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Drogen

Die Hamburger Polizei hat keinen Plan, wie sie mit Cannabis-Patienten umgehen soll

Keine Dienstanweisungen, Täter-Opfer-Umkehr und Bürokratie: Die Antworten des Senats auf eine Anfrage der Linkspartei lesen sich wie das Eingeständnis des eigenen Scheiterns.
Cannabis vor einer Polizeistation
Grafik Cannabis: Wikipedia | Dohduhdah || Foto Polizei: imago | Steinach || Collage: VICE

Der 6. September 2018 ist ein sonniger Tag, an dem sich Matthias entscheidet von Berlin nach Hamburg zu fahren, um als Cannabis-Patient seine Medizin zu kaufen. Der 6. September ist auch der Tag, an dem die Polizei Hamburg sich entscheidet, so berichtete es Matthias gegenüber VICE, ihn auf offener Straße in der Nähe des Hauptbahnhofs zu überwältigen, im Anschluss auf der Wache stundenlang zu befragen und wie einen Kriminellen zu behandeln – weil er, der Cannabis-Patient, es gewagt hatte, sich einen Joint anzuzünden.

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Über den Fall hatte VICE berichtet. Die Abgeordneten der Linkspartei in Hamburg, Christiane Schneider und Deniz Celik, sind auf den Fall aufmerksam geworden – und haben dem Hamburger Senat eine Anfrage dazu gestellt. Die Antworten auf die zehn Fragen liegen VICE vor. Und sie zeigen: Konzepte im Umgang mit Cannabis-Patienten oder Informationen darüber fehlen in der Hansestadt.

1. Die Polizei ignoriert schwerwiegende Vorwürfe

Laut der Antwort empfiehlt die Polizei (in Anlehnung an den deutschen Verkehrssicherheitsrat) Cannabis-Patienten und -Patientinnen, eine "ärztliche Bescheinigung über ihre Therapie" und "eine Kopie des aktuelles Rezeptes über medizinisches Cannabis" mit sich zu führen. Das ist bundesweiter Standard. Und Matthias hat nach eigener Aussage genau das getan: Er habe sich am 6. September ausweisen, sein Rezept vorzeigen und erklären wollen, dass er Cannabis-Patient ist – dann habe ihn aber die Polizei überwältigt.

Außerdem kommt der Senat zum Schluss, dass sich "polizeiliche Maßnahmen gegenüber Cannabis-Patienten auch in Zukunft nicht vermeiden" lassen, da ohne eine Kontrolle nicht geklärt werden könne, ob die Person im legalen Besitz von Cannabis ist. Der Patient müsse den Beweis, nicht kriminell zu sein, selbst erbringen, um eine "Verdachtslage" auszuräumen. Passend dazu schreibt der Senat, der von VICE geschilderte Sachverhalt liefere "keine tatsächlichen Anhaltspunkte für das Vorliegen einer verfolgbaren Straftat." Und das, obwohl danach von einem Arzt festgestellt wurde, dass sich Matthias Verletzungen an Hals und Daumen zugezogen hatte. Das Dezernat Interne Ermittlungen führe kein Ermittlungsverfahren gegen die beteiligten Polizeikräfte, heißt es weiter in der Antwort.

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Weil Matthias selbst keine Strafanzeige gestellt habe, sei kein Strafverfahren gegen die beteiligten Polizisten anhängig. Matthias sagt dazu, er habe Angst gehabt, Anzeige bei den Leuten zu stellen, die ihn zuvor misshandelt hatten.

2. Es gibt keine Dienstanweisungen, wie mit Cannabis-Patienten umgegangen werden soll

Die Linke hatte gefragt, ob es "Dienstanweisungen, die den Umgang mit Cannabis-Patienten und -Patientinnen regeln" gebe. Die Polizei gesteht ein, dass "Dienstanweisungen im Sinne der Fragestellung derzeit nicht vorhanden sind". Lediglich die Verkehrsdirektion habe in einer Vollzugsinformation geregelt, wie Kontrollen von Autofahrern verlaufen sollen, die sich als Cannabis-Patienten ausweisen.

