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Widerstand

Über 40 Jahre Widerstand: Wir haben mit den Separatisten in Moutier und ihren Gegnern gesprochen

Wir wollten wissen, was es für sie bedeutet, zum Kanton Jura zu gehören.
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Alle Fotos: David Zehnder

Auf den ersten Blick unterscheidet sich Moutier nicht gross, von anderen kleinen Städten in der Schweiz. Fährt man aber mit dem Zug im Bahnhof von Moutier ein, fällt einem ein weisses Transparent auf, dass ein Restaurant über dem Eingang angebracht hat. "Moutier au Jura", steht da mit roter Farbe. Die Stadt Moutier will den Kanton Bern verlassen und zum Jura gehören. Und das schon seit über 40 Jahren. Das entschied die Mehrheit des Städtchens am 18. Juni 2017 erneut, diesmal an der Urne. Hauchdünn mit einem Mehr von 137 Stimmen hatten die Pro-Jurassier gewonnen, die mit dem Zug bloss 10 Minuten von der jurassischen Grenze entfernt wohnen. Mehr als ein Jahr später am 5. November 2018 folgte die Ernüchterung auf Seiten der Separatisten: Stephanie Niederhäuser, die Regierungsstatthalterin und somit Vertreterin der Kantonsregierung Berns, erklärt die Abstimmung für ungültig. Damit geht der über erbitterte Streit, um die Zugehörigkeit des Berner Jura, in die nächste Runde.

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Von "Unregelmässigkeiten" war bei der Wahl die Rede. Es sei erstaunlich, dass die Staatsanwaltschaft das nicht schon lange untersucht habe, sagte Niederhäuser laut Sonntagszeitung . So bestehe der Verdacht, dass mindestens 35 Menschen ihren Wohnsitz alleine für die Abstimmung temporär gewechselt haben – was illegal wäre. "Die Jura-Frage wurde komplett neu lanciert. Wir werden erneut gegen die Berner Regierung kämpfen, gegen ihre Vertreter und gegen die Regierungsstatthalterin", sagt ein Sprecher einer Pro-Jura-Gruppierung zur sda. In der Vergangenheit führten die Pro-Jurassier diesen Kampf so unerbittlich, dass er in den 70er Jahren einen Toten forderte.

Die Frustration der Pro-Jurassier in Moutier ist gefürchtet. In der Vergangenheit stimmten auch andere Gemeinden aus dem Berner Jura über die Jurafrage ab. So verbissen und vehement wie Moutier, will das heute aber keine andere Stadt mehr. Die Angst vor Ausschreitungen ist gar so gross, dass die Regierungen der Kantone Bern und Jura bereits nach der Abstimmung vom Juni 2017 eine "Charta für Moutier" verabschiedeten. Darin ermahnten sie unter anderem "von jeglicher Anstiftung zu Einschüchterung, Hass, Gewalt oder Störung der öffentlichen Ordnung abzusehen" und "auf Provokationen zu verzichten, welche dazu führen könnten, dass die körperliche Integrität von Personen beeinträchtigt oder fremdes Gut sowie öffentliches und privates Eigentum beschädigt wird".

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Jetzt steht eine weitere brisante Entscheidung an, bei der man ähnliche Gewaltausschreitungen verhindern will. Es geht um die Wahl des neuen Stadtpräsidenten und die Ausgangslage ist brisant: Der amtierende Stadtpräsident Marcel Winistörfer ist dafür, dass Moutier zum Kanton Jura gehört. Herausgefordert wird er von Patrick Tobler, Präsident der lokalen SVP und bekennender Pro-Berner.

Wir wollten uns selbst ein Bild von der Situation in der Stadt machen. Wir haben uns mit Separatisten, ihren Gegnern und zwei Bewohnern von Moutier über die aktuelle Lage unterhalten. Und wollten vor allem wissen, wieso sie eigentlich zum Jura gehören, oder in Bern bleiben möchten.

