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Rechtsradikale

Alles, was wir über die Ausschreitungen in Chemnitz wissen

Bei einer Auseinandersetzung in Chemnitz wurde ein Mann getötet. Rechtsradikale nutzen den Vorfall für eine Hetzjagd auf Ausländer. Viele Gerüchte und Falschinformationen sind im Umlauf. Was stimmt und was nicht?
Screenshot: Twitter-Video von @GodCoder, @Chronik_ge_Re und @Azeckenbis

Am Sonntag marschieren mehr als 1.000 Rechte auf einer Spontandemo in Chemnitz mit. Ihre Wut richtet sich gegen alle, die migrantisch waren oder so aussahen. Anlass ist der Tod eines Deutschen, der bei einer Auseinandersetzung mit mehreren Menschen beim Chemnitzer Stadtfest tödlich verletzt wurde. Am Montag beantragt die Staatsanwaltschaft Haftbefehl gegen zwei Tatverdächtige, einen 23-jähriger Syrer und einen 22 Jahre alter Iraker.

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Rechtsextreme Gruppen instrumentalisierten die Tat und riefen zum Aufmarsch auf. Die Polizei war überfordert, zu wenig Einsatzkräfte vor Ort. Sie weicht zurück. Dann jagt ein Mob mutmaßliche Ausländer durch die Innenstadt. Diese Szenen hielten Rechtsradikale genauso mit ihren Handyvideos fest wie Journalistinnen und Aktivistinnen. Sie verbreiten sich rasend, ebenso wie viele Gerüchte. Doch was wissen wir wirklich und was nicht?

Was war der Auslöser?

Am frühen Sonntagmorgen, gegen 3:15 Uhr, kam es auf einem Stadtfest in Chemnitz zu einer Auseinandersetzung zwischen mehreren Personen. Drei Männer im Alter von 33, 35 und 38 Jahren erlitten teils schwere Verletzungen, berichtet die Polizei Chemnitz.

Rettungskräfte brachten sie in Krankenhäuser. Dort erlag ein 35-jähriger Deutscher noch in der Nacht seinen schweren Verletzungen. Die Polizei ermittelt wegen Totschlags. Schnell kursieren Gerüchte, ein zweiter Mann sei gestorben. Das dementierte die Polizei Sachsen in einem Tweet.

Vor allem in sozialen Medien verbreiteten sich Gerüchte zum möglichen Anlass der Auseinandersetzung. Die drei Männer hätten auf dem Stadtfest Asylbewerber gesehen, die Frauen sexuell belästigten, heißt es. Viele Medien haben das, ohne zu prüfen, in ihren Berichten übernommen. Die Polizei Sachsen warnte auf Twitter deswegen, es gebe keine Anhaltspunkte, die eine Belästigung vor der Auseinandersetzung bestätigen, und bat darum, sich nicht an Spekulationen zu beteiligen.

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Rechtsradikale Gruppen nahmen diesen Fall zum Anlass und riefen für den Sonntagnachmittag zu einem Spontanaufmarsch auf, der später eskalierte.

Wer war das Opfer?

Mehreren Quellen zufolge handelt es sich beim dem Getöteten um Daniel H. Der Verein zur beruflichen Förderung und Ausbildung (VBFA e.V.), Ausbildungsstätte Chemnitz, postete auf Facebook, bei dem tödlich Verletzten solle es sich mit H. um einen ihrer ehemaligen Tischlerlehrlinge handeln. Dies wurde von der Polizei noch nicht bestätigt. Das Foto von H. wurde mit Montagmittag mehr als 2.500 Mal geteilt. Vor allem rechtsradikale Seiten verbreiteten das Foto hundertfach weiter.

Wie H. in den Vorfall verwickelt wurde, ist bisher unklar. Dem Sachsen-Korrespondenten der Plattform Krautreporter zufolge habe er sich in der Vergangenheit AfD-kritisch geäußert:

Wer hat zu dem Aufmarsch am Sonntagnachmittag aufgerufen?

Nachdem der Tod des 35-Jährigen bekannt wurde, rief das Who-is-Who der rechtsradikalen Gruppen und rechtspopulistischen Parteien in sozialen Medien zum Spontanaufmarsch auf.

