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Sonne, Strand und Mord: Acapulco ist zum Kriegsschauplatz der Kartelle geworden

Seit zehn Jahren wütet der mexikanische Drogenkrieg. Das einstige Urlaubsparadies Acapulco ist inzwischen eine der gefährlichsten Städte der Welt und hat die höchste Mordrate des Landes.

Selbst nach zehnjährigen Bemühungen hat die mexikanische Regierung im Kampf gegen die Banden­gewalt in Acapulco wenig erreicht. Die Drogenkartelle hinterlassen in der Stadt furchteinflößende Botschaften, "Narcomantas" genannt | Fotos von Hans-Maximo Musielik

Aus der They Come Out at Night Issue

Marino* fährt sein blau-weißes Taxi durch die Straßen von Acapulco. Er ist abgehärtet, was Gräueltaten angeht. Er ist es gewohnt, wöchentlich Schutzgeld an die örtlichen Drogenkartelle zu entrichten, und hat schon oft erleben müssen, wie Kollegen ermordet wurden, selbst wenn sie gezahlt haben. Ich sitze in seinem Taxi, und er zählt die Geschäfte aus der Gegend auf, deren Inhaber ermordet worden sind. 20 seiner Freunde sind in den letzten zehn Jahren gewaltsam umgekommen, schätzt er.

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"Es gibt keinen Tag, an dem hier nicht mindestens ein oder zwei Leute sterben", sagt Marino. "Wir leben damit, dass Menschen erpresst, entführt, ermordet werden oder einfach verschwinden."

Doch selbst er zuckt zusammen, wenn ein Fahrgast ihn bittet, in das Viertel Progreso zu fahren, vor allem die Avenida Solidaridad entlang. Dort kidnappten Gangster im März 2011 Marinos 17-jährigen Sohn, zusammen mit einem Freund. Sie verlangten kein Lösegeld, eine Leiche wurde niemals gefunden. Marino klammert sich an die Hoffnung, sein Sohn könnte noch leben und man habe ihn vielleicht nur gezwungen, im Drogenkrieg für eines der Kartelle zu kämpfen.

"Wir leben in Angst und Schrecken, als wären wir hier in Nahost", sagt er. "Dort herrscht ein echter Krieg, während wir hier Krieg mit Narcos haben."

Im Dezember ist es zehn Jahre her, dass die mexikanische Regierung den Drogenkartellen des Landes den Krieg erklärte. Seither sind mehr als 150.000 Menschen umgekommen und ca. 28.000 Personen verschwunden, unter denen ohne Zweifel viele Opfer der Drogengewalt wurden. Zum Vergleich: Im Irak sind laut dem renommierten Projekt Iraq Body Count zwischen Januar 2003 und Dezember 2012 fast 125.000 Zivilisten umgekommen.

Die astronomische Zahl der Opfer markiert das Versagen der Regierung bei der Bekämpfung der Drogengewalt. Deren zweigleisige Strategie sah vor, die Kartellbosse auszuschalten und gleichzeitig Sicherheitskräfte in Gebiete zu entsenden, wo die Gewalt überhandgenommen hat. Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben die Behörden zahlreiche Festnahmen und Tode von Kartellbossen gefeiert, die auch direkte Verbindungen nach Acapulco hatten. Die Stadt an der Pazifikküste ist das wirtschaftliche Zentrum des Bundesstaats Guerrero und unterhält eine starke Polizeipräsenz. Dennoch ist Acapulco eine der gefährlichsten Städte der Welt und hatte 2015 die höchste Mordrate Mexikos. Um mit der Gewalt fertigzuwerden, leugnen viele den Ernst der Lage.

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Früher gaben sich Berühmtheiten in Acapulco die Klinke in die Hand, doch heute schadet die Gewalt auf den Straßen dem Tourismus

DIE STRANDMETROPOLE WAR nicht immer so gefährlich. Vor wenigen Jahrzehnten war Acapulco noch ein Urlaubsparadies für Hollywoodstars. John Wayne und Frank Sinatra räkelten sich am Strand. John und Jackie Kennedy fingen in ihren Flitterwochen einen großen Fisch, den sie im Weißen Haus aufhängten.

