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Die Schweiz nach der DSI: Wieso die Änderung des Asylgesetzes allen egal ist

Noch im Februar zog ein Sturm der Politisierung durch die Schweiz. Vor der anstehenden Asylgesetzrevision ist von diesem nichts mehr zu spüren.

Screenshot von YouTube

Die Durchsetzungsinitiative (DSI) ist die erfolgreichste Abstimmung seit zur Jahrtausendwende wieder einmal der heraufbeschworene Weltuntergang ausblieb—zumindest, wenn es um die Stimmbeteiligung geht. Satte 63 Prozent der Schweizer, die ihren 18. Geburtstag schon hinter sich gelassen haben, schrieben am 28. Februar ein Ja oder ein Nein auf ihren Stimmzettel.

Angesichts der enormen Kampagne für und gegen die DSI erstaunt diese Zahl kaum. Du hättest schon als internetloser Einsiedler in einem Wald leben müssen, damit du in den ersten Monaten dieses Jahres um die DSI hättest herumkommen können. 740.000 Franken ballerten die Befürworter und Gegner der Initiative gemäss Media Focus allein im Januar für Kampagnenwerbung raus. Dadurch kam es zu einer medialen Allgegenwärtigkeit und ziemlich alle, die zumindest selbst meinen, sie hätten in der Schweiz etwas zu sagen—von Rechtsprofessoren über Stress bis zu Renzo Blumenthal—haben auch etwas zur DSI gesagt. Der Februar wurde zum politischen Spektakel, die Schweiz zu einem Land von (Hobby-)Politikern.

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Die am 5. Juni anstehende Abstimmung zur Änderung des Asylgesetzes scheint dagegen wie ein politisches Fürzchen in der frischen Frühlingsluft zu verpuffen, obwohl es im Grunde eine Art Rückspiel ist: die SVP gegen den Rest. Auf Facebook ist, bis auf einzelne viral gehende Postings der Operation Libero, nichts von einem "Asylchaos" im Newsfeed zu sehen. Media Focus wies für den April gar nicht erst aus, wie viel Geld in die Kampagnen zur Abstimmung floss. Und Renzo Blumenthal sagt lieber, dass Frauen zur Kindererziehung gefälligst zu Hause bleiben sollen, als sich zur kommenden Abstimmung zu äussern.

Wieso aber ist das so? Wieso schaffen es manche Abstimmungsvorlagen, selbst den unpolitischsten deiner Freunde zum Social Media-Kampagnenleiter werden zu lassen, andere aber nicht einmal, dass ich mich als kleiner Politik-Nerd intensiver mit ihnen auseinandersetze?

Der relevanteste Punkt dabei ist sicherlich, wie wichtig ein Thema für dich, für mich und für deinen Social Media-Kampagnenleiter-Freund ist. Der Zürcher Politikwissenschaftler Thomas Milic hat zusammen mit zwei Kollegen im Handbuch der Abstimmungsforschung die wichtigsten Studien zu diesem Thema zusammengefasst. Sie schreiben dort, dass fast die Hälfte der Stimmberechtigten nur dann von Abstimmungen an die Urne gelockt werden, wenn ihre Betroffenheit durch die Vorlage gross genug ist. Aber: Wer nichts über ein Thema weiss, kann sich kaum von diesem betroffen fühlen. Um uns zur Meinungsbildung zu bewegen, muss also ein Grundinteresse für das Thema bestehen, wie das zum Beispiel vor einigen Jahrzehnten bei der Abstimmung zur Gurtenpflicht beim Autofahren der Fall war. Oder wir müssen dazu gebracht werden, uns für ein Thema zu interessieren—etwa durch Kampagnen.

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Obwohl noch keine zwölf Blätter ihren Weg vom Monatskalender weg gefunden haben seit sich gefühlt jeder zweite Medienbericht um Asylsuchende drehte, Tausende Menschen für ein "Refugees Welcome" durch die Strassen Zürichs, Basels und Aaraus zogen und das nie eingetroffene "Asylchaos" von rechten Politikern an die Wand gemalt wurde, ist das Thema Asyl für uns in den Hintergrund gerückt. Es gibt kaum mehr Empörungsstürme auf Facebook, kaum mehr "Refugees are welcome here"-Parolen auf den Strassen, kaum mehr Notsammlungen an Kleidung.