Pegida Chemnitz gehört zu den Unterstützenden, ebenso wie die Identitäre Bewegung Sachsen, Anti-Antifa und "Der III. Weg". Vor allem auch Politiker verbreiteten den Aufruf zum "Widerstand", darunter der AfD-Kreisverband Chemnitz. Ein Aufruf der Chemnitz-Ultras "Kaotic Chemnitz", die den Aufmarsch initiert haben sollen, ist mittlerweile gelöscht.

Was ist beim Aufmarsch passiert?

Laut der Polizei Sachsen versammelten sich um 15 Uhr "reichlich 100 Personen" im Zentrum von Chemnitz vor einem Infostand. In einem Aufruf der AfD-Chemnitz wird deutlich, dass es sich um einen Parteistand handelte. Eine Stunde später hätten diese den Platz wieder verlassen, ohne Vorkommnisse.

Nach einem weiteren Spontanaufruf versammelten sich 800 Personen am Karl-Marx-Monument ganz in der Nähe. Zu diesem Zeitpunkt seien laut Angaben der Polzei nur wenige Beamte und Beamtinnen vor Ort gewesen. Die Polizei habe zusammen mit Vertretern der Stadt versucht, mit "vermeintlich verantwortlichen Personen" zu sprechen, da habe sich die Gruppe in Bewegung gesetzt. Sie liefen quer durch die Innenstadt, warfen Flaschen auf Polizisten. Später pöbelten sie Passanten an, die sie als mutmaßliche Ausländer identifizierten.

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In Videos von Aktivistinnen und Journalstinnen ist zu sehen, wie ein Mob von mehreren hundert Menschen Personen hinterherläuft, um sie anzugreifen. Andere Videos zeigen, wie vereinzelt Mitglieder des Mobs Polizisten in Schutzanzügen umstoßen. Außerdem gibt es Videos, die Demonstrierende zeigen, die den Angreifern applaudieren, Passanten als "Kanacken", "Viehzeug" oder "Zecken" beschimpfen und den Polizisten hinterherrufen, sie hätten noch nie einen Beamten so schnell rennen sehen. Außerdem hört man sie skandieren: "Frei, sozial und national!" Einige Facebook-Nutzer und -Nutzerinnen haben hochgeladene Videos mittlerweile gelöscht.

Erst als Bereitschaftspolizei aus Dresden und Leipzig anrückte, wurde der Aufmarsch immer kleiner, bis die Polizei eine Gruppe von 150 Demonstrierenden einkesseln konnte. Gegen 17:45 Uhr löste sich die Gruppe auf. Das Stadtfest ließ die Polizei Chemnitz aus Sicherheitsgründen abbrechen.

Wie reagiert Chemnitz auf die Vorkommnisse?

Die Chemnitzer Bürgermeisterin Barbara Ludwig sagte dem MDR, sie sei "entsetzt" über die Ereignisse in ihrer Stadt. Sie sei sich sicher, dass es denjenigen, die bewusst keine Versammlung angemeldet hätten, darum gehe, "das Stadtfest zu zerstören, die Situation zu chaotisieren, damit die Menschen noch mehr Angst kriegen". Sie wolle sich das nicht gefallen lassen.

Ehemalige und aktuelle Bewohner und Bewohnerinnen von Chemnitz äußern sich auf Twitter ängstlich und besorgt über die Situation in der Stadt:

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Die einheimische Band Kraftklub ruft auf, zur Gegendemonstration am Montagabend zu kommen:

Viele kritisieren dem Umgang der sächsichen Regierung mit rechtsradikalen Gruppen:

Wie äußert sich die AfD zu den Vorkommnissen?

Politiker der AfD nutzen die Ereignisse in Chemnitz und heizen die Stimmung an. So schrieb Markus Frohnmaier, Bundestagsabgeordneter für die AfD: "Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und schützen sich selber." Es sei Bürgerpflicht, die "todbringende Messermigration" zu stoppen, schrieb er auf Twitter. Die AfD Chemnitz ruft auch zu Demonstrationen am Montagabend auf und befeuert die Stimmung gegen Migranten weiter: "Zeigt ihnen, daß nicht die Polizei unser Gegner ist, die Gegner sind ganz Andere."

Was steht am Tag danach an?

Antifaschistische Organisationen wie "Chemnitz Nazifrei" rechnen für Montagabend mit weiteren Spontandemonstrationen mit über 1.000 Rechtsradikalen. Ein linkes Bündnis will dies verhindert und ruft für 17 Uhr zur Gegendemonstration auf.

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