Sylvester Stallone filmte einige Szenen aus Rambo II in der Bucht. Ende der 80er kamen anstelle der Stars vermehrt US-Studenten während ihrer Frühlingsferien, die noch bis zur Jahrtausendwende ausgelassen zu dem Four-Tops-Hit "Loco in Acapulco" tanzten. Zu diesem Zeitpunkt war Acapulco bereits zu einem von verfeindeten Kartellen umkämpften Territorium geworden. Die Syndikate wollten sich den Hafen für ihren Drogenschmuggel sichern, sowie den Zugang zum lukrativen internen Drogenmarkt der Stadt und den nahegelegenen Mohnfeldern.

Wenn man sie nach dem Beginn des Kriegs in ihrer Stadt fragt, erwähnen viele Acapulqueños eine Schießerei zwischen der Polizei und Kartellmitgliedern am 27. Januar 2006, auf einer großen Kreuzung in dem Viertel La Garita. "Da nahm das ganze Elend und das Böse seinen Anfang in Acapulco", sagt Juan Manuel Guillén, der schon zwei Schmuckgeschäfte an die schlechte wirtschaftliche Entwicklung der letzten zehn Jahre verloren hat. "Es ist wirklich traurig, was mit Acapulco und ganz Mexiko passiert ist."

Drei Monate nach der Schießerei fand man die abgetrennten Köpfe zweier Polizeibeamter auf Pfähle gespießt nahe derselben Kreuzung. Einer der Enthaupteten war bei der Schießerei dabei gewesen. Auf einem orangen Stück Pappe stand daneben: DAMIT IHR RESPEKT LERNT.

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Bald darauf wurde am helllichten Tag ein menschlicher Kopf an einem großen Touristenstrand angespült, ein weiterer wurde vor dem Rathaus platziert, und nur Tage vor den Präsidentschaftswahlen im Juli 2006 fand man in La Garita einige weitere Köpfe mit der Botschaft: NOCH EINMAL, ABSCHAUM, DAMIT IHR RESPEKT LERNT. In den Krisengebieten des mexikanischen Drogenkriegs sind Enthauptungen inzwischen gang und gäbe, doch damals schockierten sechs abgetrennte Köpfe innerhalb von drei Monaten das gesamte Land und dominierten vor den Wahlen die Schlagzeilen.

Felipe Calderón wurde am 1. Dezember 2006 als Präsident vereidigt und begann sofort damit, gegen die Kartelle durchzugreifen. Er entsandte etwa 7.000 Soldaten in seinen Heimatstaat Michoacán—wo im Herbst zuvor fünf abgetrennte Köpfe auf eine Tanzfläche rollten. Die zweite große Operation fand in Guerrero statt; hier stationierte er 7.600 Soldaten.

Einsätze wie diese hat es in Mexiko schon mehrfach gegeben, ohne dass sie langfristig etwas gegen die Gewalt ausgerichtet hätte. Die von den USA in den 1990ern eingeführte "Kingpin-Strategie", bei der die Kartelle durch gezieltes Ausschalten der Anführer geschwächt werden sollen, hat langfristige zu einer Kaskade neuer Konflikte geführt.

ACAPULCOS ABWÄRTSSPIRALE hängt mit der Zerschlagung des Beltrán-Leyva-Kartells zusammen. Die Stadt war lange eine der Hochburgen des von Arturo Beltrán Leyva und seinen drei Brüdern Héctor, Carlos und Alfredo gegründeten Kartells. Doch Anfang der 2000er führten dessen gewaltsame Bemühungen, Acapulco gegen ihre Rivalen vom Zetas-Kartell zu verteidigen, zu vermehrten Regierungsoperationen gegen die Banden. 2008 nahmen die Spannungen erneut zu, als das Bündnis der Beltrán Leyvas mit ihrem entfernten Verwandten Joaquín "El Chapo" Guzmán zerfiel und ein ausgewachsener Krieg zwischen ihnen entbrannte. Die Gewalt eskalierte, nachdem der Anführer der Beltrán Leyvas, Arturo, 2009 in einer großen Schießerei mit den mexikanischen Behörden umkam.

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"Arturo Beltrán war Acapulco auf seine Art sehr wichtig, er hat sich um die Stadt gekümmert", räumt Guillén, der Schmuckverkäufer, mit Widerwillen ein. "Aber mit dem Tod dieses Señors wurde Acapulco aus seiner Kontrolle befreit und alles lief aus dem Ruder."

