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Drogen

So brachten ein paar Fischer-Familien das Kokain nach Europa

Dass die Droge heute den Kontinent überschwemmt, nahm seinen Anfang im rauen, armen Nordwesten Spaniens. Einige der Narco-Rentner sind bis heute aktiv.
Eine Frau im Pelzmantel kokst
Foto: Cultura Creative (RF) | Alamy Stock Photo

Der spanische Investigativ-Journalist Nacho Carretero veröffentlichte 2015 das Buch Fariña, in dem er die Historie des Kokainschmuggels in Galicien aufgeschrieben hat. Nachdem einer seiner Protagonisten wieder ins Visier der Fahnder geraten ist, erzählt Carretero für uns eine Kurzfassung der Geschichte.

2,4 Tonnen Kokain – so viel fahnden die portugiesischen Behörden auf einem Schiff, das sie im August unweit der Azoren mitten im Atlantik stoppten. Sein Ziel: die Küste Galiciens. Anschließend wurde in Spanien der 85-jährige Manuel Charlín Gama verhaftet, Mitglied des "Los Charlines"-Clans. Der legendäre Schmuggler ist auch ein Protagonist von Fariña – Cocaine Coast, einer spanischen TV-Serie, die auf meinem gleichnamigen Buch basiert.

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Fariña, so nennen die Menschen in Galicien, am nordwestlichsten Zipfel Spaniens, ihr Mehl und ihr Kokain. Ein großer Teil des Fariña, das auf deutschen Smartphonebildschirmen zusammengekratzt wird, hat zuvor galicische Flussmündungen und die dortigen "Fischerdörfer" passiert. Die Anführungszeichen habe ich gesetzt, weil viele dieser Orte heute mehr auf Koks denn auf Fisch angewiesen sind.

Heute ist Galicien, eine verregnete Seefahrer-Region, für seine Küche genauso berühmt wie für seine zentrale Rolle bei der Einfuhr von Kokain nach Europa berüchtigt. Die Geschichte der Flutung des europäischen Drogenmarktes durch südamerikanische Kartelle in den 1980ern ist auch die Geschichte Galiciens.


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Es gibt eine Legende – mindestens die Hälfte davon dürfte wahr sein – von einem Mann aus Galicien, der jahrelang die spanisch-portugiesische Grenze an ihrem nördlichsten Punkt überquerte. Tag für Tag kam er auf seinem Fahrrad zum Grenzpunkt, einer kleinen Hütte am Straßenrand, über seiner Schulter ein Sack Kohlen.

Jedes Mal hielten die Beamten ihn an, tasteten ihn ab und inspizierten den Kohlesack. Aber sie konnten nie etwas finden. Nur ihre Uniformen waren danach voll mit schwarzem Ruß. Über Jahre ging das so. Sie wussten, dass er irgendwas im Schilde führte, aber bei keiner einzigen Kontrolle fanden sie mehr als Kohleklumpen. Erst viel später verstanden sie, was vor sich ging: Der Mann war Fahrradschmuggler.

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Diese Geschichte sagt viel aus über Galicien – und noch mehr über die Galicier selbst. Sie beschreibt ihre Dreistigkeit, aber auch ihre Fähigkeit, sich aus der Not heraus Lösungen auszudenken, um sich in einer verarmten und abgeschiedenen Region durchzuschlagen, die zu oft von den jeweiligen Machtzentren übersehen worden. Das autonome Galicien ist sich seines Unterschieds vom restlichen Spanien durch und durch bewusst.

Ein Mann holt einen Pappkarton aus dem Laster, drei rauchende Männer beobachten ihn

Ein Standbild aus der TV-Serie 'Cocaine Coast'

Ein Zufall ist all das definitiv nicht. Bis zum Ende der spanischen Militärdiktatur 1975 war Galicien eine unterentwickelte Region und das Leben dort hart und entbehrlich. In Abwesenheit jedweder Bestimmungen oder Zuwendungen von der Regierung in Madrid kümmerten die dort lebenden Menschen, insbesondere die an der Küste und entlang der portugiesischen Grenze, sich selbst um ihre Versorgung – egal ob Medikamente, Benzin, Öl, Autoteile, Seife oder Altmetall.

Schmuggler wurden zu Anführern der Dorfgemeinschaften – Lokalhelden, die bald zu Bürgermeistern gewählt wurden und schließlich hohe Posten in der Lokalpolitik übernahmen. In den 1950ern und 60ern war Tabakschmuggel das große Geschäft und schon bald saßen die Gangs von Galicien, allen bescheidenen Anfängen zum Trotz, mit den mächtigsten kriminellen Organisationen Europas an einem Tisch. Aber sie waren mehr als irgendwelche Gangs, starke Familienbande hielten die Clans zusammen.

Die kolumbianischen Kartelle waren begeistert

In den 80ern stellten sie dann auf Kokain um. Es war das Jahrzehnt, in dem sich Persönlichkeiten wie Sito Miñanco – der Pablo Escobar Spaniens –, Laureano Oubiña und die Charlín-Familie etablierten. Dass die Fariña statt Tabak schmuggelten, störte die galicischen Bevölkerung wenig: Die Clans generierten Reichtum und erschufen dringend benötigte Arbeitsplätze.

Und sie waren auch anderweitig einflussreich, übernahmen nicht nur politische Posten, sondern wurden Anwälte und hatten ihre Fingern in allen möglichen legalen Geschäften. Sie besaßen und finanzierten lokale Fußballteams, sponserten Dorffeste und waren diejenigen, die man rief, wenn das Dach der Kirche geflickt werden musste. Die Menschen schauten zu ihnen auf. Es war nicht unüblich, in der Schule Kinder sagen zu hören, dass sie eines Tages selbst Schmuggler werden wollen – wie Papá.