Im Klartext heißt das: Polizistinnen und Polizisten wurden lediglich im Rahmen von Dienst- und Einsatzbesprechungen darüber unterrichtet, wie sie sich bei Kontrollen von Konsumierenden verhalten sollen. Dabei sollte bei Schulungen und Fortbildungen aber durchaus erklärt werden, wie man eine Dealerin von einer chronisch Schmerzkranken unterscheiden könnte, was bei Kontrollen zu beachten ist, wie man Personalien und Nachweise von Patienten und Patientinnen aufnimmt – und wie riskant gewaltvolle Polizeikontrollen bei Krankheitsfällen sein können.


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3. Deshalb können Cannabis-Patienten ständig kriminalisiert werden

Wenn es keine Dienstanweisungen, kein Bewusstsein und keine Sensibilisierung für ein Thema wie medizinisches Cannabis gibt, ermöglicht dies Willkür. Schließlich liegt es dann im Ermessen des einzelnen Beamten und der einzelnen Beamtin, zu entscheiden, ob er in Cannabis-Patienten Drogenpaten sieht – oder Menschen, die eine legale Medizin nehmen. Es ist für Außenstehende völlig intransparent, wie Beamte für das Thema sensibilisiert werden und auf welches Vorgehen sie sich untereinander einigen.

Das bringt auch die Gefahr einer Täter-Opfer-Umkehr: Nicht Polizeibeamte, die sich unverhältnismäßig gewaltvoll gezeigt haben sollen, stehen in der Kritik – sondern der Patient oder die Patientin, die des "unerlaubten Besitzes von Betäubungsmittel" beschuldigt werden. Dabei verhält sich jemand, der Cannabis konsumiert, nicht automatisch illegal. Und andersrum: Nur weil jemand als Polizeibeamter oder -beamtin arbeitet, handelt er oder sie nicht automatisch richtig.

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"Die Antwort auf die Anfrage zeigt, dass die Polizei Hamburg hier dringend Nachholbedarf hat", sagt die Linkspartei-Abgeordnete Christiane Schneider auf Anfrage von VICE. "Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankungen auf medizinisches Cannabis angewiesen sind, sollten nicht noch zusätzlich unter Generalverdacht gestellt und kriminalisiert werden." Statt Millionen in der Task Force Drogen zu versenken, brauche es eine "Kontrollpolitik mit Augenmaß".

4. Die Polizei arbeitet bürokratisch und unverzahnt

Die Linken-Abgeordnete wollte wissen, ob Strafverfahren gegen beteiligte Polizeikräfte eingeleitet wurden und wie der Stand der Ermittlungen ist. Dazu heißt es: "Da die Sachakte derzeit zur Akteneinsicht des Verteidigers nach Berlin versandt ist, können zu den Einzelheiten des Vorwurfs und des Verfahrensstands keine weiteren Angaben gemacht werden." Übersetzt heißt das: Wenn die Akte nicht physisch vorliegt, gibt es keine Möglichkeit, auf Informationen zuzugreifen.

Weiter wollten die Linke-Politikerinnen wissen, wie viele Anträge auf Cannabis als Medizin es in Hamburg und Deutschland seit 2015 gegeben hat. Bundesweit gab es im Mai bis zu 14.000 Patientinnen und Patienten. Das ergab damals eine Antwort des Bremer Senats auf eine Kleine Anfrage, für die die Krankenkassen befragt wurden. In Hamburg redet man sich damit heraus, dass das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte lediglich Zahlen bis März 2016 hat. Wie viele Anträge seitdem gestellt worden sind, sei nicht erfasst oder könne "in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht erhoben werden." Einfach mal bei den Kassen nachzufragen, so wie in Bremen, auch dazu war offenbar in Hamburg die nötige Zeit nicht vorhanden – oder aber der nötige Wille.

Wenn du ebenfalls ein Rezept für medizinisches Cannabis besitzt, trotzdem Probleme mit Behörden hattest und du mit VICE über deine Erfahrungen sprechen möchtest, erreichst du unseren Redakteur Tim Geyer per E-Mail oder Twitter-DM .

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