Pascal Tobler, 31, Vorstandsmitglied der Pro-Bern-Gruppe Sangliers

Wir treffen den Bruder von Stadtratskandidat Patrick Tobler im "Cheval blanc", ein unscheinbares Restaurant und Stammlokal der Pro-Bern-Fraktion in Moutier.

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Obwohl die SVP als einzige Partei fast geschlossen hinter Pro-Bern steht, sei die Jura-Frage keine Frage der Parteizugehörigkeit, sagt Pascal Tobler

VICE: Befürchtest du, es kommt nach der Stadtpräsidentenwahl zu Ausschreitungen?
Pascal Tobler: Wenn die Pro-Berner gewinnen, ja. Als die Pro-Jurassier ihren Schweigemarsch durchführten, haben sie die Scheibe des Lokals hier eingeschlagen.

Wieso will eure Gruppe, die Sangliers, dass Moutier in Bern bleibt?
Wir haben vom Wechsel keine Vorteile: Wir müssten mehr Steuern

bezahlen, höhere Krankenkassenprämien und alle Angestellten des Kantons müsste man auch irgendwo unterbringen. Wir sind jetzt in einem der grössten Kantone der Schweiz und wollen zu einem der kleinsten wechseln? Das ist total unsinnig. Wir sind Berner und keine Jurassier.

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Was heisst es für dich, Berner zu sein?
Das kann man nicht beschreiben.

Spielt es eine Rolle, ob man sich mit der West- oder Deutschschweiz identifiziert?
Ich kann nur für mich reden: Ich bin Romand, aber ich bin auch Berner. Ich spreche zwar besser Französisch als Schweizerdeutsch aber das hat, glaube ich, nichts mit der Sprache zu tun.

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Jetzt überdeckt ein Karton die kaputte Scheibe, die Pro-Jurassier eingeschlagen haben sollen

Ist deine Familie auch pro Bern?
Ja, schon seit meiner Kindheit bin ich bei den Sangliers. Mein Vater kämpfte schon in den 70ern für den Verbleib Moutiers in Bern. Auch zum jährlichen Fest der Sangliers haben sie mich immer mitgenommen. Früher waren da tausende Menschen, heute können wir froh sein, wenn 500 kommen.

Wieso kommen immer weniger Leute?

Zum einen, weil von den Regionen im Berner Jura nur noch Moutier über den Verbleib diskutiert. Zum anderen haben die Leute auch die Schnauze voll vom ewigen Kampf. Aber die Pro-Berner geben sich auch weniger zu erkennen, weil sie Angst vor gesellschaftlichem Ausschluss haben. Die Frage spaltet uns in der Stadt immer mehr.

Wie zeigt sich das?
Kürzlich grüsste ich an einer Veranstaltung in Moutier einen alten Freund, einen Pro-Jurassier. Er schaute mich an und sagte zu mir: ‘Verpiss dich!’ Früher waren wir gute Freunde und hatten wegen der Jura-Frage nie persönlich Probleme. Da habe ich das erste Mal gemerkt, wie wütend einige Menschen hier sind. Seit die Abstimmung für ungültig erklärt wurde, ist die Stimmung hier wieder aufgeheizt.

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Clement Piquerez, Vorstandsmitglied der Pro-Jurassier-Gruppe Bélier

Piquerez treffen wir im Hotel la Gare, Stammlokal der Pro-Jurassier, das seine Gesinnung mit einem Transparent offen zeigt.

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Clement Piquerrez kämpft seit seiner Kindheit dafür, dass Moutier zum Jura gehört

VICE: Anfang November hat die Regierungsstatthalterin die Abstimmung für den Beitritt Moutiers zum Jura für ungültig erklärt. Wie geht es dir damit?
Clement Piquerrez : 17 Monate hatten wir auf die Wahl hingearbeitet und dann wird das Ergebnis als ungültig erklärt. Das zu akzeptieren war sehr schwierig für uns und die Entscheidung macht uns wütend.

Früher kam es ja auch zu gewalttätigen Ausschreitungen.

Das stimmt, aber früher war die Stimmung anders. In den 70er Jahren gab es die Option nicht, über die Jura-Frage abzustimmen. Die Mentalität hat sich unterdessen weiterentwickelt. Es ist auf keinen Fall das Ziel, wieder an diesen Punkt zu kommen.