Arturos Tod zog eine Reihe von Spaltungen der Beltrán-Leyva-Organisation nach sich, und Acapulco verwandelte sich in einen Drogenkriegsgebiet. Die erbitterten Kämpfe erreichten 2011 einen Höhepunkt, als Teile des Beltrán-Leyva-Kartells in mehrere Fraktionen zersplitterten, darunter das Cartel Independiente de Acapulco und Comando del Diablo. Diese bekämpften einander, während weitere Verbrechensorganisationen versuchten, das Chaos zu ihrem Vorteil zu nutzen.

"Das Ergebnis der Kingpin-Strategie ist Zersplitterung", sagt Sicherheitsexperte Alejandro Hope über die vielen Kartelle, die nach den Festnahmen großer Bosse entstanden sind. "Und das verursacht sehr viel Chaos."

"Es war sehr, sehr übel", sagt er, doch als er erklärt, wie schwierig es war, die passenden Köpfe zu den Leichen zu finden, kann er seinen Stolz auf diese Leistung nicht verbergen. "Viele Familien kamen, um ihre Angehörigen zu identifizieren. Es war eine große Herausforderung, aber wir haben sie erfolgreich bewältigt."

Als die Gewalt sich noch auf Randbezirke beschränkte, schienen die Behörden das Blutvergießen zu ignorieren, doch eine Reihe Gewalttaten im Touristengebiet lösten 2011 eine groß angelegte Sicherheitsinitiative namens "Guerrero Seguro" ("Sicheres Guerrero") aus. Von den Tausenden Soldaten, die in dem Bundesstaat stationiert wurden, schickte man 3.000 nach Acapulco. Wie schon zuvor konnte die Operation vorerst die Gewalt eindämmen, bevor die Mordrate schließlich wieder anstieg.

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Geschäfte in der Küstenstadt, wie dieses kleine Café, kämpfen angesichts des Blutvergießens um ihr Bestehen

PRÄSIDENT PEÑA NIETO veränderte nach seinem Amtseintritt im Dezember 2012 die Strategie seines Vorgängers kaum, doch er versprach eine bessere Koordination unter den Gesetzeshütern. Diese verbesserte Zusammenarbeit sei auch der Grund für den leichten Rückgang der Mordrate von 2012 auf 2014. Außerdem feierte er vor Kurzem den Erfolg seiner Regierung bei der Bekämpfung der Kingpins, allen voran die Festnahme El Chapos im Januar 2016. El Chapo hatte die Regierung mit seiner Flucht aus einem Hochsicherheitsgefängnis sechs Monate zuvor bloßgestellt. Peña Nieto hielt nach der Verhaftung eine Pressekonferenz im Palacio Nacional, flankiert von den Mitgliedern seines Kabinetts.

"Dank dieser Operation stellen 98 von 122 Verbrechern nun keine Gefahr mehr für die mexikanische Gesellschaft dar", brüstete sich der Präsident. "Heute hat Mexiko bestätigt, dass seine Institutionen fähig sind, jene zu stellen und zu besiegen, die mexikanische Familien bedrohen."

Eine Aussage, die für Acapulco nicht unzutreffender sein könnte, denn hier ist die Mordrate wieder angestiegen. Die Stadt war im ersten Halbjahr 2016 Schauplatz von fast fünf Prozent aller Morde in Mexiko. Dennoch behaupten immer noch viele Bewohner der Stadt—vor allem solche, die auf den Tourismus angewiesen sind—die Lage sei gar nicht so schlimm.

"Die Vergangenheit liegt hinter uns und die Gegenwart ist ein Geschenk", sagt Erick de Santiago, Inhaber einer Strandbar und Mitglied der Business-Organisation Speak Well of Acapulco, als ich mich im September mit ihm treffe. "Also müssen wir uns um eine bessere Zukunft bemühen." Er betont mehrfach, die Gewalt beeinträchtige die Touristen so gut wie gar nicht.

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"Wir versuchen, positive Nachrichten über Acapulco zu verbreiten", sagt er. Doch Stunden nach unserem Gespräch hallen ein paar Blocks vom zentralen Busbahnhof Schüsse durch die Straßen. Die Mörder lassen die Leichen zweier Männer auf dem Gehweg vor einem kleinen Restaurant liegen. Nachdem die Spurensicherung die Leichen abtransportiert hatte, spülte die Inhaberfamilie Blut und Hirnreste mit dem Gartenschlauch in die Kanalisation.

"Wir waren nicht da, als es passiert ist", behauptet ein Familienmitglied. Weiter will er nichts sagen.