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Der Wechsel zum Kokain gestaltete sich überraschend einfach. In den frühen 80ern suchten die kolumbianischen Kartelle Medellín und Cali nach neuen Wegen, um ihr Produkt nach Europa zu bringen. Sie unterhielten bereits bewährte Verbindungen nach Panama, wo sie ihr Geld wuschen, so wie galicische Schmuggler wie Sito Miñanco. Sie alle sprachen die gleiche Sprache – in vielerlei Hinsicht. Die Möglichkeit einer Kollaboration lag den Akteuren schnell auf der Hand. Bei ihrem Besuch in Galicien waren die Kolumbianer begeistert, wie zahm die Behörden und wie akzeptiert die Clans in der Bevölkerung waren.

Der Hafen von A Coruna in Galicien

Der Hafen von A Coruña in Galicien auf einer historischen Postkarte | Foto imago | Leemage

Die Allianz wurde dann 1984 endgültig geschmiedet, nachdem das Medellín-Kartell den kolumbianischen Justizminister Rodrigo Lara Bonilla ermordet hatte. Die kolumbianischen Behörden gingen danach mit aller Härte gegen die Kartelle vor, weswegen die Capos das Land verlassen mussten. Pablo Escobar floh nach Zentralamerika, aber seine engsten Verbündete, die Ochoa-Brüder und Matta Ballesteros, gingen nach Spanien.

Die Brüder verschlug es nach Madrid, wo sie bald verhaftet wurden. Und wen lernten sie im Gefängnis kennen? Natürlich galicische Clangrößen. Es war, als hätte man dem gegnerischen Angreifer den Ball im eigenen Strafraum zugespielt.

Beide Parteien verstanden sich blendend und Matta Ballesteros ließ sich in A Coruña nieder, der zweitgrößten Stadt Galiciens. Die Kollaboration erwies sich als Vorteil für alle Beteiligten und besteht in immer neuen Formen bis heute.

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Die Polizei empfing die Narcos, die Bevölkerung schwieg

In den 80ern war Galicien ein Spielplatz der Narcos. Unberührbar von den Behörden lebten sie in Pazos – alten galicischen Anwesen mit zugehörigen Ländereien –, fuhren schicke Autos, speisten umsonst in den besten Restaurants. Oft waren sie in den Büros und auf Feiern der Polizei- und Politikführung zu sehen. Die Korruption wurde zu einem normalen Bestandteil des galicischen Lebens. Die Narcos, einheimischen wie lateinamerikanische, fühlten sich vor dem Gesetz immun.

Die Bevölkerung auf der anderen Seite sah genau, was vor sich ging, aber sagte nichts. Das Resultat? Eine spezielle galicische Omertà trat in Kraft. Jetzt hatte man keine andere Wahl mehr, als mitzumachen.

Eine Welle gewaschenen Geldes durchströmte alle legalen Formen der Industrie und Wirtschaft der Region. Aberhunderte Unternehmen wurden mit Profiten aus dem Kokainhandel aufgebaut – direkt oder indirekt. Das geschieht heute noch. Du brauchst nur einen Ort wie Vilagarcía de Arousa besuchen, wo knapp 40.000 Menschen leben. Hier, etwa auf halber Höhe der galicischen Westküste, haben exklusive Modelabels und Autofirmen ihre Outlets und Häuser eröffnet.

Eine Sache, die die kriminelle Kultur in Galicien von anderen unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Capos hier nie aufgehört haben, die ungebildeten Dorfherren zu sein, die nichts anderes wollen, als mit Schmuggel groß zu werden. Selbst als sie Millionäre wurden und die neuesten Ferraris fuhren, sah man sie noch in Jogginganzügen rumlaufen oder auf ihren Traktoren die Felder bearbeiten, die einst die wichtigste Einkommensquelle der Familie darstellten. Manche betrieben Strandhütten. Du hast sie daran erkannt, dass die Frau, die dein Calamares-Sandwich zubereitete, dabei eine Rolex am Handgelenk trug. Eine gewisse Portion Kitsch haben die galicischen Narcos schon immer geliebt.

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Manuel Charlin

Manuel Charlin vor dem Gericht in Vigo, Galicien, im August 2018 | Foto: imago | Agencia EFE

Heute ist die Geschichte noch immer nicht zu Ende, auch wenn die unfassbare Prahlerei in den 90ern aufgegeben wurde. Damals fanden die ersten koordinierten Razzien statt. Organisiert hatte man sie außerhalb Galiciens unter der Führung des Star-Richters Baltasar Garzón, der bald darauf durch seine Rolle bei der Auslieferung des chilenischen Ex-Diktators Pinochet berühmt werden sollte. "Unsere Hoffnung ist es, Galicien davor zu bewahren, ein weiteres Sizilien zu werden", waren seine Worte zur damaligen Zeit.

Manuel Charlín Gama wurde bereits 1989 das erste Mal verhaftet. Wenig später musste er für 20 Jahre ins Gefängnis, weil er 600 Kilo Kokain geschmuggelt hatte. Seine neuerliche Festnahme im August zeigt, dass der Drogenhandel in Galicien nicht wirklich verschwunden ist.

Spaniens mächtigste Narcos sind immer noch Galicier. Zurückhaltend, extrem vorsichtig und diskret spielen sie die Rolle aufrichtiger Geschäftsmänner. Das Letzte, was sie wollen, ist, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Kolumbianer vertrauen ihnen weiterhin. Immerhin sind sie bis heute dafür verantwortlich, Tonne über Tonne Koks aufs europäische Festland zu schaffen.

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