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Menschen

Menschen mit Epilepsie beschreiben, was sie vor einem Anfall verspüren

Bei vielen Betroffenen kündigt sich ein Anfall durch ein seltsames, fast schon psychedelisches Gefühl an.
Illustration: Ben Thomson

Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leben etwa 50 Millionen Menschen mit einer Form von Epilepsie. Damit ist die Krankheit eine der häufigsten neurologischen Störungen der Welt. Forscher können allerdings immer noch nicht mit Sicherheit sagen, was Epilepsie auslöst. Stattdessen bevorzugen sie es, von einer Reihe verschiedener Erkrankungen zu sprechen, die unter dem großen Begriff "Epileptischer Anfall" zusammengefasst werden.

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Manche Menschen entwickeln eine epileptische Störung in Folge einer Kopfverletzung, andere haben sie von Geburt an. Die Anfälle können bei manchen kurz und kaum bemerkbar sein, bei anderen dauern sie mehrere Stunden. Zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen des Krankheitsbildes gehört auch der fokale Anfall, der in einem lokalisierbaren Hirnareal entsteht. Vor solchen Anfällen nehmen Betroffene oft eine Sinnesreizung wahr—die sogenannte "Aura".

Diese Aura kann körperlicher Natur sein oder auch visuelle Reize bis hin zu einer Art übersinnlichen Erfahrung umfassen—ähnlich einem Déjà-vu. Obwohl man im Zuge einer Untersuchung herausfand, dass 64 Prozent aller Versuchsteilnehmer in den letzten 12 Monaten eine Aura wahrgenommen hatten, gehört das Phänomen zu den Bereichen der Epilepsie, die noch nicht eingehend untersucht wurden. Um zu verstehen, wie sich eine solche Aura-Erfahrung anfühlt, haben wir mit vier Betroffenen gesprochen.

Richard ist 52 und ihm wurde vor zwei Jahren Frontallappenepilepsie diagnostiziert

Meine Anfälle dauern maximal 10 bis 20 Sekunden und deswegen komme ich auch ganz gut damit klar. Es ist nur schwer zu erklären, was genau ich dabei fühle. Im Grunde überkommt mich eine gewisse Euphorie und der Auslöser ist eine Art Déjà-vu. Solche Déjà-vus hatte ich schon während meiner Kindheit. Es ist fast so, als würde ich mich kurzzeitig in eine andere Wesensform verwandeln und in eine Parallelwelt übertreten.

Ich habe zwar noch nie Drogen genommen, aber wenn ich die Aura mit irgendetwas vergleichen müsste, dann wohl mit einem Herointrip. Ich bin richtig im Rausch und genieße das Gefühl—so komisch das jetzt auch klingen mag. Wenn das Ganze wieder vorbei ist, bin ich sogar etwas enttäuscht.

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Déjà-vus waren die Vorstufe meiner Epilepsieerkrankung

Die Aura kommt manchmal aber auch etwas ungelegen, denn wenn ich zum Beispiel gerade Auto fahre, verliere ich die Orientierung. Oder ich vergesse meine PIN, wenn ich im Laden etwas mit Karte bezahle. Und wenn ich arbeite, sehe ich während einer Aura verträumt aus. Das finde ich nicht gut, denn ich will nicht den Eindruck erwecken, faul zu sein.

Nach dem Anfall bin ich erstmal etwas benommen, aber nach wenigen Minuten geht es dann schon wieder. Vor ein paar Jahren hat das noch ein bisschen länger gedauert. Ich habe inzwischen auch gemerkt, dass die Anfälle viel seltener auftreten, wenn ich mich nicht so von ihnen stressen lasse.

Hanna ist 26. 2012 stellten die Ärzte bei ihr Epilepsie fest, aber ihren ersten Anfall hatte sie schon mit ungefähr 12

Kurz bevor ich einen Anfall habe, wird mir meistens sehr heiß. Ich weiß gar nicht, ob ich tatsächlich so etwas wie Schweißausbrüche bekomme, aber es fühlt sich kurz so an—als würde die Temperatur plötzlich auf 40 Grad steigen. Wenn es im Sommer sowieso schon extrem heiß ist, passiert das Gleiche. Mittlerweile habe ich gelernt, mich manchmal einfach fallen zu lassen oder hinzusetzen, egal, wo ich in diesem Moment bin. Dann knalle ich nämlich nicht unkontrolliert auf den Boden und verletzte mich dabei möglicherweise am Kopf.

Manchmal lässt es sich aber nicht verhindern. Ich merke durch das Hitzegefühl zwar, dass ein Anfall kommt, aber ich bin nicht mehr ausreichend bei Bewusstsein, um darauf reagieren zu können. Ich gehe dann zum Beispiel noch ein paar Schritte weiter und knicke mit dem Fuß um, weil ich mich nicht mehr wirklich unter Kontrolle habe. Oder ich starre geistesabwesend in den Spiegel und falle dann einfach um.