Zuvor in derselben Woche hat die Regierung eine weitere Sicherheitsinitiative für die 50 Stadtgebiete mit den höchsten Mordraten angekündigt. Am 3. September 2016 trafen Hunderte zusätzliche Sicherheitskräfte in Acapulco ein.

"Andere Strategien, wie ‚Sicheres Mexiko' und ‚Sicheres Guerrero', konnten das Problem offensichtlich nicht bei der Wurzel packen", sagte Roberto Álvarez, Sicherheitssprecher der Regierung von Guerrero, über den Spezialeinsatz von 2011. "Die Probleme ließen nicht nach." Doch Álvarez behauptete, die neue Operation sei anders und würde "die Gewalt durch den Einsatz von Informationen, Technologie und Koordination auf Bundes-, Staats- und Stadtebene eindämmen". Der Polizeichef von Acapulco, Max Sedano, versprach ebenfalls, dass die verschiedenen Behörden sich von Anfang an besser aufeinander abstimmen würden.

"Meine Hoffnung ist, dass wir das Acapulco von vor 30 Jahren wiederbeleben können", sagt mir ein zuversichtlicher Sedano im September 2016. Er erklärt, die neue Initiative werde nicht nur die Strandgebiete schützen, sondern auch strategische Ziele in der gesamten Stadt identifizieren und Verbrecher in ihren Festungen stellen. Er zeigt Blätter mit Statistiken, laut denen die Mordrate in den ersten sechs Tagen des Einsatzes zurückging.

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Ein paar Tage später verbreitet sich in Acapulco die Nachricht, die Polizei habe in Nordmexiko Clara Elena Laborín Archuleta festgenommen. Sie ist die Frau von Héctor Beltrán Leyva, dem letzten der vier Brüder, der 2014 verhaftet wurde (Alfredo und Carlos sind jeweils seit 2008 und 2009 in Gewahrsam). Narcomantas, die Botschaften, die die Drogenkartelle in den Straßen aushängen, behaupten seit Monaten, ein Großteil der diesjährigen Gewalt gehe auf das Konto Laborín Archuletas, die versuche, das Beltrán-Leyva-Kartell zu reorganisieren und die Stadt zurückzuerobern.

Stunden nach der Festnahme werden zwei abgetrennte Köpfe—makaber als Taco-Imbiss inszeniert, komplett mit Tortillas, Koriander und Zwiebeln—auf einer Straße in Acapulco abgestellt. In der Woche darauf findet man den Polizeidirektor des Staats Guerrero, Tomás Hernández, erstochen in seinem Haus in dem Viertel Progreso, wo auch schon der Sohn des Taxifahrers Marino verschwand.

"Sie müssen an die Wurzel des Problems gehen, statt immer noch mehr Gewalt einzusetzen", sagt Laura Caballero, eine Ladeninhaberin an der Strandpromenade La Costera. "Sie müssen jungen Leuten Bildung und Arbeitsplätze bieten."

Caballero gehört zu einer Organisation von Ladenbesitzern in Acapulco. Sie sagt, die Zahl der Mitglieder habe sich seit 2010 von 400 auf 200 halbiert, weil der Mangel an Touristen so viele zur Schließung gezwungen habe.

Entlang der Promenade gibt es an fast jedem Block Schilder, die Gebäude zum Kauf oder zur Miete anbieten. Viele Einheimische sind arbeitslos. Für Sedano ist es ein Teufelskreis.

"Die Touristen kommen nicht mehr, also gibt es weniger Arbeit und mehr Verbrechen. Und dann geht es immer so weiter", sagt Sedano. "Wir müssen die Bildung ausbauen und mehr Arbeitsplätze schaffen. Die meisten dieser Verbrecher sind zwischen 15 und 20." Viele ihrer Opfer sind nicht älter.

Maria Elena arbeitet in einem Restaurant in ihrer Wohngegend in dem Viertel Progreso. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, als sie von ihrem 18-jährigen Sohn erzählt, der 2008 verschwand. Sie beschreibt die Angst, die sie täglich überwinden muss, um zur Arbeit zu gelangen. Ihre Stimme wird weich, als sie sich an ihre Kindheit erinnert, in der die Stadt noch voll mit Filmstars war.

"Alles war wundervoll—all diese Probleme gab es damals nicht", sagt sie.

Am nächsten Tag werden zwei Männer nur einen Block von Elenas Adresse entfernt niedergeschossen. Die Polizei sperrt den Tatort ab, während ein paar Meter weiter die Tortillas braten.

*Nachname aus Sicherheitsgründen zensiert

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