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Verbrechen

Wie ich einen Betrüger verfolge, gegen den die Polizei machtlos scheint

Würdest du einem Fremden 100 Euro leihen? Was passierte, nachdem ich das getan habe.
Foto: Eva L. Hoppe

Hauptbahnhof Düsseldorf, Mitte Juni 2017, halb acht am Morgen. Ich warte auf den ICE nach München, meine letzte Etappe auf dem 20-stündigen Rückweg von einer China-Reise. Müde nippe ich an meinem Kakao, als Marcus P. mich anspricht. Der kleine Mann mit dem zu großen Hut und den beiden riesigen Koffern sagt, er brauche meine Hilfe.

Er komme von einer Mobilfunkmesse in Singapur, erzählt er. Am Flughafen habe jemand seine Brieftasche geklaut. Geld, Reisepass und Kreditkarten seien futsch. Ob ich ihm nicht Geld für den Fernbus leihen könnte? Er würde es auch sofort überweisen, wenn er zu Hause sei. Sonst wolle ihm niemand helfen.

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Sicher war ich naiv. Aber ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass dieser schmächtige Mann mit Brille, Schnauzer und Hundeblick mich gerade anlog. Nur zu gut konnte ich mich hingegen in die hilflose Lage eines Gestrandeten versetzen. Also überwand ich mein Misstrauen und lieh ihm 100 Euro.

Marcus P. und mein Geld werde ich wahrscheinlich nie wiedersehen. Denn der Mann ist ein polizeibekannter Trickbetrüger, der wohl seinen Lebensunterhalt mit der Gutgläubigkeit anderer verdient. Gerade in der Zeit rund um Weihnachten und Jahreswechsel, wenn viele Leute ihr Mitgefühl wiederentdecken, haben Betrüger und Diebe Hochsaison, warnt die Polizei. Fassen können die Ermittler nur wenige von ihnen.

Normalerweise bin ich nicht so freigiebig – als Student könnte ich mir das gar nicht leisten. Doch im Fall von Marcus P. rührte mich, wie sichtlich unangenehm ihm die Situation war. Er drängte mir seine Handynummer und seine E-Mail-Adresse auf, stellte eine Quittung aus und ich durfte seinen Personalausweis fotografieren.

Als ich im Zug saß, schrieb ich ihm eine Mail mit meiner Kontoverbindung. Ich bat um eine Empfangsbestätigung und fügte hinzu:

"Ich hoffe, Sie kommen gut zu Hause an."

Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten:

"Hallo Florian ich bestätige hiermit das ich die E-mail erhalten habe und bereits auf dem Heimweg bin. Herr P. Marcus" (sic!)

Es war das erste und letzte Mal, dass er auf meine Nachrichten und Anrufe reagierte. In der Folgezeit kontrollierte ich meinen Kontostand beinahe täglich. Hoffentlich zahlt er, sonst muss ich das meinen Eltern beichten, dachte ich.

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Die Überweisung blieb aus und ich begann, im Internet nach ihm zu suchen. Ich fand ihn schnell, der 38-Jährige ist auf den meisten Sozialen Netzwerken aktiv. Bei Google+ fand ich auf seiner Seite zahlreiche böse Kommentare von Menschen, die ihm offenbar ebenfalls bis zu 250 Euro geliehen hatten und nach wie vor auf die Rückzahlung warten.

Und auf Facebook hat sich mittlerweile eine Gruppe gegründet. 17 Mitglieder hat sie. Die Betroffenen erzählen ähnliche Geschichten wie ich, nur die Orte ändern sich: Frankfurt, Amsterdam, Madrid – "mein" Betrüger ist offenbar europaweit aktiv.

Wie zusätzlicher Hohn wirken auf mich die Selfies, die er öffentlich im Netz postet. Sie tragen Beschreibungen wie "Habe mich gerade fürs Bett fertig gemacht" und "Frisch gewickelt". Oft posiert er stolz in Windeln vor dem Spiegel oder auf dem Bett.

Ich schwanke zwischen Ungläubigkeit und Wut und gleichzeitig Anerkennung für diese Chuzpe. Offensichtlich kümmert sich P. nicht darum, dass seine Opfer so gut wie alles von ihm sehen können.

