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Duisburg

Gaffer behinderten im letzten Monat dreimal die Polizei – ein Sozialpsychologe erklärt, warum

"Wenn man denkt, jeder bekommt, was er verdient, ist der Unfall eines anderen erleichternd und versichert mir: Ich bin gut."

Symbolbild-Collage: Flickr | Andreas Trojack | CC by 2.0 & | Flickr | JouWatch | CC by-SA 2.0

Über ein Knöllchen fürs Falschparken ärgert sich eigentlich nur einer: der Falschparker. In Duisburg haben sich am Sonntagabend darüber 250 Menschen aufgeregt – und dadurch einen Polizeieinsatz massiv behindert. "Ein 49-jähriger Falschparker in der Reinerstraße wollte nicht einsehen, dass er etwas falsch gemacht hat", sagt eine Sprecherin der Polizei Duisburg zu VICE. Der Mann räumte seelenruhig seinen Kofferraum aus und wollte von der Polizei nichts wissen. Dann gesellte sich ein 37-Jähriger dazu, der die Szene mit seinem Handy filmte. Weil er störte und sich weigerte, seine Personalien abzugeben, hielt die Polizei den Handy-Filmer fest. Weitere Zuschauer versammelten sich um das Szenario. Am Ende beobachteten 250 Menschen die Szene. Schließlich versuchten einige sogar, den Handy-Filmer zu befreien. Die Polizisten riefen Verstärkung und konnten nur durch Pfefferspray die Situation kontrollieren.

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Innerhalb einiger Wochen ist das der dritte Massengaffer-Auflauf in Duisburg: Nach einem schweren Auto-Crash mit einer Straßenbahn musste die Polizei Anfang Mai 300 Gaffer mit Absperrungen zurückhalten. Und auch zwei Wochen vorher kümmerten sich 250 Menschen nicht um Rettungswege: Ein kollabierter Mann wurde von der Feuerwehr aus einer Wohnung gerettet und Hunderte guckten zu. In beiden Fällen musste die Polizei ihr Aufgebot verstärken, um die störenden Menschenmassen unter Kontrolle zu bringen.

Warum strömen Menschen zu Hunderten auf die Straße, wenn etwas passiert? Der Sozialpsychologe Joachim Hüffmeier von der TU Dortmund hat uns erklärt, was Gaffer motiviert.

VICE: Warum gaffen Hunderte, wenn ein Falschparker ein Knöllchen bekommt?
Joachim Hüffmeier: Das ist tatsächlich bemerkenswert, es handelt sich hier nicht um eine typische "Gaffer-Situation". Es ist kein Unglücksfall, auch keine akute Notsituation, es gibt keine Verletzten. In diesem Fall kann man nur spekulieren, was die Menschen auf die Straße treibt. Es ist wahrscheinlich der Reiz des Neuen.



Wie kommt das?
Menschen unterscheiden sich darin, wie sehr sie nach neuen Reizen streben. Manche sind hier anfälliger: Was man "sensationslüstern" nennen könnte, heißt in der Fachsprache "Sensation Seeking". Wenn die Affinität hier zu hoch ist, bestimmt der Reiz nach Neuem das Handeln. Diese Leute blühen in solchen Situationen auf. Möglicherweise ballt sich das hier mit anderen, unguten Motiven, die gegen die Polizei gerichtet sind. Das sind aber nur Vermutungen.

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Warum gaffen Menschen bei klassischen Unfall-Szenarien?
Hierfür gibt es unterschiedliche Motive. Wir haben ein Interesse daran, uns vor gefährlichen Situationen zu schützen. Um nicht selber in eine schlimme Situation zu kommen, wollen wir nachvollziehen, wie diese passiert ist – und gucken. Ein anderer Grund ist der, dass der Mensch erstmal an eine gerechte Welt glaubt. Wenn er nun sieht, da hat es einen anderen getroffen, weiß er: Mich hat es nicht getroffen. Dahinter steckt der Gedanke, dass jeder bekommt, was er verdient. Menschen sind dann erleichtert, auch darum gaffen wir.

Zu verurteilen sind Gaffer, die im Weg stehen und nicht helfend eingreifen: Das verweist auf mangelnde Empathie. Das Einfühlungsvermögen reicht in dem Moment nicht aus, sich vorzustellen, wie es Leuten geht, die schwerverletzt am Boden liegen.

Warum machen Menschen Fotos von Unfallorten?
Das kann man als eine neue Form des Gaffens sehen. Die Motivation ist narzisstisch: Ich möchte mich durch Foto- und Videoaufnahmen bei anderen als Zeuge präsentieren. Als jemand, der besonders ist, weil er live dabei war. Hier fehlt jede Empathie.

Wie kommt es, dass so viele Menschen nicht mit den Opfern mitfühlen?
Empathiefähigkeit wird erlernt, und zwar im Kinder- und Jugendalter. Wer sich nicht in andere hineinversetzen kann, hat ein Lerndefizit, das kann viele Gründe haben. Aber auch Erwachsene können noch Empathie lernen, nur bei bestimmten Krankheitsbildern – Persönlichkeitsstörungen wie zum Beispiel bei Psychopathen – ist das nicht möglich.

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