Ein grosser Unterschied zwischen damals und heute ist, dass die SVP im vergangenen Sommer gerade mehrere 100.000 Franken in den Wahlkampf pumpte, den sie vor allem über "böse, böse Eritreer"-Parolen geführt hat. Heute schweigt sie sich bei der Änderung des Asylgesetzes grösstenteils aus—obwohl sie selbst dafür verantwortlich ist, dass du spätestens in einer Woche eine Meinung zum Thema haben solltest. Die SVP stemmte sich Anfang September im Nationalrat gegen die Änderung der Asylpolitik, wollte in grosser Anti-Flüchtlings-Euphorie gleich gar keine Asylsuchenden mehr aufnehmen und kündigte keinen Monat später offiziell an, das Referendum gegen die trotzdem angenommene Asylgesetzrevision zu ergreifen.

Doch wieso kämpft eine Partei, die vor allem genau für bissiges Kämpfen bekannt ist, nicht bissig für eines ihrer Anliegen, sondern nur mit belächelter Polit-Promo und wohl unter dem Deckmantel eines anonymen "Bürgerkomitees"?

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Die abschliessende Antwort darauf kennen wohl nur die Sonnenpartei und ihre Strategen selbst. Eine mögliche Begründung dafür könnte aber die Folgende sein: Im Herbst, als sich die SVP noch aktiver gegen die Änderung des Asylgesetzes wehrte, konnte sie auf einer Welle der Polarisierung mitschwimmen. Praktisch jeder bildete sich im Rahmen der Flüchtlingsströme eine Meinung zu Asylsuchenden, war entweder für eine vermehrte Aufnahme oder für die Einschränkung des Asylrechts—sprich: war entweder gegen die SVP oder für die SVP.

Damals hat der Partei das Referendum etwas Wertvolles gebracht, nämlich mehr Aufmerksamkeit. Heute aber würde ihr genau diese Aufmerksamkeit im Weg stehen. Denn natürlich weiss die SVP, was die Änderung des Asylgesetzes in erster Linie mit sich bringen würde: schnellere Verfahren. Und natürlich weiss die SVP auch noch genau, was sie vor wenigen Jahren konsequent gefordert hatte: schnellere Verfahren. Sogar die SVP ist sich also bewusst, wie absurd und unnötig ihr eigenes Referendum ist. Wohl als Pflichtübung bewirtschaftet sie die möglichen Enteignungen und die "Gratisanwälte", die nach einer GFS-Umfrage zu den stärksten Argumenten für ein Nein gehören.

Neben diesen taktischen Gründen, gibt es aber auch ganz praktische: Thomas Milic schreibt in seinem Handbuch der Abstimmungsforschung, dass politische Propaganda ihre Wirkung nur richtig entfalten könne, wenn ein Thema nicht schon endlos durch die Öffentlichkeit gepeitscht wurde und die Meinungen dazu deshalb schon gefestigt seien. Wie wir aber alle wissen, haben wir uns spätestens bei den Wahlen im Herbst unsere Meinung zur Flüchtlingspolitik gebildet.

Es ist pragmatisch gesehen auch so, dass Behördenvorlagen grundsätzlich gute Chancen haben, angenommen zu werden, wie Thomas Milic schreibt. Bei der Änderung des Asylgesetzes liegen die Zustimmungswerte je nach Umfrage aktuell etwa bei 55 oder 60 Prozent—oder in Worten ausgedrückt: vor allen Kampagnen steht ein grundsätzliches Ja, gegen das die SVP anstürmen müsste.

Und so haben sich auch gut eine Woche vor dem Abstimmungssonntag weder Renzo Blumenthal, noch der eine rechtsgesinnte Facebook-Freund aus dem Heimatdorf zu Wort gemeldet. In den Medien herrscht gähnende Leere und trotzdem scheint nur eines ebenso klar zu sein wie das prognostizierte Ja am 5. Juni: Asylsuchende bleiben für die SVP nur ein weiterer Ball auf dem Spielfeld der politischen Macht. Dass die Änderung des Asylgesetzes die Situation für die grosse Mehrheit der Beteiligten verbessern würde und es am Ende um Menschen geht, scheint ihr entweder egal oder allzu klar zu sein.

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