Wie ist die Stimmung jetzt?
Für uns ist jetzt der Moment des Kampfes. Viele der Gruppe wolle Präsenz zeigen. Wir vom Vorstand sind aber dafür, dass wir Ruhe bewahren.

An diesem Wochenende sind Wahlen, was habt ihr geplant?
Wenn ein Pro-Jurassier gewinnt, machen wir einen kleinen Umzug durch die Stadt.

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"Moutier au Jura", "Moutier dem Jura", steht auf dem Transparent über dem Hotel la Gare, dem Stammlokal der Pro-Jurassier

Wieso seid ihr im Gegensatz zu den Bernern so sichtbar?
Sichtbarkeit ist eines unserer Ziele. Wir schämen uns nicht für unsere Einstellung und müssen uns der Bevölkerung zeigen, die noch unentschlossen ist.

Wieso kämpft ihr dafür, dass Moutier zum Jura wechselt?
Das hat zum einen geschichtliche, aber auch kulturelle Gründe: Wir sind Romands und fühlen uns näher bei den Jurassiern, als den Bernern. Es geht aber auch um Entscheidungsmacht: Wenn Moutier zum Jura geht, wird es die zweitgrösste Stadt des Kantons. In Bern sind wir einfach irgendeine kleine Stadt.

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Was ist die jurassische Identität?
Zum einen die Sprache, wir sind aber auch offener, unter anderem in politischen Fragen. Es ist aber zusätzlich eine Familienangelegenheit. Wenn die Eltern bereits pro Jura waren, bist du auch pro Jura.

Gibt es einen Unterschied zwischen den Pro-Jurassiern und den Pro-Bernern?
Nein, wir sind alle Bürger dieser Stadt. Wir haben zwei verschiedene Visionen für Moutier und die Region aber wir wollen beide das Beste. Wir haben nur zwei sehr unterschiedliche Wege, wie wir dorthin kommen.

Silvia, 31, pro Bern

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Eine grosse Angst der Pro-Berner: Bei einem Beitritt zum Jura mehr zu bezahlen

VICE: Wieso sind Sie pro Bern?

Silvia: Ich habe mich schon immer als Bernerin gefühlt. Und der Beitritt zum Jura wird uns keinen Vorteil bringen wird. Wir werden nur insgesamt mehr bezahlen müssen.

Welche Veränderung macht Ihnen Angst, wenn Moutier Teil vom Jura würde?
Wenn Moutier Teil vom Jura wird, ziehe ich um.

Warum?
Ich habe keine Lust, zum Jura zu gehören. Weil wir da mehr bezahlen werden.

Haben Sie Freunde und Freundinnen, die pro Jura sind?
Nein, alle die ich kenne, sind pro Bern.

Daniel, 89, pro Jura

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Heute sei es zwar nicht mehr so schlimm wie vor 40 Jahren, die Debatte sei dennoch emotional

VICE: Wieso sind Sie pro Jura?
Daniel: Ich spreche Französisch und habe nichts mit den Deutschschweizern am Hut. Wir wollen uns selbst um unsere Angelegenheiten kümmern und nicht von Bern gelenkt werden. Ich bin hundert Prozent Frankophon.

Was bedeutet das für Sie?
Zum einen wollen wir das Französisch verteidigen. Zum anderen ist es eine Frage der Identität, der Zugehörigkeit.

Haben Sie auch die Unruhen in den 70er-Jahren erlebt?
Natürlich, das war viel schlimmer als jetzt. Es gab Gewalt von beiden Seiten. Das ist aber nie die richtige Lösung. Man muss miteinander sprechen.

Macht es Sie wütend, dass Bern die Abstimmung für ungültig erklärt hat?
Wütend nicht, ich finde es einfach nicht richtig. Und es ist mühsam, dass sich diese Diskussion nun weiter in die Länge zieht. Wenn eine Mehrheit entschieden hat, muss man auch eine Niederlage akzeptieren.

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