Die Forscherinnen und Forscher kamen zum Schluss, dass es für Insassen, die an Bildungsprogrammen teilnehmen, um 28 Prozent unwahrscheinlicher ist, dass sie wieder auf die schiefe Bahn geraten, als Verurteilte, die während ihrer Haft keine Bildungsprogramme durchlaufen.


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Die Soziologin und Kriminologin Linda Kjær Minke hat im Rahmen ihrer Doktorarbeit 1.000 Stunden mit ethnografischen Studien in dänischen Gefängnissen verbracht. Neben ihrer Stelle als Juradozentin an der Syddansk Universitet begann sie 2016 ein Projekt in der offenen Vollzugsanstalt Søbysøgård: Jurastudentinnen und -studenten kommen ins Gefängnis und nehmen gemeinsam mit den Insassen an einem Seminar zu Bestrafung und Verbrechensprävention teil.

Einer der inhaftierten Studenten war Thomas*, der sechseinhalb Jahre für Drogenvergehen einsitzt. Nach seiner Freilassung möchte Thomas ein normales Leben beginnen. Deswegen hatte er sich dazu entschlossen, sein Abitur im Gefängnis nachzuholen. Nachdem er sein Interesse an Jura entdeckt hatte, bewarb er sich für ein Wirtschaftsrecht-Programm.

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"Linda ist ein großartiger Mensch", sagt Thomas. "Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich mit dem Jurastudium begonnen habe. Sie hat mir gezeigt, wie spannend und aufregend Rechtswissenschaften sind. Es bedeutet einem viel, wenn jemand dazu bereit ist, dir zuzuhören und für dich zu kämpfen."

"Die Credit-Points sind nicht das Entscheidende." – Kjær Minke

Im Laufe ihrer wissenschaftlichen Karriere hat sich Kjær Minke vor allem immer wieder über eine Sache gewundert: "Warum bestehen wir als Gesellschaft so sehr darauf, Menschen mit ähnlichen Problemen und Herausforderungen zusammen wegzusperren, statt sie mit Menschen in Kontakt zu bringen, die sich von ihnen deutlich unterscheiden?"

In Minkes Seminar sitzen zwölf reguläre Studierende und zwölf Insassen. Für alle gelten die gleichen Anforderungen. Sie sitzen im selben Raum des Gefängniskomplexes und alle Teilnehmer nehmen nach Absolvierung fünf Creditpoints mit. Die Jura-Studentinnen und -studenten lassen sich die Punkte regulär anrechnen, Insassen wie Thomas können sie später bei der Bewerbung für ein Studium einreichen.

"Die Credit-Points sind aber nicht das Entscheidende. Viel wichtiger ist, dass die Insassen eine Gleichbehandlung erleben und die Möglichkeit haben, etwas für sich selbst zu erreichen", sagt Kjær Minke.

Das Seminar hatte Thomas ermutigt, sich für ein Jurastudium zu bewerben. Nach noch nicht einmal einem Jahr brach er aber wieder ab. Er hatte große Mühe mitzukommen. Sein Studium hinter Gittern beschreibt er als "aussichtslosen Kampf". Das hatte mehrere Gründe, die Arbeits- und Lernbedingungen gehörten auch dazu.

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Ein Mann steht in Gefängniskleidung vor einer Tür mit Sichtfenster

Die meisten Insassen, die an Bildungsprogrammen teilnehmen, betreiben eigenständig ein Fernstudium. Sie dürfen dafür auch die Räume des Gefängnisses in Anspruch nehmen, wie den Computerraum zum Beispiel. Zwischendurch bekommen sie Hilfe von Dozenten. Ähnlich sieht es auch in Deutschland aus, wo Inhaftierte ein Studium bei der Fernuni Hagen absolvieren können. Was in der Theorie beinahe idyllisch klingt, erweist sich in der Praxis oft als mühselig.

"Das Problem ist, dass die Leute anfangen, rumzualbern, und es dann für alle anderen versauen, die ernsthaft dort versuchen, zu lernen. Es gibt niemanden, der den Raum überwacht. Und wenn andere Scheiße machen, dann mache ich auch Scheiße. Am Ende gerätst du bei deinen Seminararbeiten in Rückstand und verlierst deine Motivation", erklärt Thomas.