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Gefährlich wird es, wenn man sich beim Sturz den Kopf am Waschbecken, an der Badewanne oder an der Heizung anhaut, oder die Treppe runterfällt—was mir alles schon passiert ist. In dem Fall kann es auch sein, dass man aufgrund des Schlages auf dem Kopf ein paar Stunden oder Tage vergisst, was ich nur einmal hatte. Aber einmal reicht.

Ansonsten setzt meine Erinnerung einfach ab dem Beginn der Aura aus. Auch an die Sekunden nach dem Aufwachen erinnere ich mich meistens nicht. Ich wache auf, erkenne die Menschen um mich herum nicht, auch wenn es nahe Verwandte sind und weiß nicht, wo ich bin. Der Anfall selbst ist jedoch sehr schön: Er besteht einfach aus Eindrücken und Träumen, oft von Menschen, die ich gern habe—hauptsächlich von meinem Bruder.

Illustration: Ben Thomson

Peter ist 36 und hatte seinen ersten Anfall mit 14. Vor zwei Jahren haben die Ärzte bei ihm Epilepsie diagnostiziert

Kurz vor meinen Anfällen fühlt es sich immer so an, als würde ein elektrisches Wesen über meine Schultern von meinem Körper Besitz ergreifen. Einmal hat man mir erzählt, dass ich vor einem Anfall 20 Sekunden lang einfach nur ziellos herumgelaufen bin. In meinem Mund macht sich der metallische Geschmack einer Batterie breit und ich rieche Ozon. Insgesamt ist es immer eine sehr "elektrische" Angelegenheit. Der schlimmste Aspekt ist jedoch, dass ich mich danach nicht mehr an die Anfälle erinnern kann.

Die Epilepsie wirkt sich stark auf mein Leben aus. Ich bin eigentlich gelernter Mechaniker, musste diesen Beruf nach der Diagnose und vier Anfällen jedoch aufgeben. Ich fürchte mich allerdings am meisten davor, eines Tages im Krankenhaus aufzuwachen und gesagt zu bekommen, dass man mir ein Loch in den Kopf bohren muss. Die Möglichkeit, dass ich irgendwann mit Schläuchen an meinem Körper im Krankenbett liege, habe ich schon akzeptiert, denn mit Medikamenten hatte ich bisher einfach kein Glück. Entweder schlagen sie bei mir nicht an oder die Nebenwirkungen sind zu stark.

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Cannabis gehört zu den wenigen Dingen, die mir wirklich helfen. An den Tagen, an denen ich kein Gras konsumiere, treten meine Anfälle häufiger auf. Der Cannabis-Konsum hilft mir dabei, mich zu bewegen. Außerdem lindert er meine Muskelzuckungen und lässt mich Gegenstände festhalten oder auffangen, wenn ich sie fallen lasse.

Alicia ist 31 und leidet seit 22 Jahren an schwerer Epilepsie

Meine Empfindungen vor einem Anfall sind immer unterschiedlich. Manchmal verspüre ich eine Art Blitzen, manchmal sehe ich leuchtend weiße, gelbe und orange Sterne. Bei besonders schlimmen Anfällen treten bei mir normalerweise grippeähnliche Symptome auf: Ich fühle mich total schwach, ich muss auf die Toilette gebracht werden, mir ist speiübel und alles riecht sauer.

Einmal war ich nach einem epileptischen Koma komplett katatonisch. Ein schreckliches Gefühl. Ich weiß noch, wie ich nach meinem Mann und nach einer Krankenschwester rufen wollte, mich aber niemand hören konnte. Ich erinnere mich auch noch daran, wie ich eine Schlange sah—es war eigentlich nur irgendein medizinisches Gerät.

Meine Epilepsie ist nicht immer so schlimm gewesen. Früher konnte ich noch komplett selbstständig mein Leben leben und hatte sogar zwei Jobs. Diese Zeiten sind jedoch vorbei. Heutzutage brauche ich immer jemanden an meiner Seite. Ich kann nicht mal mehr ohne fremde Hilfe in ein anderes Zimmer gehen. Es ist sehr traurig, wenn einem klar wird, dass man wahrscheinlich nie wieder das tun kann, was man früher getan hat. Ich habe jeden Tag Angst davor, dass die Epilepsie die Oberhand gewinnt und ich sterbe. Ich weiß auch, dass mich jeder Anfall diesem Moment näher bringt, denn dabei gehen immer einige Gehirnzellen verloren.

Es ist richtig schade, dass der Epilepsie ein solches Stigma anhaftet. Obwohl epileptische Anfälle inzwischen keine Seltenheit mehr sind, wissen nur wenige Menschen, was los ist oder was man tun muss. Als ich meine Anfälle früher noch relativ gut kontrollieren konnte, hatte ich viele Freunde. Jetzt ist meine Krankheit jedoch schlimmer und deswegen haben sich einige dieser Freunde von mir abgewendet. Auch mein Ehemann hat mich beinahe verlassen, weil er nicht mehr damit klargekommen ist. Ich habe immer das Gefühl, verurteilt zu werden—und das ist eigentlich der schlimmste Aspekt der Krankheit.