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Sex

Wie diese Frau ihre Sexsucht überwand – und warum wir darüber reden müssen

In ihrer neuen Autobiografie schildert Erica Garza, wie sie nach fast zwei Jahrzehnten ausufernder Porno-Sessions und selbstzerstörerischer Sexualkontakte einen Ausweg fand.
Das Cover von Erica Garzas Buch:Getting Off: One Woman's Journey Through Sex and Porn Addiction

"Wir befinden uns gerade in dieser tollen Zeit, in der Frauen mit ihren Geschichten rauskommen. Sie sind verletzlich und gleichzeitig akzeptierter", schwärmt Erica Garza. "Ich bin froh, ein Teil davon zu sein. Isolation ist so ein großer Aspekt von Sucht – dieses Gefühl, allein zu sein und sich zu schämen. Als wärst du kaputter als alle anderen."

Garza war sexsüchtig. Der Begriff ist in der Forschung nicht unumstritten und auch nur bedingt mit einer substanzgebundenen Sucht vergleichbar, wie Sexualmediziner Professor Uwe Hartman in einem Artikel der Apotheken-Umschau erklärt. Man spreche deswegen besser von Hypersexualität. Bei Garza äußerte sich die Störung darin, dass sie lange Porno-Marathons hinlegte und aktiv nach sexuellen Kontakten suchte, für die sie sich schämte. In ihrem ersten Buch, der Autobiografie Getting Off: One Woman's Journey Through Sex and Porn Addiction, schreibt Garza offen und unnachgiebig über diese Zeit. Ihr Drang nach Sex, so schreibt sie, habe oft Beziehungen zu Menschen zerstört, die ihr wichtig waren – nicht nur Paarbeziehungen, sondern auch Freunde, Familie und sogar ihr Verhältnis zu sich selbst.

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Seit sie zwölf war, schreibt sie, habe sie Selbstbefriedigung als eine Bewältigungsstrategie eingesetzt, die sie gleichzeitig mit Scham erfüllte. Aus dieser Scham wurde schließlich eine Sucht. Zuerst floh sie vor den Irrungen und Wirrungen des Teenagerdaseins, dann vor den Unwägbarkeiten des jungen Erwachsenenlebens und den Mühen des Alleinlebens. Fast zwei Jahrzehnte ging das so, bevor sie schließlich ihre Genesung in Angriff nahm. Sie begann, sexuelle Erfahrungen und selbstauferlegte Scham voneinander zu trennen. Sie lernte, sich selbst so zu akzeptieren, wie sie ist, und mit Negativität umzugehen, ohne auf Sex oder Pornos zurückzugreifen. Stattdessen begann sie eine Therapie, fing mit Yoga an und besuchte Kliniken und Treffen der Anonymen Sex- und Liebessüchtigen. In diesem Prozess befindet sie sich auch heute noch.

Garzas Autobiografie ist einer der wenigen Erfahrungsberichte über Sexsucht aus weiblicher Perspektive. Abgesehen davon ist das Buch dermaßen ehrlich und fesselnd, dass jeder Leser ihm etwas abgewinnen kann. VICE hat sich mit Garza über den Schreibprozess unterhalten, über den Stellenwert von Sexsucht in der westlichen Kultur und ihren Weg nach draußen.

Erica Garza neben dem Cover ihrer Autobiografie Getting Off: One Woman's Journey Through Sex and Porn Addiction | Foto mit freundlicher Genehmigung von Erica Garza

VICE: Im Vergleich zu anderen Abhängigkeiten scheint die Debatte um Sexsucht bzw. Hypersexualität in unserer Kultur nicht besonders weit zu sein. In der Wissenschaft diskutiert man noch, ob es sie überhaupt gibt. Woran liegt das deiner Meinung nach?
Erica Garza: Das liegt wahrscheinlich daran, dass Sex normales menschliches Verhalten ist. Niemand sagt, dass Menschen keinen Sex haben sollen und dementsprechend ist man sich auch bei der Behandlung unsicher. Es ist nicht wie bei Drogen oder Alkohol, wo du Menschen sagen kannst, dass sie abstinent bleiben sollen. Das macht die ganze Sache etwas verwirrend und viele Einrichtungen und Ärzte wissen nicht genau, wie sie Betroffene behandeln sollen. Es ist von Person zu Person unterschiedlich. Der eine hat vielleicht viel Sex mit ständig wechselnden Partnern, der andere ist vielleicht pornosüchtig, aber hat mit Sex selbst kein Problem. Beide Fälle müssen ganz unterschiedlich behandelt werden. Und dann gibt es natürlich auch noch einen Haufen Menschen, die Sexsucht als Entschuldigung für anderes Verhalten anbringen – jemand wie Harvey Weinstein zum Beispiel. Ich glaube, man befürchtet generell, dass Menschen Hypersexualität als Ausrede benutzen, um schlechtes Verhalten zu rechtfertigen.