Thomas fiel in sechs von acht Prüfungen durch. Die Messlatte lag hoch und Rückfragen an die Dozenten konnte er nur einmal die Woche stellen. Wenn er die geschriebenen Antworten nicht verstand oder zusätzliche Fragen hatte, musste er eine weitere Woche auf die nächste Antwort warten. "Niemand fühlt sich gerne dumm und es ist leichter, einfach aufzugeben. Aber das ist eine Schande." Er sei sich sicher, dass "mit der richtigen Anleitung" seine Aufgaben hätte lösen können.

"Je mehr Menschen du hier von draußen hast, desto 'normaler' geht es im Gefängnis zu." – Thomas

Auch wenn es mit dem Jurastudium nicht geklappt hat, wird Thomas diesen Winter sein Studium an der Dänemarks Technische Universität beginnen. Sein Rat an Vollzugs- und Bewährungsbehörde seines Landes lautet: Erleichtert Insassen den Zugang zu ihren Dozentinnen und Mentoren, die sollen auch zwischendurch physisch in den Haftanstalten anwesend zu haben.

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"Es würde eine Menge zur Stimmung beitragen – es wäre weniger wie ein Gefängnis, weil wir dazu angehalten wären, uns zu benehmen. Je mehr Menschen du hier von draußen hast, desto 'normaler' geht es im Gefängnis zu. Das bringt einfach bessere Studenten hervor."

Wenn es nach Thomas ginge, würde er alle seine Uniarbeiten im Gefängnis so erledigen, wie bei dem Seminar, das er bei Kjær Minke hatte – Seite an Seite mit regulären Studierenden. "Das würde einen riesigen Unterschied machen. Ohne bekommst du nicht das Feedback, das du brauchst, um motiviert zu bleiben und deine Aufgaben zu erledigen", sagt er.

Trotzdem schaue Thomas optimistisch in die Zukunft. Vor Kurzem hat er eine Reihe Unternehmen angerufen und gefragt, ob sein Lebenslauf bei einer Bewerbung einer möglichen Anstellung im Wege stehen würde. Viele der Antworten hätten ihm Mut gemacht.

"Es ist nicht so, als hätte es sich nicht super angefühlt, illegal Geld zu machen." – Arne

Was Arne angeht, hat das Bildungsprogramm seine Erwartungen weit übertroffen. Als ich ihn fragen möchte, ob er irgendwelche Probleme mit dem Lernen hinter Gittern erlebt hat, antwortet Arne, noch bevor ich meinen Satz beendet habe: "Probleme? Überhaupt nicht. Das ist das Beste, was mir je passiert ist."

Bislang hätten zwar alle seine Erfolgserlebnisse im Leben mit Verbrechen zu tun gehabt, aber Arne sieht jetzt auch eine Alternative. "Es ist nicht so, als hätte es sich nicht super angefühlt, illegal Geld zu machen. Aber erst jetzt habe ich erkannt, dass ich nicht von Grund auf schlecht oder dumm bin. Ich hatte eine verdammte 1 in Englisch", ruft er und wirft die Arme in die Luft.

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Nach den Sommerferien wird er anfangen, für sein Abitur zu lernen. Wenn er das besteht, bekommt er Zugang zur Hochschulbildung. Die Frage, ob er plane, sein nächstes Bildungsziel abzuschließen, findet er allerdings etwas unfair. "Ich weiß die Antwort darauf nicht. Ich habe Angst, zurück auf die schiefe Bahn zu geraten, wenn ich es nicht schaffe."

Arne sagt, er träumt davon, Landschaftsgärtner zu werden. Er liebt den Geruch von Rhododendron, zu gerne würde er Rosen schneiden und ihnen beim Blühen zuschauen. Die Bildung bedeutet ihm sogar so viel, dass er keine verfrühte Haftentlassung beantragt hat. Um "es nicht zu verkacken", wie er sagt. Eigentlich könnte er schon draußen sein, aber lieber möchte er seine volle Strafe absitzen, um sein Abitur vor der Freilassung abzuschließen.

"Ich habe mich auch dazu entschieden, mit dir darüber zu sprechen, damit ich motiviert bleibe", gibt er zu. "Ich will, dass die ganze Welt weiß, was ich hier mache, damit ich da draußen auf der Hut bleibe."

*Thomas heißt eigentlich anders.

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