Auf seinem Personalausweis steht seine letzte Meldeadresse in München, ganz in der Nähe der Wohnung meiner Schwester. Ich bitte sie nachzusehen, ob es dort ein Klingelschild mit seinem Namen gibt.

Sie findet dort nichts außer einem Wohnheim für straffällige Männer. Also rufe ich dort an. Ein Sozialarbeiter geht an den Apparat.

Ich: "Hallo, ich würde gerne mit Herrn P. sprechen."

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Sozialarbeiter: "Der wohnt hier nicht mehr. Worum geht es denn?"

Ich: "Ich habe ihm Geld geliehen und hätte es gern wieder."

Sozialarbeiter: "Das wollen viele. Ich kann Ihnen da leider nicht helfen. Wir wissen nicht, wo er ist."

Ich gehe zur Polizei – an einem Werktag gegen Mitternacht, denn dann muss man am wenigsten warten, hat mir mal ein Polizist verraten.

Tatsächlich sind eine Polizistin und ich die einzigen auf der Wache. Ich habe mich gut vorbereitet, einen USB-Stick mit meiner Zeugenaussage, Kontaktdaten von P. und Screenshots in der Tasche. Ich muss ihn gar nicht vorzeigen.

Die Polizistin gibt P.s Daten in den Computer ein und liest vor: "Anzeige wegen Betrug, Diebstahl, Diebstahl, Betrug … Immerhin gibt es eine Adresse."


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Ich berichte, dass P. sich dort wahrscheinlich nicht mehr aufhält.

Polizistin: "Hm, dann wird es schwierig. Vielleicht melden sich die Kollegen vom Landeskriminalamt irgendwann bei Ihnen."

Seitdem ist ein halbes Jahr vergangen – ohne dass jemand meine Beweise sehen wollte. Ein windeltragender Serienbetrüger erleichtert reihenweise Menschen um ihr Geld und die Polizei interessiert sich nicht dafür?

Ich telefoniere mit dem Soziologen Christian Thiel, der ein Forschungsprojekt zum Thema Betrug leitet. Als ich ihm meinen Fall schildere, sagt er: "Das ist eine typische Masche. Eine Notlage wird vorgetäuscht und im Gegenzug für die Hilfe ein Pfand hinterlassen, das sich hinterher als nichtig herausstellt." Das Problem sei, dass sich wegen der geringen Schadenssumme im Einzelfall aufwändige polizeiliche Ermittlungen oft nicht lohnen.

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Thomas Schulte von der Deutschen Polizeihochschule kennt das Problem. "Das sind hochmobile Gruppen oder Einzeltäter", sagt er. "Die sind jeden Tag woanders, um der Strafverfolgung zu entgehen. Und oft schaffen sie das auch."

Durch die Freizügigkeit im Schengenraum gebe es kaum Passkontrollen, sodass Kriminelle ungehindert weiterziehen können. Wenn sie einmal gefasst werden, kann ihnen oft nur ein kleiner Teil ihrer Taten nachgewiesen werden.

In meinem Fall stellt ein Polizeisprecher das so dar: "Die Zuständigkeit bei Betrug durch bekannte Tatverdächtige regelt sich nach dem Wohnort des Täters; hier somit theoretisch München. Der Tatort war allerdings in Düsseldorf; das Ermittlungsverfahren wurde an die Staatsanwaltschaft Köln abgegeben. Aufgrund der oft wechselnden Zuständigkeit (Täter verzogen, o. Ä.) ist es oft schwierig, Tatzusammenhänge zu erkennen."

Laut Thomas Schulte sind solche Probleme in Zeiten der Digitalisierung nicht mehr zu rechtfertigen: "Die Justizbehörden müssen aktiver werden", fordert er. "Die vorliegenden Daten müssen mehr zwischen den Polizeibehörden ausgetauscht werden." Versuche, die Beamten zu sensibilisieren, würden zwar laufen, aber das sei noch ganz am Anfang. Den Betrugsopfern bleibe oft nur die Lehre, in Zukunft nicht mehr so gutgläubig zu sein.

Eine Lektion, die auch ich gelernt habe. Schade nur, wenn jemand tatsächlich mal Hilfe braucht.

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