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Was hoffst du, am Diskurs über Sexsucht mit deinem Buch zu ändern?
Ich wollte einfach nur über meine persönlichen Erfahrungen sprechen. Eine meiner Hauptmotivationen bestand für mich darin, meine eigene Beziehung zu Sex zu verstehen. Ich wollte nachvollziehen, wie ich an diesen Punkt in meiner Abhängigkeit gelangt war. Ich verhielt mich sehr selbstzerstörerisch und wollte damit aufhören. Als ich meine ersten Essays für Salon geschrieben habe, bekam ich viele Nachrichten von Menschen, die das Gleiche durchgemacht hatten: "Ich bin so froh, dass du schreibst. Bislang fühlte ich mich damit total alleine." Oder: "Ich dachte, ich wäre die einzige Person, die diese Dinge erlebt." Und sehr lange hatte ich mich genau so gefühlt. Ich fühlte geradezu eine Notwendigkeit zu schreiben, damit es anderen Menschen weniger schlecht geht.

Aber andererseits bin ich auch nur ein Mensch und natürlich habe ich daran gedacht, dass meine Eltern es eventuell lesen werden. Was wird mein Mann von mir denken? Was werden meine Freunde und meine alten Kollegen von mir denken? Viel wichtiger ist aber, dass ich etwas Neues zu der Unterhaltung beitrage – etwas, das es zumindest in diesem Ausmaß wie bei anderen Suchtbiografien vorher nicht gab. Wenn ich dadurch etwas zu bieten habe, das einer anderen Person in einer ähnlichen Situation hilft, dann mache ich damit etwas Wertvolles und Wichtiges.

Gab es besonders schwierige Augenblicke im Schreibprozess?
Es war insgesamt viel hilfreicher, als dass es die alten Probleme wieder hochgeholt hätte, aber es hat auch wehgetan. Manche dieser Dinge zu schreiben, war nicht leicht. Es ging oft darum, mir meine eigene Schuld und meine Mittäterschaft an einigen dieser negativen Erfahrungen einzugestehen. Es war eine gute Methode für mich, um zu sehen, wie oft ich mich selbst sabotiert und andere Menschen verletzt habe. Ich glaube, es hat mir geholfen, eine nachvollziehbare Entwicklung vor mir zu haben, die ich einfach auf dem Papier verfolgen kann. Auf diese Weise konnte ich stolz darauf sein, dass ich es bis hierhin geschafft habe und auf dem Weg auch ein paar gute Entscheidungen getroffen habe – selbst wenn sie sich damals überhaupt nicht gut angefühlt haben.

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"Mäßigung ist alles, aber ich wusste früher nicht, wie ich mein Mittelmaß finden soll."

Wo befindest du dich momentan in deinem Genesungsprozess?
Ich akzeptiere mehr, wer ich bin. Ich mache keinen Porno-Marathon mehr. Das war ein großer Aspekt meines problematischen Verhaltens. Ich habe aber auch nichts dagegen, zwischendurch Pornos zu gucken. Als ich mit den Essays angefangen habe, hatte ich es mir zum Ziel gesetzt, irgendwann gar keine Pornos mehr zu schauen. Das sah ich als Teil einer erfolgreichen Genesung. Ich befürchtete, dass ich sofort wieder diesen furchtbar selbstdestruktiven Weg einschlagen und die Kontrolle verlieren würde, wenn ich wieder mit Pornos anfange.

Ich habe dann auch eine große Porno-Pause eingelegt. Das dürfte für jeden eine schwierige Phase sein. Dank der Pause habe ich es aber geschafft, mein altes Muster zu durchbrechen. Als ich schließlich wieder mit Pornos anfing, gab es keine große Gefahr mehr, dass ich einen Rückfall erlebe, Dauersessions einlege und meine Beziehung aufgebe. Die Unterstützung durch meine Beziehung hat mir dabei geholfen, auf einem gesünderen und liebevolleren Weg zu bleiben. Wir haben jetzt eine Tochter und das Leben sieht für mich ganz anders aus als früher.

Mäßigung ist alles, aber ich wusste früher nicht, wie ich mein gesundes Mittelmaß finden soll. Ich finde nicht, dass man seine eigene Sexualität komplett abwürgen muss. Ich bin gerne ein sexueller Mensch. Ich gehe gerne offen mit meiner Sexualität um und experimentiere. Ich wollte bloß die Scham loswerden. Ich denke, das war das Schädlichste und Destruktivste meiner Sucht: dass ich mich schlecht fühlen musste. Wenn ich jetzt ab und zu Pornos gucken und mit meinem Mann sexuell experimentieren kann, ist das vollkommen OK, aber ich muss mich deswegen nicht schlecht fühlen. Meine Heilung ist ein laufender Prozess und auch jetzt ist nicht alles perfekt – mein Gehirn war so lange an dieses Schambedürfnis gewöhnt, dass es natürlich immer noch zwischendurch auftaucht. Im Gegensatz zu früher habe ich jetzt aber die Fähigkeit, es zu stoppen und mir etwas anderes zu suchen.

Was kann gegen das Stigma helfen, das Hypersexualität insbesondere bei Frauen umgibt?
Wenn mehr Menschen ihre Geschichte erzählen, geschieht dieser Wandel natürlich. Gerade passiert das ein bisschen. Jennifer Lewis von Black-ish hat vor Kurzem erst öffentlich über ihre Sexsucht gesprochen. Ich habe das überall gesehen, weil alle immer überrascht sind, wenn eine Frau von ihrer Sexsucht erzählt. Dabei ist das, was mir Frauen über ihre Sexsucht erzählen, oft nicht anders als das, was Männer sagen. Vor allem die Isolation ist eine unfassbar schädliche Sache.

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